Teil II: „Wir waren ihm zu minder“

profil-Serie, Teil II: „Wir waren ihm zu minder“

Familiäre Beziehungen pflegte Hitler heimlich

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Frühjahr 1945. Adolf Hitler hat „den Tod dem feigen Absetzen oder gar einer Kapitulation vorgezogen“, so sein in den Morgenstunden des 29. April diktiertes Testament.

Adjutant Julius Schaub hat den letzten Auftrag des „Führers“ erfüllt und die privaten Dokumente aus Hitlers Wohnung am Münchner Prinzregentenplatz auf dem „Berghof“ am Obersalzberg vernichtet. Im Münchner Hauptquartier der NSDAP können amerikanische Truppen jedoch kistenweise Unterlagen bergen. Darunter auch solche, nach denen der US-Geheimdienst lange vergeblich geforscht hat: etwa die „Geheime Reichssache“, in der Heinrich Himmlers Gestapo zu Beginn des kriegswichtigen Jahres 1944 über eine Häufung von Geisteskrankheiten in Hitlers Verwandtschaft berichtet hatte. Dass Hitlers Großcousine Aloisia V., Schizophreniepatientin in Wien, in der Gaskammer ermordet wurde, sollte erst sechzig Jahre später entdeckt werden (profil 4/05).

Zur Einschätzung des Kriegsgegners hat das Office of Strategic Services (OSS), Vorläufer des US-Geheimdienstes CIA, bereits 1942 ein psychologisches Profil Adolf Hitlers angefordert. Betraut wird damit der Psychoanalytiker und Freud-Schüler Walter Langer. Er versucht zunächst, Hitlers mit allen Mitteln verschleierte Herkunft zu ergründen, und stößt dabei auf die erst durch kirchlichen Dispens ermöglichte Ehe der Eltern: Alois Hitler hatte seine um 23 Jahre jüngere Cousine zweiten Grades, Klara, geheiratet. Langer sucht auch nach noch lebenden Mitgliedern der Familie und trifft den in die USA ausgewanderten Neffen William Patrick Hitler zu langen Gesprächen.

Im Mai 1945 spüren US-Geheimdienstleute in Berchtesgaden dessen engste Verwandte auf: Schwester Paula und Halbschwester Angela. Sie waren auf Befehl aus Berlin knapp vor dem Ende des Krieges von SS-Männern hierher gebracht worden, Paula aus Weiten in Niederösterreich, Angela aus Dresden. Auf Hitlers mündliche Anweisung folgte Adjutant Schaub ihnen 100.000 Reichsmark aus.

Als Geheimdienstoffizier George Allen Paula in ihrem Versteck antrifft, will sie weg, sagt, sie müsse noch zum Bäcker. Allen verspricht ihr einen Laib Brot und beginnt mit der Befragung. Paula Hitler erzählt Freundliches: Sie schwärmt vom Einkaufsbummel, zu dem der Bruder sie „sehr charmant“ eingeladen hatte, als er 1921 plötzlich in Wien auftauchte; seit dem Tod der Mutter 1908 hatte sie nichts von ihm gehört. Sie erzählt von seinen Essgewohnheiten („Er hat sich nie viel aus Fleisch gemacht“) und dass sie ihn ab 1929 jedes Jahr einmal getroffen habe, in München, Nürnberg, Berlin, Wien, zuletzt 1941. Sein Ende gehe ihr furchtbar nahe, „unabhängig von allem, was passiert ist“. Als sie zu weinen beginnt, bricht Officer Allen die Einvernahme ab.

Angela Raubal war als Wirtschafterin auf dem Obersalzberg über Jahre hinweg Teil des innersten NS-Zirkels und blieb es auch nach dem mysteriösen Selbstmord ihrer Tochter Geli 1931. In der Befragung durch amerikanische Beamte meint sie zum Freitod ihrer 32-jährigen Tochter nur: „Ich kann nicht verstehen, warum sie es tat. Vielleicht war es ein Unfall, und Angela tötete sich, während sie mit der Pistole spielte, die sie sich unter der Hand von ihm beschafft hatte.“

Dann gibt Hitlers Halbschwester zu Protokoll, was nach Kriegsende so viele sagen sollten: „Sie wusste damals nichts von den Bedingungen in den Konzentrationslagern. Und sie fügt hinzu, dass der Bruder das nicht toleriert hätte, hätte er davon gewusst.“

„Nichts als Sorgen“. Die Verhörspezialisten charakterisieren die 62-Jährige erkennbar befremdet: „Eine Frau ohne psychologisches Verständnis. Sie scheint den Aufstieg ihres Halbbruders mit Staunen, aber ohne jede tiefere Auseinandersetzung erlebt zu haben. Folgt man ihr, sah sie ihn immer nur als Bruder. Sie glaubt, dass er ein Opfer des Schicksals war, er habe nichts als Sorgen und Desillusionierung erlebt.“

Resümee: „Die Tatsache, dass es ihr Bruder war, der über das Schicksal ungezählter Millionen Menschen entschieden hat, scheint nicht bis zu ihrem geistigen Inneren durchgedrungen zu sein. Äußerlich weiß sie es, aber sie schiebt es ab auf das Schicksal.“

Im Waldviertel verhaftet die sowjetische Spionageabwehr unterdessen fünf Verwandte Hitlers. In ihren Verhören durch Stalins Sondertruppe sind die Millionen Opfer in den Konzentrationslagern, der Massenmord an den Juden, kein Thema.

Auch im abgelegenen Waldviertel hat der nationalsozialistische Terror Opfer gefordert. Josef Haumer, Bürger von Spital, dem Heimatdorf der Hitler-Eltern, erzählt von einem Kaufmann, der „verschwunden ist, später wurde sein Gewand geschickt“.

Johann Schmidt, der als Einziger der Verwandten Hitlers die sowjetische Haft überlebt hat, redet darüber nicht. Als profil ihn im Sommer 2003 trifft, sagt er jedoch unvermittelt: „Der Untersuchungsrichter in Moskau hat Weinberg g’heißen, da weiß ma’ eh alles.“ Weinberg sei Jude gewesen. Er und Spitzel, die in seine Zelle gesetzt wurden, hätten ihn, den Großneffen Hitlers, „umschulen wollen, auf einen Kommunisten“.

Zu Hitler fällt dem 77-Jährigen, der eigenen Angaben zufolge als 17-Jähriger der SS zugeteilt worden war, nur ein, was in den Dörfern seit Jahrzehnten weitergegeben wird: die Geschichte vom jungen Hitler, der Frösche tötete und zerlegte, als er zur Sommerfrische da war. Und, später, die väterliche Ermahnung vor dem Volksempfänger: „Seids still, der Adolf redt!“

War der Vater, damals NS-Bürgermeister des Dorfs, stolz auf den Onkel? Johann Schmidt: „Stolz? Na jo. Der Hitler hat auf die Freindschaft (Anm. Verwandtschaft) nix geb’n. Wir waren ihm zu minder.“

Natürlich hatte Hitler, der sich nie als Alltagsmensch, sondern in heroischen Bildbänden präsentieren ließ (solche Bände standen auch in der Bibliothek des Konzentrationslagers Buchenwald), familiäre Bindungen. Wie seine willigen Vollstrecker war er Sohn, Bruder, Schwager, Onkel. Er überwies Geld für Weihnachtsgeschenke – etwa an Halbbruder Alois: „Bitte Dich, dem kleinen Heinzi davon eine Freude zu verschaffen. Ihr wisst besser als ich, was er sich ersehnt.“ Er versuchte vergeblich, seinen Neffen Leo Raubal, der in russische Gefangenschaft gekommen war, gegen Stalins Sohn Jakob freizubekommen, der den Deutschen in die Hände gefallen war.

„Erlebnisse mit dem Führer“. Der amerikanische Historiker Timothy Ryback setzte sich in renommierten Magazinen wie „The New Yorker“, „The Atlantic Monthly“ oder „Cicero“ mit Hitlers verschleiertem Familienumfeld auseinander. Hitler, so Ryback, „hatte familiäre Bindungen, und mitunter hat er sogar für die Verwandten gesorgt. Der Terror, der von ihm ausging, erscheint mit diesem Wissen noch maßloser.“

Wie gehen die noch lebenden Verwandten damit um? Ein Großcousin Hitlers, der auf dem bäuerlichen Hof lebt, auf den seine Großmutter Theresia ihre Schwester Klara Hitler und deren Kinder in den Ferien eingeladen hatte: „Wir haben nie etwas wissen wollen. Heute frage ich mich, ob’s gut war.“ Seine Frau sagt: „Man wird von manchen schief angesehen. Obwohl man nichts kann dafür.“ Das Schweigen habe sie belastet: „Mir ist leid, dass überhaupt nicht geredet worden ist. Und heute kann man niemanden mehr fragen.“

Der Vorbesitzer des Hofes, ein Cousin Hitlers, wurde fünf Tage nach dem NS-Putsch und Mord an Österreichs Bundeskanzler Engelbert Dollfuß im Juli 1934 mit sechs Wochen Arrest bestraft: Man hatte bei ihm Gewehre, Munition und SA-Ausrüstungen gefunden.

Paula Hitler, damals gerade auf Besuch, kommentierte die Hausdurchsuchung erregt: „Das sind Terrorakte der Regierung, das ist eine Schweinerei, ich werde dies meinem Bruder sagen, der entsprechende Maßnahmen anordnen wird.“ Nach telefonischer Rücksprache mit dem Bundeskanzleramt wurde sie verwarnt und auf freien Fuß gesetzt.

Hin und wieder etwas Geld war alles, was die in einem Nachbarort lebenden Koppensteiners von ihren Tanten Angela und Paula Hitler bekommen hatten. Die Eltern wurden nach Moskau verschleppt, die vier Kinder hörten nie wieder von ihnen. Der jüngste Sohn war fünf, als die Mutter abgeholt wurde, die Erinnerung daran setzt ihm immer noch zu. Seine Frau: „1945 hat ihnen niemand geholfen, wir wollen von dem Ganzen nichts mehr wissen.“

Hilfe kam auch nicht von Paula Hitler oder ihrer Halbschwester Angela. Paula lapidar zum Tod ihrer Verwandten in russischer Haft, „das Brüderlein würde es ganz in Ordnung finden, dass auch wir nicht verschont blieben“.

Beide versuchten, ihre Nähe zum „Führer“ zu Geld zu machen. Angela unterschrieb 1941 einen Vertrag mit dem Eher-Verlag über die „Rechte ihrer Aufzeichnungen der Erlebnisse mit dem Führer“. Ihr Honorar betrug 20.000 Reichsmark – der Verlag machte mit Hitlers „Mein Kampf“ Millionenumsätze.

Paula verhandelte in den fünfziger Jahren über die Veröffentlichung ihrer Aufzeichnungen, zog das Vorhaben aber zornig über Korrekturen ihres Verlegers zurück. Sie bekam Hilfspakete und Zuspruch von hohen Nazis, die nach Lateinamerika geflüchtet waren. Einem Freund schrieb sie, Hans Ulrich Rudel habe sie besucht: Rudel, unter Hitler hochdekorierter Pilot, war Luftwaffenberater des argentinischen Diktators Peron geworden und gründete in Südamerika die „Eichmann-Runde“, eine Auffangstelle für Ex-Nazis.

„Wie Gotteslästerung“. In regem Kontakt stand Paula Hitler alias Wolf mit einem zentralen Propagandamann des Dritten Reichs: Helmut Sündermann, der schon beim „Anschluss“ Österreichs 1938 als Berichterstatter dabei gewesen war. Ihm vertraute sie ihre politische Hoffnung an: „Ich höre immer wieder, in Österreich hätte sich ein nationales Kraftreservoir gebildet, mit dem man rechnen müsse.“ Und verhehlte ihre Enttäuschung über die Wahl des Sozialdemokraten Adolf Schärf 1957 nicht: „Nun hat Österreich einen neuen Bundespräsidenten, und er müsste nicht Schärf heißen, wenn sich die Menschen überlegen würden, ob sie rechts oder links stehen wollen.“

Vor US-Offizier Allen hatte Paula ihre Überzeugungen noch verheimlicht, später hielt sie damit nicht mehr hinter dem Berg. Hitlers Schwester im Herbst 1957 über das vom Linzer Fran Jetzinger publizierte Buch „Hitlers Jugend“: „Wenn ein Österreicher den größten Sohn seiner Heimat durch den Dreck zieht, und niemand fällt ihm in den Arm, dann ist es gerade für mich so viel wie Gotteslästerung.“ (Paulas bisher unbekannte Briefe werden vom Theologen und Pfarrer Alfred Läpple im rechtsgerichteten Druffel-Verlag publiziert.)

Paula Hitler kämpfte bis zuletzt um Ehre und Erbe ihres Bruders. Knapp vor ihrem Tod 1960 wurde ihr ein gerichtlicher „Erbschein“ ausgestellt. Die nächsten Anspruchberechtigten wären Sohn und Tochter von Leo Raubal. Sie wollen von Hitlers Erbe nichts wisssen. Begründung: „Kein Interesse.“ Weitere Fragen lehnen sie ab.

Lesen Sie im nächsten profil: Hitlers verlorene Familie, Teil III