Psychologie: Die Biologie der Musik

Die Wirkung von Musik auf unseren Organismus

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Der heute 19-jährige Robert ist schwerstbehindert. Vor zwei Jahren war er im Wagen seines Großvaters am Beifahrersitz gesessen, als das Auto von einem Lkw gerammt wurde. Der Großvater starb, Robert erlitt ein schweres Schädel-Hirn-Trauma. Jetzt liegt er im Rehabilitationszentrum des Unfallspitals Wien-Meidling, wo Therapeuten versuchen, seine Muskelspasmen zu lösen, indem sie ihm auf Zupfinstrumenten, einer altorientalischen Laute und einer keltischen Harfe, entspannende und beruhigende Melodien vorspielen. Robert sitzt im Rollstuhl, vor sich ein kleines, auf den Rollstuhl montiertes Pult. Dort liegt, in einer Kunststoffschiene fixiert, seine linke Hand, die rechte ragt krampfartig verzerrt darüber auf. Die hinter dem Rollstuhl stehende klinische Neuropsychologin Ann Auer-Pekarsky hält mit der einen Hand den Kopf des Patienten aufrecht, mit der anderen versucht sie, die Finger von Roberts rechter Hand behutsam zu strecken.

Die Musik, welche die beiden Therapeuten Gerhard Tucek und Gerhard Bujak auf ihren alten Instrumenten erzeugen, klingt wie aus einer fernen Welt. Tatsächlich entspannt sich nach einigen Minuten Roberts Gesichtsausdruck, die eben noch geschlossenen Augen öffnen sich. Und als die Psychologin seinen Mittelfinger an die Saiten der Harfe führt und Robert auf diese Art selbst Töne erzeugt, lächelt er. Geradezu freudig und glücklich wirkt sein Gesichtsausdruck, als sie ihm hilft, einen Trommelschlägel in der Hand zu halten und damit den Takt zur Musik zu schlagen. Es scheint, als wäre er in diesen Augenblicken weniger behindert. „Ein Schaden wird ihm bleiben, aber er wird große Fortschritte machen“, wagt Therapeut Tucek, Leiter des Instituts für Ethnomusiktherapie im Schloss Rosenau, eine Prognose.

Patienten mit Schädel-Hirn-Trauma leiden durch Muskelverkrampfungen und Schmerzzustände unter enormem Stress, der sich durch beruhigende Musik abbauen lässt. „Es gibt einen unmittelbar messbaren Benefit durch die Musik“, erklärt der Neurologe Walter Oder, Leiter des Rehabilitationszentrums Wien-Meidling, der an seiner Anstalt vor fünf Jahren gegen teils heftige Widerstände mit der Musiktherapie begonnen hat. „Die Atmung stabilisiert sich, die Hirnstromkurve im Elektroenzephalogramm verändert sich.“ Musiktherapeutische Programme werden mittlerweile auch den Angehörigen von schwerstbehinderten Patienten angeboten, weil auch sie unter enormem Stress zu leiden haben.

Herzfrequenz. Dass Musik entspannend wirken und Heilungsprozesse günstig beeinflussen kann, ist nicht neu. Doch in jüngster Zeit liefert die Wissenschaft immer mehr Hinweise darauf, dass die Wirkung von Musik auf den menschlichen Organismus noch viel umfassender ist als bisher angenommen. Erst im vergangenen September hatten Forscher der italienischen Universität Pavia sowie des John-Radcliff-Krankenhauses im englischen Oxford nachgewiesen, dass sich Musikgenuss je nach Rhythmus anregend oder beruhigend auf den Kreislauf auswirkt und die Herztätigkeit nachhaltig positiv beeinflusst. Forscher der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main hatten bereits im Vorjahr Hinweise darauf gefunden, das sich herzhaftes Musizieren oder Singen positiv auf das Immunsystem auswirken kann. Andere Studien haben bereits mehrfach einen positiven Einfluss auf die Stress- und Schmerzwahrnehmung, auf die körperliche und auf die Lernleistung des Menschen – ja sogar auf die Milchproduktion von Kühen gezeigt.

Mittlerweile wird auch in Österreich an verschiedenen Zentren erforscht, welche physiologischen und psychologischen Prozesse im menschlichen Organismus durch aktives Musizieren oder durch Musikhören in Gang kommen. Diese Forschungen gehen unter anderem auf eine Initiative des Stardirigenten Herbert von Karajan zurück. Auslöser war ein tragischer Todesfall. Im Juli 1968 brach Karajans Kollege Joseph Keilberth (1908–1968) während einer Aufführung der Wagner-Oper „Tristan“ in München am Pult zusammen und starb kurz danach. Karajan beauftragte daraufhin Mediziner, die Stressfaktoren zu bestimmen, welche im Körper eines Dirigenten während einer Aufführung manifest werden. 1969 wurde am Psychologischen Institut der Universität Salzburg ein eigenes Forschungsinstitut der Karajan Stiftung für experimentelle Musikpsychologie eingerichtet. Karajan selbst stellte sich als Versuchsperson zur Verfügung.

Anspannung. Während des Dirigats der Leonoren-Ouverture wurden an ihm Hauttemperatur, Atmung und Pulsfrequenz gemessen sowie ein Elektrokardiogramm erstellt. Der dabei gewonnene Datensatz zeigte vor allem eine emotionale Anspannung mit einer Steigerung der Pulsfrequenz auf mehr als das Doppelte des Ausgangswerts sowie eine deutliche Veränderung des Elektrokardiogramms (siehe auch das Interview auf Seite 62 mit dem Dirigenten Mariss Jansons, der das kommende Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker leiten wird. Er hatte 1996 beim Dirigat von Puccinis „Bohème“ einen Herzinfarkt erlitten). Die Studie bestätigte eine Vermutung Karajans, dass Keilberth an einer ruhigen Stelle der Aufführung zusammenbrach, wo sich die ganze Spannung im Körperinneren sammelt. Seit 1995 werden derartige Studien auch im Wiener Karajan Centrum weitergeführt.

Heute koordiniert das Forschungsnetz „Mensch&Musik“ (www.mensch-und-musik.at) die auf universitärer Ebene laufenden wissenschaftlichen Arbeiten. Hans-Ullrich Balzer, am Mozarteum Salzburg tätiger Forschungschef des Netzes, betrachtet Musik als schöpferischen Teil des Menschen, geschaffen aus einer Wechselbeziehung mit der Umwelt. Überall ortet er Klänge und Rhythmen, in der Natur ebenso wie im menschlichen Körper – vom Herzschlag bis zum Rhythmus der einzelnen Zelle. Chronobiologie nennt sich eine eigene Forschungsrichtung, die sich mit den zeitlichen Abläufen in der Biologie und besonders im menschlichen Organismus befasst – einer viel komplexeren Steuerung als jener, die gemeinhin als „Biorhythmus“ bezeichnet wird.

Mit Medikamenten, so Balzer, würde die Medizin nur biochemische Niveaus verändern, und die Regelprozesse des Organismus müssten sich auf das geänderte Niveau einstellen. „Es wäre doch viel eleganter, die Regelprozesse als solche zu beeinflussen und damit das Niveau zu ändern.“ Das setze zwar genaue Kenntnisse der funktionellen zeitlichen Abläufe und der Ansatzpunkte voraus, „aber wenn man es richtig macht, kann man mit Musik einen größeren Erfolg erzielen als mit jedem Medikament“. Balzer, ein studierter Physiker, den es in die Schlaf- und Stressforschung verschlagen hatte, ehe er 2001 ans Mozarteum in Salzburg kam, hat ein Messinstrument entwickelt, das wie eine Armbanduhr getragen wird und das in der Lage ist, verschiedene Parameter wie Hautwiderstand und elektrischen Leitwert der Haut zu messen, während die Testperson Musik hört. Die ermittelten Daten lassen sich mit der gleichzeitig aufgezeichneten Hirnstromkurve vergleichen, um so eine Verbindung zwischen Hirnaktivität und Reaktionen auf der Haut herzustellen.

Erfolge. Balzer, dessen Forschungszweig mittlerweile vom rein auf Musikpädagogik konzentrierten Mozarteum ausgebootet wurde und daher nach einer neuen Bleibe sucht, arbeitet auch mit der Paracelsus Medizinischen Privatuniversität Salzburg zusammen. Dort wurde kürzlich eine von Vera Brandes geleitete Studie über die Wirkung von Musiktherapie bei Bluthochdruck, Herzrhythmus- und Schlafstörungen abgeschlossen. Für diese Untersuchung haben die Forscher eine eigene Musiktherapie nach chronobiologischen Gesichtspunkten sowie ein spezielles Kopfkissen mit eingebautem Musikprogramm entwickelt. Vier Wochen lang wurden 90 Probanden im Alter zwischen 50 und 60 Jahren täglich eine halbe Stunde mit Musik berieselt. „Wir haben eine 80-prozentige Erfolgsquote bei jenen Patienten, die schon seit Jahren blutdrucksenkende Mittel nehmen. In vielen Fällen konnten wir nach der Musiktherapie auf eine geringere Dosis umstellen“, sagt Studienleiterin Brandes.

Über ähnliche Erfolge berichtet auch Max Moser, Leiter des Instituts für nichtinvasive Diagnostik, einer Einrichtung von Joanneum Research in Weiz. Im Rahmen eines Projekts der Allgemeinen Unfallversicherung (AUVA) wurden Bauarbeiter einem Stressabbauprogramm mithilfe von Eurhythmie unterzogen. Die dabei praktizierten Übungen sollten den gesamten Körper mit einbeziehen. So mussten die Arbeiter einander Kupferstäbe zuwerfen und fangen und zugleich bestimmte Hexameterreime rezitieren. Zuerst fielen die Stäbe häufig zu Boden, doch mit der Zeit gelang das Werfen und Fangen immer besser. „Rhythmus spart Kraft“, erklärt Moser. „Deshalb wurden in früheren Zeiten Arbeitslieder gesungen, um Schwerarbeit erträglicher zu machen. Der Blues ist so entstanden.“

Das Ergebnis war insgesamt erstaunlich. In der Bauwirtschaft rechnet man normalerweise pro Saison mit einer Arbeitsunfallrate von fünf Prozent. Nach Beginn des Eurhythmieprogramms sank die Quote auf null. Arbeiter berichteten, dass ihnen nach der Therapie verschiedene Arbeitsgänge leichter und präziser von der Hand gingen. Bei einer zweiten, vom Institut in Weiz durchgeführten Studie zeigte sich, dass sich mithilfe von Hexameter-Eurhythmie die Herzarbeit bei Herz-Kreislauf-Patienten deutlich verbessern lässt. Das „American Journal of Physiology“, das im Juni des Vorjahres über die Arbeit berichtete, überschrieb den betreffenden Artikel mit der Zeile „Homer helps your heart.“

Wolfgang Marktl, Leiter der Arbeitsgruppe Umweltphysiologie am Zentrum für Physiologie und Pathologie der Wiener Medizinuniversität sowie Präsident der Wiener Internationalen Akademie für Ganzheitsmedizin, führt Effekte wie jene, die sich beim Joanneum-Research-Projekt zeigten, auf komplexe Querverbindungen zurück, die zwischen dem somatischen und dem vegetativen Nervensystem existieren und dazu führen können, dass Außenreize sogar die Organfunktion beeinflussen. Diese und weitere Forschungsergebnisse werden Anfang Oktober des kommenden Mozart-Jahres bei einem internationalen Kongress in Baden diskutiert werden, zu dem sich auch der Amerikaner Antonio R. Damasio, einer der weltweit renommiertesten Hirnforscher, angesagt hat.

Von Robert Buchacher