Zeitgeschichte: Nicht nachgefragt

profil-Serie zur Zeitgeschichte: Nicht nach- gefragt. Kinder im Schatten des Hakenkreuzes

Kinder im Schatten des Hakenkreuzes

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Ihrer Stimme waren Angst und Verzweiflung deutlich anzumerken. Eben erst hatte sie erfahren, dass ihr im Mai 1945 erschossener Vater bei der SS und in Schlimmes involviert gewesen war. „Wenn sie wüssten ...“, sagte sie am Telefon.

Die heute 67-jährige Wienerin hatte sich im November 2002 bei Margit Reiter gemeldet, nachdem sie im „Standard“ gelesen hatte, dass die junge Historikerin für eine wissenschaftliche Arbeit mit Kindern von Nazi-Eltern Kontakt aufnehmen möchte. Ein paar Wochen später saß man sich gegenüber und studierte die Akten, die sich die schockierte Frau aus dem Internet heruntergeladen hatte. Die bittere Wahrheit: Ihr Vater, Alois Persterer, SS-Obersturmbannführer, hatte auf der Krim ein Sonderkommando befehligt, das für Massaker verantwortlich war. Vom Mai 1941 bis Februar 1943 waren 90.000 Menschen ermordet, im April 1942 Juden in mobilen Gaswägen umgebracht worden.

Natürlich hatte sie etwas geahnt. Es gab in der Familiengeschichte genug Indizien, um beunruhigt zu sein. Sie wusste, dass der Vater ein illegaler Nationalsozialist, eine Art „Sicherheitsdirektor“ am Balkan und in Russland gewesen war. Die Mutter hatte des Öfteren damit geprahlt, dass bei ihrer Hochzeit im Jahr 1939 „wichtige Leute von der Regierung“ unter den Festgästen waren. Bei einem gesellschaftlichen Anlass sei sie neben Eva Braun platziert worden. Kurz vor ihrem Tod, im Jahr 2002, hatte die Mutter stockend einbekannt, dass ihr der Vater im April 1945 eine Pistole in die Hand gedrückt hatte und davon ausgegangen war, dass sie sich und die Kinder erschießen werde. Er habe „furchtbare Dinge“ angedeutet, und dass er „nicht zurück“ könne.

Jene Frau, deren Geschichte heute in einer wissenschaftlichen Untersuchung unter dem Titel „Die Generation danach. Der Nationalsozialismus im Familiengedächtnis“ nachzulesen ist, wurde zu Kriegsbeginn 1939 als ältestes von drei Kindern geboren. Den Vater hat sie nicht oft gesehen, doch sie erinnert sich, dass sie auf seinem Schoß saß, mit seinen Haaren spielte. Er galt als Charmeur, den jeder gern hatte. Auch jetzt noch, im Schock der neuen Erkenntnisse, erzählt sie der Historikerin von einem Frontbesuch in Ljubljana 1941: „Er muss da unten unheimlich gut gewesen sein zu den Leuten, weil die haben ihm zugesagt, wenn sie mich mit hinunternehmen, da muss ich zwei Jahre alt gewesen sein, sie, die Partisanen, garantieren, dass sie keinen Zug überfallen.“

„Manchmal denk ich mir, mir wär lieber, ich tät’s ned wissen, aber“, sagt sie zögernd. Sie sei jedenfalls froh, dass sie alles erst jetzt erfahre, wo sie schon so alt sei, jetzt könne sie besser damit umgehen.

Die heute 67-jährige Wienerin ist eines von 18 Nazi-Kindern, die im Schatten der NS-Verstrickung ihrer Eltern aufgewachsen sind und sich für das bisher erste Zeitgeschichte-Forschungsprojekt zu diesem Thema zur Verfügung stellten.

Es handelt sich um die erste Generation nach den Flakhelfern, jene Nazi-Kinder, die zu jung waren, um noch in das NS-Schulsystem oder die Organisation der HJ-Pimpfe eingegliedert zu werden, deren Eltern jedoch voll mit dabei gewesen waren.

Historikerin Reiter ging es in der Aufarbeitung des Themas nicht darum, das auf den Wahrheitsgehalt zu überprüfen, was die Töchter und Söhne über Mütter und Väter erzählten. Sie wollte in Erfahrung bringen, was erzählt und worüber geschwiegen wurde, was die Kinder später von ihren Eltern wissen wollten, ob und wie sie sie mit ihrer Vergangenheit konfrontiert hatten.

Das Ergebnis überrascht: Es wurde zum Teil sehr offen geredet. In einem Fall berichtet eine Frau, dass bei Kaffee und Kuchen von Massenerschießungen die Rede war. Häufiger kamen freilich harmlosere Kriegsanekdoten auf den Tisch.

„Was mich immer mehr beschäftigt, ist die Tatsache, dass man auch durch Vielreden nichts sagen kann. Ich dachte immer, dass ich im Gegensatz zu Freunden, bei denen nicht geredet wurde, eh alles weiߓ, berichtete eine andere Teilnehmerin an dem Projekt.

Lücken. Die meisten Kinder der Nazis wollten auch später im Erwachsenenleben, wohl aus Angst vor bösen Überraschungen, gar nicht allzu genau Bescheid wissen. „Es fällt auf, wie wenig diese Generation nachgefragt, mit welchen Lücken und Widersprüchen sie sich zufriedengegeben hat“, resümiert Reiter.

Es zieht sich wie ein roter Faden durch sämtliche Berichte: Die Nachkommen sind erleichtert, wenn sie hören, dass ihr Vater im Krieg etwa in Dänemark oder in Frankreich eingesetzt war, und leiten daraus die trügerische Gewissheit ab, dass ihre Väter nicht an Kriegsverbrechen beteiligt waren. Es herrscht eine allgemeine Unlust, den konkreten Dienstgrad des Vaters in Erfahrung zu bringen. Selbst die Kinder hochgradiger Nazis beruhigen sich mit dem Gedanken, dass ihr Vater „nur in der Propagandamaschinerie tätig war“ oder – sofern er an der Front war – „eh nur als Arzt“. Sie wissen generell wenig über Prozesse, Internierungen und Verurteilungen nach 1945 – Dinge, die man leicht recherchieren könnte.

Selbst professionell mit dem Thema vertraute Menschen, wie der ehemalige Leiter des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstands, Wolfgang Neugebauer, tun sich nicht leicht, wenn es um den eigenen Vater geht. Als Neugebauer vor einigen Jahren draufkam, dass sein Vater, ein SS-Obersturmführer, bei einer SS-Einheit diente, die im Sommer 1944 im französischen Oradour ein Massaker an 600 Zivilisten verübte, war er zuerst sehr erleichtert, weil er herausfand, dass der Vater zu diesem Zeitpunkt nicht in Frankreich, sondern an einer SS-Junkerschule gewesen war. In der Zwischenzeit ist auch seine Sicherheit ins Wanken geraten. Heute würde Neugebauer eine Beteiligung seines Vaters an Verbrechen nicht mehr kategorisch ausschließen.

Verpflichtung. Die Generation, die hier exemplarisch zu Wort kommt, umfasst heute insgesamt rund eine Million Österreicherinnen und Österreicher. Sie sind im Zeitraum von 1938 bis Anfang der fünfziger Jahre geboren und haben nun das Gedächtnis der NS-Geschichte weiterzutragen. Rund 700.000 Österreicher waren Mitglieder der NSDAP gewesen.

Einige der interviewten Personen haben sich – aus professionellem Interesse oder moralischer Verpflichtung – bereits früher schon einmal mit ihrem Namen und ihrer Familiengeschichte an die Öffentlichkeit gewagt: Die Journalistin Burgl Czeitschner etwa, der Grazer Schriftsteller Klaus Hoffer und DÖW-Chef Wolfgang Neugebauer.

Sie haben die Scham durchlitten, die es mit sich bringt, sich als Kind eines Nazis zu outen. Auch sie haben freilich lange ihre vagen Kenntnisse mit Vermutungen und Fantasien ausgefüllt, immer wieder zwischen dem schlimmsten Verdacht und der harmlosesten Möglichkeit schwankend.

Eine Kärntnerin, die sich daran erinnert, dass der Vater ein Hitlerbärtchen trug und bei der Feldarbeit das Horst-Wessel-Lied sang, spricht offen von der Qual der Ungewissheit, sie habe damit „irrsinnige Probleme“. Einmal belauschte sie ein Gespräch, in dem die Mutter andeutete, dass der Vater „die Frauen in Russland fertiggemacht“ habe. Daraufhin wagte sie es, „ein einziges Mal“, ihren Vater zu fragen „ob er was erzählen möchte“, was sie wissen sollte. Sie habe „als Kind schon ein Recht, was zu wissen“, argumentierte sie, worauf der Vater barsch antwortete: „Tua di net versündigen.“

Eine andere Frau (Jahrgang 1954), die fix davon ausgeht, dass der Vater kein Parteigenosse, sondern nur Wehrmachtssoldat war, ist durch das Buchprojekt auf eine Erinnerung gestoßen, bei der es ihr heiß aufsteigt. In ihrer Familie herrschte die Ansicht, man würde „die Juden“ an ihren langen Ohren erkennen. Jetzt ist ihr eingefallen, dass in der Familie die Ohren der Kinder regelmäßig kontrolliert und ihr Wuchs begutachtet wurde. „Das löst in mir ein ganz schlimmes Gefühl aus, schlecht wird mir da“, sagt sie.

Eine andere Frau (Jahrgang 1950) erzählt, ihr sei erst jetzt klar geworden, dass ihr Vater, Angehöriger der Leibstandarte SS Adolf Hitler, bei seinen Aufenthalten am Obersalzberg keinen Sommerurlaub gemacht hatte, wie sie lange glauben wollte. „Vor allem ist mir klar geworden, dass die Tätigkeit in Lodz (...), die bei meinem Vater Musterung hieß, vermutlich in der Aussortierung von Juden bestand, die dann ermordet wurden.“ Seinen Zusatz, dass es ihm „dort zu heiߓ wurde, verstehe sie auch erst jetzt.

Verdrängungsleistung. Die menschliche Verdrängungsleistung ist beachtlich. Eine der Nachkommen des ehemaligen Linzer HJ-Führers Erich Slupetzky – er war nach 1945 Turnerbundfunktionär, Haider-Finanzier und Unterstützer rechtsextremer Aktivitäten – gesteht, sie habe daheim gehört, dass schon die Entwesungsfirma des Großvaters Gas nach Mauthausen geliefert habe. Genaues wisse sie nicht: „Das konnte ich nie aufklären, darüber wurde in der Familie nie gesprochen. (...) Es ist bis heute ein Tabuthema, die Mutter anzusprechen (...) Ich würd’s nicht über die Lippen bringen.“ Sie hätte freilich einfach in ein Buch oder ins Internet schauen können. Großvater Anton Slupetzky wurde 1947 von einem amerikanischen Militärgericht verurteilt.

Es ist wohl die Liebe der Kinder zu ihren Eltern, die blind und taub macht. Slupetzky bleibt in der Erinnerung ein warmer, herzlicher Mensch, ein großzügiger Vater. „Da zerreißt’s einen ja innerlich“, sagt die Tochter.

Alle taten sich schwer, die heiklen Fragen zu stellen.

„Ich hab ihn gefragt, ob er jemanden umgebracht hat zum Beispiel, und er hat gesagt: Ja. Aber weiter konnte ich nicht mit ihm reden“, sagte eine andere Zeitzeugin über ihren Vater. In diesen Familien, auch darauf deutet die Untersuchung hin, herrschte meist Einverständnis darüber, was Tabu ist, und große Angst, dieses Tabu zu verletzen.

Vieles über das Aufwachsen der „Skeptischen Generation“ – so nannte sie der Soziologe Helmut Schelsky Ende der fünfziger Jahre – wird aus ihren Erzählungen über die Mütter ablesbar.

Sie ersetzten die abwesenden Väter, die im Krieg gefallen waren oder nach 1945 in Internierungslagern wie Wolfsberg oder Glasenbach einsaßen. Mit den Müttern erlebten die Kinder die Angst vor den Folgen der Entnazifizierung der Väter: „Das Bitterste war sicher immer die Drohung, die Kinder wegzunehmen.“

Historikerin Reiter fand in den Erzählungen der Kinder aus der „Tätergeneration“ sehr oft das Bild der „Trümmerfrauen“ wieder, die nach Kriegsende Schutt aufräumten und streng für den Zusammenhalt der zerstörten Familien sorgten.

Zwei Frauen berichteten, dass ihre (Schwieger-)Mütter das NS-Erziehungsbuch „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“ weiterverwendet hatten. Und das darin Vorgeschriebene anwandten: Härte, Sauberkeit, Unnachgiebigkeit, Unterdrückung der Gefühle, körperliche Strafen.

Auffallend oft ist von brutalen Erziehungsmethoden wie Scheitelknien und Schlägen die Rede. Innige Beziehungen zu den Müttern entstanden so nicht: „Das tut mir leid, und ich muss mich immer wieder bemühen, was zu finden, was ich schätz an ihr“, sagte eine Frau, deren Mutter BDM-Führerin gewesen war.

Viele Aussagen der „Täterkinder“ widersprechen dem Klischeebild der kinderliebenden Nachkriegsmutter: „Sie wollte mich zurechtbiegen (...) nur, ich hab sehr früh so innerlich beschlossen, also, mit mir machst du das nicht.“ Eine Psychotherapeutin resümiert: „Ich glaub, dieses ganze Kinderkriegen und der ganze Haushalt, und die ganze Aufzucht … war ihr irgendwie zutiefst zuwider. Sie hat in erster Linie funktioniert.“

Verstrickungen. Nach dem Befund von Historikerin Reiter war die Bedeutung der Mütter in den NS-Familien größer, als ihnen gemeinhin zugeschrieben wird. So, wie Frauen, Freundinnen, Mütter während des Nationalsozialismus die politischen Überzeugungen der Männer oft geteilt und durch ihre stabilisierende Funktion an der „Heimatfront“ das System mit aufrechterhielten, hielten die meisten es auch danach.

Die Mütter wollten aber als „unpolitisch“ erlebt werden und entsprachen damit dem „Bedürfnis, wenigstens den weiblichen Teil der ehemaligen Täterschaft freizusprechen“, meint Reiter.

Aus den Erzählungen der Mütter sind vielen Nachgeborenen die meist nostalgischen Schilderungen aus ihrer Zeit beim BDM (Bund Deutscher Mädchen) im Gedächtnis geblieben. Über die führende Rolle ihrer Mutter im BDM hat eine Tochter jedoch nie von ihr selbst, sondern ausschließlich aus Erzählungen des Vaters erfahren: „Der Vati hat das immer wieder gesagt, also dass er sich so in diese sozusagen Führerfrau verliebt hat.“

Ein Sohn schildert den Schock, als er nach dem Tod der Mutter ihr NSDAP-Parteibuch in der Küchenkredenz fand: „Mein Vater hat nie ein Hehl daraus gemacht, dass er Parteigenosse war. (...) Warum hat sie mir das verschwiegen (...) weil sie nicht wollte, dass ich ein negatives Bild von ihr habe?“

In manchen Erzählungen werden die Mütter als „noch fanatischer“ als die Väter präsentiert. Reiter: „Oft steckt hinter solchen Gegenüberstellungen und Vergleichen aber auch das Bemühen, die ‚böse Mutter‘ gegen den ‚guten Vater‘ auszuspielen – den es wegen seiner offensichtlicheren NS-Verstrickungen zu verteidigen oder entlasten gilt.“

Während bei den Vätern fast immer die Frage nach ihrer möglichen Täterschaft im Raum steht, fragte man sich bei den Müttern, was sie gewusst haben könnten. Ihr tatsächliches Wissen hielten die Frauen jedoch meist zurück, die ergingen sich allerdings in vielen Andeutungen, traten als Beschützerinnen der NS-Väter auf und griffen am Familientisch beschwichtigend ein, sobald es um das familiäre Erbe des Nationalsozialismus ging.

Mehrere Teilnehmerinnen des Projekts vertreten die Ansicht, trotz allen Schmerzes sei es hoch an der Zeit, die Tätergeschichten zu enttabuisieren. Eine Frau sagt zornig: „Niemand hat Nazi-Eltern. Ich hab mir immer gesagt, es muss doch irgendwie mehr Täterkinder geben.“

Ein männlicher Teilnehmer bricht überhaupt den Stab über seine Generation und meint, das Thema des Umgangs mit den Eltern und ihrer NS-Geschichte sei das Tabuthema der 68er-Generation.

Wahrscheinlich kann man den Engagierten dieser Generation den Vorwurf nicht ersparen, sie hätten sich zwar abstrakt mit den Tätern auseinandergesetzt oder sich an öffentlichen Figuren wie Kurt Waldheim oder Jörg Haider abgearbeitet, die eigene Familiengeschichte jedoch unter den Teppich gekehrt.

Der Zeitgeschichteprofessor Gerhard Botz, Sohn eines 1944 gefallenen Nationalsozialisten, gesteht, ihm sei das erst im Alter von über 60 Jahren richtig bewusst geworden.

Die Generation der Nazi-Kinder wurde oft selbst von ehemaligen Nationalsozialisten unterrichtet – rund 40 Prozent der Lehrer in den fünfziger Jahren waren schon in der NS-Zeit im Dienst gewesen. Und der österreichische Staatsmythos vom ersten Opfer Hitlers war nicht dazu angetan, in der eigenen Familie die Frage nach den Tätern und ihren konkreten Taten zu stellen.

Von Marianne Enigl und Christa Zöchling
Kommende Woche: Vergangenheitsbewältigung in der Literatur – die 68er und die Nazis