Psychologie: Das Ge-heimnis der Intuition

Psychologie: Das Geheimnis der Intuition Warum "das Gefühl" lebenswichtig ist

Warum "das Gefühl" für uns lebenswichtig ist

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Als der 26-jährige Albert Einstein 1905 die Relativitätstheorie formulierte, konnte er die dafür wesentlichen Parameter nicht sofort logisch erklären. Dazu benötigte er zehn lange Jahre. „Wenn ich über mich und meine Denkweise nachdenke“, so bekannte er aufrichtig, „komme ich fast zu dem Schluss, dass die Gabe der Fantasie für mich mehr bedeutet hat als meine Begabung, absolutes Wissen aufzunehmen. Ich vertraue auf Intuition“, verriet der Meister der Gedankenexperimente.

Wenn Zinedine Zidane die Bewegung seiner Gegner und Mitspieler „liest“ und einen genialen Pass macht, kann er die Entscheidung über Richtung, Höhe und Tempo des Spielgerätes niemals logisch fällen. Selbst das menschliche Gehirn, wesentlich effizienter als der beste Computer, ist nicht in der Lage, die dafür nötigen Rechenleistungen in so kurzer Zeit zu bewältigen. Ein genialer Spielzug erfolgt intuitiv und ist dennoch Resultat von Millionen als Erfahrung im Gehirn gespeicherten Daten.

Sobald Tennistrainer Vic Braden das Hochwerfen des Balles und die Ausholbewegung des Armes eines Tennisspielers beim Aufschlag sieht, kann er exakt voraussagen, ob der Ball im Feld des Gegners landen wird oder ob ein Fehler zu erwarten ist. Egal, ob er die Spieler kennt oder nicht, die Trefferquote seiner Prognose liegt nahe bei 100 Prozent. Warum er das kann, weiß der inzwischen 70-jährige Amerikaner freilich nicht zu sagen.

Damit ist er nicht allein. Vom Krümmen des kleinen Fingers bis zum riskanten Überholmanöver mit dem Auto – mit den rund 100.000 Entscheidungen, die ein Mensch an einem einzigen Tag trifft, wäre das bewusste logische Denken einige Wochen lang befasst. Neun von zehn der Weichenstellungen im Alltag, so schätzen Kognitionsforscher aufgrund neuester Erkenntnisse, erfolgen deshalb emotional und meist unter Ausschaltung des Bewusstseins und nur zehn Prozent rein kognitiv, also mit Vorsatz und logisch.

Und dennoch wurden Gefühle als Entscheidungsgrundlage gut zwei Jahrhunderte lang in den Industriegesellschaften in den Bereich der Mystik gedrängt. Mit „Ich denke, also bin ich“ leitete Descartes den strukturellen Irrtum ein, menschliche Vernunft dem tierischen Gefühl entgegenzusetzen. Vernünftige Entscheidungen werden logisch getroffen, lautete das Credo. Die naturwissenschaftlich orientierte Humanwissenschaft trennte folgerichtig Körper von Seele, das menschliche Hirn wurde als eine Art Rechner verstanden, in dem Sensorik und Motorik streng getrennt und unabhängig von der Emotion gesteuert werden.

Bis heute wird Intuition, aus dem Lateinischen mit „Ansicht über irgendetwas“ übersetzt, vielfach ins Esoterik-Eck gedrängt.

Statt zwischen beiden einen Gegensatz zu konstruieren, sollte man die Intuition als die entwicklungsgeschichtlich ältere Form von Intelligenz betrachten, schlug Verhaltensforscher Konrad Lorenz vor. Danach wären unsere Gefühle die Essenz der Lernerfahrungen, die die Gattung Mensch im Laufe ihrer Entwicklungsgeschichte gemacht hat.

Womit sie auf der einen Seite den unschätzbaren Vorteil hätten, über die individuelle Lebenserfahrung hinauszureichen, auf der anderen aber mit dem Risiko behaftet wären, uns zuweilen in die Irre zu führen, weil sich die Lebensumstände heute von denen des frühgeschichtlichen Menschen deutlich unterscheiden.

Spiegelneuronen. Den Bann über die Gefühle gebrochen hat jedoch erst die moderne Neurowissenschaft. Sie ist seit fast zehn Jahren dabei, in den Nervenzellen die Mechanismen des „Wissens ohne Wissen“ zu entschlüsseln und dem Gefühl damit einen rationalen Stellenwert zu geben.

Eigentlich war es ein Zufall, der den Neurologen Giacomo Rizzolatti 1996 auf die Spur der Spiegelneuronen brachte. Er wollte mit seinem Team an der Universität Parma messen, wie das Gehirn bei der Planung und Ausführung zielgerichteter Handlungen reagiert. Rizzolatti und seine Mitarbeiter verkabelten den Kopf von Affen mit extrem feinfühligen Messgeräten, um die Aktion einzelner Nervenzellen erfassen zu können.

Dem Versuchstier wurde eine Nuss in Reichweite gelegt. Nach etlichen Versuchen gelang es, eine Nervenzelle zu identifizieren, die nur dann aktiv wurde, wenn der Affe nach dem beliebten Snack griff. Weder beim alleinigen Anblick noch bei irgendeiner anderen Greifbewegung der Hand, die nicht in Richtung Nuss ging, feuerten diese Nervenzellen irgendein Signal.

Damit war das Versuchsziel erreicht. Doch bevor Rizzolatti den Affen die Kabel abnahm, registrierte er Unglaubliches: Eines der Tiere saß ruhig im Käfig – seine Nervenzellen, die zuvor ausschließlich auf das Greifen nach der Nuss reagierten, feuerten jedoch plötzlich auch dann, wenn der Affe nur beobachtete, wie ein Artgenosse nach der Erdnuss griff.

Eine neurobiologische Sensation: Allein durch das Beobachten einer Handlung, die ein anderes Individuum ausführt, wird im eigenen Gehirn ein neurobiologisches Programm aktiviert, das der beobachteten Handlung entspricht. Giacomo Rizzolatti taufte diese Zellen mit dem Hang zur Imitation Spiegelnervenzellen. Ihre Resonanz setzt unwillkürlich und ohne jegliches Nachdenken ein.

Inzwischen ist klar: Diese Spiegelneuronen lassen die Menschen mitfühlen, nachempfinden, sind also für emotionales und einfühlendes Verstehen anderer Menschen zuständig. „Wir würden überhaupt nicht verstehen, intuitiv und spontan verstehen, was wir eigentlich beobachten, wenn wir nicht die Spiegelnervenzellen hätten. Ohne diese Nervenzellen wären wir emotional blind“, erklärt Joachim Bauer, Professor für Psychoneuroimmunologie an der Universität Freiburg. Den Gesprächspartner einschätzen, intuitiv die Bewegungen anderer Menschen in einer überfüllten Fußgängerzone erfassen oder spontan die Handlungen, Gefühle, Stimmungen oder Absichten anderer Menschen verstehen: Ein paar Häufchen Nervenzellen befähigen Menschen zur Empathie und Intuition.

Resonanzsystem. Eine Fülle weiterer Experimente an Menschen zeigte: Die Neuronen werden allein schon dann aktiv, wenn Menschen sich eine bestimmte Handlung vorstellen oder lediglich hören, wie jemand anderer über eine Handlung spricht. Geräusche, die typisch für eine Handlung sind, haben den gleichen Effekt.

Der neurobiologische Mechanismus, der uns andere Bewegungen oder Gefühle spontan und intuitiv voraussehen lässt, wurde durch ein weiteres Experiment an der Universität Parma entschlüsselt. Bei diesem Versuch zeigte man dem Affen zwar für einen kurzen Moment die Erdnuss, verdeckte ihm aber anschließend die Sicht auf das begehrte Stück durch eine Platte. Auch wenn jetzt ein Mensch in Richtung Nuss griff, konnte der Affe nur einen Teil der Handlung beobachten. Die Spiegelzellen feuerten aber trotzdem, obwohl wesentliche Informationen über die gesamte Handlungssequenz fehlten. Das Beobachten eines Teiles der Handlung reichte aus, damit der Affe den zu erwartenden Gesamtablauf intuitiv verstand und zu einer wahrscheinlich eintretenden Gesamtsequenz ergänzte.

„Die Natur hat ein unglaubliches Resonanzsystem entstehen lassen, mit dem wir uns gegenseitig intuitiv verstehen können“, resümiert Bauer. „Das ist eine der wichtigsten Entdeckungen der Neurobiologie in den letzten 100 Jahren.“

Die Spiegelneuronen befinden sich in vielen Hirnarealen: Beim Zuschauen, wie jemand nach einer Tasse greift, werden im Gehirn des Beobachters Nervenzellen aktiv, die er benötigen würde, um selbst nach einer Tasse zu greifen. Wer beobachtet, wie jemand am Körper berührt wird, aktiviert damit Nervenzellen, die bei Berührungen an ihm selbst aktiv sind. Auch Mitleid ist ein körperlicher Vorgang: Die Beobachtung eines sich vor Schmerzen krümmenden Mitmenschen aktiviert die Zellen für die eigene Schmerzempfindung.

Spiegelneuronen regieren den menschlichen Alltag, ohne dass die Betroffenen dies wissen: Der Anblick eines lächelnden Gesichtes etwa löst beim Beobachter ganz automatisch ähnliche Gefühle und Bewegung der Gesichtsmuskeln aus. Aus dem gleichen Grund ist Gähnen ansteckend.

Und auch die Partnerwahl erfolgt nach diesem Muster. Der Evolutionspsychologe Karl Grammer vom Wiener Institut für Stadtethologie hat mit elektronisch ausgewerteten Videostudien bewiesen, dass es vor allem Bewegungsmuster des potenziellen Geschlechtspartners sind, die über dessen sexuelle Attraktivität entscheiden – lange bevor konkrete Überlegungen und Vorsätze ins Bewusstsein treten.

Neurowissenschafter haben inzwischen auch die zentrale Rolle der Gefühle bei den Prozessen der Informationsverarbeitung des Gehirns nachgewiesen. „Unterhalb“ des Bewusstseins laufen eine Menge kognitiver Mechanismen ab, die das Denken und Verhalten steuern: Während die linke Gehirnhälfte analysiert, schreibt, spricht, rechnet und die Umwelt mithilfe von Logik versteht, arbeitet die rechte Gehirnhälfte völlig anders. Sie wirkt im Hintergrund und funktioniert komplex, integrativ, ganzheitlich, gefühlsbezogen und assoziativ. Die rechte Hirnhälfte scannt Wichtiges aus einer Flut von auf uns einströmenden Informationen.

Sortierte Info. Die Schaltstelle zwischen den zwei Systemen ist das limbische System: Bevor Informationen im Langzeitgedächtnis abgelagert werden, müssen die Informationsinhalte erst diese Strukturen passieren. Beim Einspeichern und auch beim Wiederaufrufen werden die Informationen sortiert, bewertet und gebündelt. Und zwar nicht nach intellektuellen Kriterien, sondern ausschließlich nach Gefühl. Ein Ereignis, das uns kalt lässt und weder mit positiven noch negativen Gefühlen gekoppelt ist, hat demnach gar keine Chance, Teil unseres Gedächtnisses zu werden. Wie eng diese Gefühle mit den Erinnerungen gekoppelt sind, zeigt sich auch daran, dass beim Abrufen von Erinnerungen auch die alten Gefühle wieder wachgerufen werden. Schon beim Gedanken an ein unangenehmes Ereignis kann einem erneut „das Herz zusammengezogen“ werden oder „der Angstschweiß austreten“.

„Unser Gehirn ist in der Lage, enorm viele Informationen zu verarbeiten“, erklärt Intuitionsforscherin Cornelie Betsch von der Universität Heidelberg. „Und das funktioniert nur, wenn wir uns nicht mehr an jede einzelne Information erinnern können, sondern eine kondensierte Größe wie etwa ein Gefühl haben, wie diese Informationen aussehen.“

Studien an der Universität Heidelberg haben diesen Prozess durchleuchtet. Dabei wurden Probanden TV-Nachrichten mit den Börsennews auf dem üblichen schmalen Laufband am unteren Bildrand vorgespielt, auch die unvermeidlichen Werbeblöcke mussten die Versuchspersonen über sich ergehen lassen. Auf die Frage, welche der vor einigen Minuten vorbeigehuschten Aktien sie attraktiv finden, nannten die Testpersonen exakt jene mit den besten Werten.

Wenn Probanden aber gefragt wurden, an welche Werte und Informationen sie sich konkret erinnern, wussten sie kaum etwas zu sagen. „Das zeigt, dass die Informationen nur als Konzentrat erhalten bleiben“, so Betsch, „es aber nicht notwendig ist, sich an die einzelnen Fakten zu erinnern.“

Auch beim Lernen und beim Abrufen strikt kognitiver Inhalte aus dem Gedächtnis spielen Gefühle eine entscheidende Rolle. Der Psychologe Robert Ziegler hat das in einem Experiment veranschaulicht. Er gab Schülern der zweiten Schulstufe in Deutschland eine einfache Rechenaufgabe: 18 + 24 – 24 = ?

Die Kinder brauchten durchschnittlich acht Sekunden, um die Lösung zu finden. Nach etwa fünf Aufgaben des gleiche Typs benötigten die Kids nur noch vier Sekunden, um die Antwort richtig zu benennen. Sie konnten das Prinzip „a+b–b=a“ zwar noch immer nicht erklären, hatten es aber intuitiv verstanden. Erst nach weiteren fünf Versuchen waren sie in der Lage, auch die Regel zu formulieren.

Die Bewältigung fast aller Alltagssituationen wird nach dem gleichen Muster gelernt.

„Das Gehirn arbeitet hocheffizient, indem es einen großen Teil des komplexen Denkens an das Unbewusste delegiert, so wie ein modernes Linienflugzeug in der Lage ist, mittels Autopiloten zu fliegen, mit wenig oder keinem Input vonseiten des menschlichen oder ‚bewussten‘ Piloten“, beschreibt der amerikanische Psychologe Timothy D. Wilson („Strangers to Ourselves“) den Prozess. „Das Unbewusste versteht es hervorragend, Menschen vor Gefahren zu warnen, Ziele zu setzen und Handlungen in intelligenter und effizienter Weise einzuleiten.“

Reine Ratio. Der US-Hirnforscher Antonio Damasio hat mit seinen Studien an Menschen, bei denen nach Unfällen bestimmte Hirnregionen zerstört waren, belegt, dass ohne Gefühle Entscheidungen gar nicht oder nur sehr schwer möglich sind. Ein Patient, dessen Frontallappen im Gehirn – einem für die emotionale Bewertung wichtigen Teil – nicht mehr funktionierte, wurde gefragt, an welchem von zwei möglichen Tagen der nächste Untersuchungstermin stattfinden sollte. „Eine halbe Stunde lang zählte der Patient in aller Ruhe die Gründe für und gegen die beiden Termine auf – ohne in der Lage zu sein, sich zu entscheiden“, erzählt Damasio. „Ihm fehlte die Vorstellungskraft, was passieren wird, und das ist für das Fällen von Entscheidungen scheinbar unverzichtbar.“

Anders als der Instinkt, bei dem es um ein Verhaltensprogramm geht, das in bestimmten Situationen ohne unser Zutun abläuft, ist Intuition etwas Spontanes, Kreatives, das uns häufig zwar auch nicht bewusst ist, aber das wesentlich vielschichtiger abläuft. Während Instinkte sich auf angeborene Fertigkeiten beziehen, die seit Millionen von Jahren genetisch vorprogrammiert sind, ist Intuition eine Art Begabung, die sich dynamisch weiterentwickelt.

Entsprechend unterschiedlich ausgerprägt ist die Fähigkeit zur Intuition. Je größer der Erfahrungsschatz, desto verlässlicher sind die intuitiven Urteile. Der Sozialwissenschafter und Nobelpreisträger Herbert Simon hat diese Fähigkeit erforscht. Schachmeister etwa sind in der Lage, sich die Stellung der Figuren in fünf Sekunden einzuprägen und die Partie „blind“ fortzuführen. Sie profitieren von tausenden gespielten und analysierten Partien und dem schnellen (Wieder-)Erkennen von Spielzügen. Auch erfahrene Ärzte sind zu ähnlichen Schnelldiagnosen fähig, indem sie Gerüche, Teint oder bestimmte Gesten von Patienten intuitiv deuten.

Doch in der sich stets rational gebenden Welt werden Mediziner trotzdem bei Röntgenbildern und Laborbefunden bleiben müssen, auch wenn die Ergebnisse möglicherweise dem Bauchgefühl diametral widersprechen. Dass es möglich ist, etwas zu wissen, ohne genau sagen zu können, warum wir es wissen, wird oft kaschiert. Der Intuition wird mit Argwohn begegnet.

„Das ist der Grund dafür, warum die Branche der Unternehmensberatungen so boomt“, kritisiert Intuitionsexpertin Betsch die Doppelbödigkeit im Wirtschaftsleben. „Von Haus aus steht die Entscheidung ja meist fest – und dann kommt die Unternehmensberatung und begründet das intellektuell. Es kann sich ja kein Manager vor den Vorstand stellen und sagen, dass er die Entscheidung allein aus dem Bauch heraus getroffen hat.“

Jack Welch wurde vom Wirtschaftsmagazin „Fortune“ zum erfolgreichsten „Manager des 20. Jahrhunderts“ gekürt. In seiner 2001 erschienenen Autobiografie verrät der ehemalige General-Electric-Chef das Geheimnis seines Erfolges: Der Leser erfährt von Managementtheorien, komplizierten Systemen und knallharten Prinzipien. Der Titel des Buches lautet aber: „Straight from the Gut“, das übersetzt so viel bedeutet wie „aus dem Bauch heraus“.

Nicht fehlerlos. Doch fehlerfrei sind intuitive Entscheidungen keineswegs. Tief verwurzelte Vorurteile etwa können intuitive Entscheidungen beeinflussen oder sogar überlagern. Malcolm Gladwell ging bei der Recherche zu seinem Bestseller „Blink! Die Macht des Moments“ (Campus, 2005) diesen Mechanismen auf den Grund: „Wir haben eine Vorstellung davon, wie eine Führungspersönlichkeit auszusehen hat, und dieses Stereotyp ist derart übermächtig, dass wir alle Schwächen übersehen, wenn jemand äußerlich unserem Bild entspricht.“ Er verglich die Vorsitzenden der erfolgreichsten US-Unternehmen und fand heraus, dass die meisten dieser Männer auffällig groß waren: In seiner Auswahl maß der durchschnittliche Vorsitzende 1,82 Meter. Wenn man bedenkt, dass lediglich 14,5 Prozent der männlichen Amerikaner größer als 1,82 sind, die Quote unter den Spitzenmanagern in Gladwells Auswahl aber bei 58 Prozent liegt, wird eine klare Tendenz erkennbar: Kleinwüchsigkeit stellt ebenso ein Karrierehindernis dar wie die Hautfarbe oder das Geschlecht. Untermauert wurde dieses unbewusste Stereotyp von Wirtschaftswissenschaftern, nachdem sie Daten aus verschiedenen Volksbefragungen in den USA ausgewertet hatten. Dabei stellten sie fest, dass unabhängig von Geschlecht und Hautfarbe ein Zentimeter Körpergröße mehr 310 Dollar zusätzliches Jahresgehalt bringt. Dass das kein ausschließlich amerikanisches Phänomen ist, beweist eine von der Universität München im Vorjahr veröffentlichte Studie. In Deutschland bedeutet jeder zusätzliche Zentimeter an Körpergröße rund 0,6 Prozent mehr an Bruttomonatsgehalt. Fazit: Bei der Vergabe von wichtigen Positionen entscheiden wir weit weniger rational, als wir vermuten.

Intuition ist auch ein unzuverlässiger Ratgeber, wenn es um Selbsteinschätzung geht. Auf einem Standesamt befragten Psychologen 130 Hochzeitspaare nach der derzeitigen Scheidungsquote. Die Antworten waren erstaunlich oft richtig. Fragte man sie jedoch nach den Möglichkeiten des eigenen Scheiterns, liegt die Antwort bei den frisch vermählten Paaren nahe null Prozent. Scheiden, das tun nur die anderen.

Falsche Intuition. In Gefahrensituationen, wenn Angst im Spiel ist, sind intuitive Entscheidungen ebenfalls oft falsch. Denn zuverlässig ist Intuition anscheinend nur in Kombination mit Erfahrung, auch wenn nur wenige Details davon bewusst sind. In unerwarteten neuen Stresssituationen dagegen treten Vorurteile und Stereotype in den Vordergrund. „Wenn das Panikorchester in voller Lautstärke im Gehirn losplärrt, gibt es kein Gehör mehr für Zwischentöne, sondern nur mehr die reine Panik“, erklärt Bauer. „In solchen Situationen gibt es kaum noch kluge intuitive Entscheidungen.“ Untersuchungen haben ergeben, dass sich die Signalrate der Spiegelneuronen in Angstsituationen massiv reduziert.

Fehlentscheidungen etwa von Polizisten in Gefahrensituationen werden so erklärbar. Unvermeidbar sind sie dennoch nicht: Denn auch intuitive Entscheidungen in Stresssituationen lassen sich durch Training optimieren.

Am Beispiel eines Autofahrers wird das deutlich. Ein ungeübter Lenker wird, sobald sein Gefährt zu schleudern beginnt, bremsen oder Gas geben – alles in ihm signalisiert ihm, dass er wieder den stabilen Kontakt mit dem Boden suchen muss. Dass er besser den scheinbar zu mehr Instabilität führenden Weg, nämlich auszukuppeln, wählen sollte, sagt ihm seine Intuition nicht.

Erst mit viel Erfahrung und nach einem Schleuderkurs wird ihm seine unbewusste Entscheidungshelferin den richtigen Tipp geben.

Ob mit oder ohne Training – die Tatsache, dass die meisten menschlichen Entscheidungen intuitiv und daher unbewusst fallen, lässt sich nicht mehr ins Reich der Esoterik wegschieben. „Intuition wird immer noch falsch eingeschätzt“, resümiert der deutsche Emotionsforscher Arvid Kappas, „wir versuchen immer alles im Nachhinein zu erklären. Wir müssen lernen, uns mit der Idee wohlzufühlen, dass wir einfach nicht wissen, warum wir bestimmte Sachen machen.“

Von Thomas Hanifle und Kurt Langbein