Psychologie: Kinder einer anderen Welt

Die Zahl autistischer Kinder hat zugenommen

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Koni F. ist ein hübscher Bub: große dunkelbraune Augen, kräftige Statur, dichtes lockiges Haar. Er hat eine Vorliebe für Züge und strotzt vor Energie. Sein Orientierungssinn ist phänomenal: Er hat das Wiener U-Bahn-Netz im Kopf und unternimmt gern Ausflüge auf eigene Faust. Doch was bei jedem anderen Kind Anlass zu Stolz und Freude wäre, ist für Koni lebensgefährlich: Er ist Autist, und wie viele autistische Kinder hat er kaum ein Bewusstsein für Gefahren. Schon zweimal hat sich Koni unbekümmert auf Gleiskörpern niedergelassen. Nur eine Notbremsung konnte verhindern, dass er überrollt wurde. Aufgrund der heulenden Zugsirene hatte er sich bloß die Ohren zugehalten.

Früher ein seltener Einzelfall, ist die Zahl der von Autismus Betroffenen seit den siebziger Jahren rasant gestiegen – von fünf Fällen unter 10.000 auf heute etwa einen von 100. Zum einen liegt das daran, dass das Diagnosespektrum erweitert wurde: Heute umfasst es eine Gruppe von Fehlfunktionen mit einem Defizit im sozialen Austausch und stereotypen Verhaltensweisen, für die sonst keine definierte Krankheitsursache feststellbar ist. Das Phänomen heißt auch nicht mehr Autismus, sondern Autistic Spectrum Disorder (ASD). Zugleich ist das Bewusstsein für die Krankheit gewachsen, sodass mehr Kinder mit der Störung erfasst werden. Auch dass Frauen und Männer in immer höherem Alter Kinder bekommen, erhöht das Risiko von Fehlbildungen beim Nachwuchs.

Viermal mehr Buben als Mädchen sind von ASD betroffen. Dafür könnten geschlechtsgebundene Gene die Ursache sein, erklärt Erwin Petek, Professor am Institut für Humangenetik der Medizinischen Universität Graz. „Doch könnte bei Buben auch der Schwellenwert für ein negatives Zusammenspiel von genetischen Faktoren und schädlichen Umgebungseinflüssen niedriger liegen als bei Mädchen“, so Petek.

Laut einer Untersuchung von Simon Baron-Cohen, Direktor des Autismus-Forschungszentrums in Cambridge, spielt es außerdem eine Rolle, ob ein Fötus im Uterus einer zu hohen Dosis Testosteron ausgesetzt ist. Rund um die sechste Schwangerschaftswoche steigt das männliche Hormon im Fruchtwasser stark an, um die Sexualentwicklung des Fötus in Gang zu setzen. Wie Baron-Cohen zeigte, entwickelten sich die Gehirne der Buben und Mädchen, die im Mutterleib stärker mit Testosteron überschwemmt wurden, vermehrt in die logisch-analytische Richtung, welche dem männlichen Geschlecht zugeordnet ist. Übermäßige Hormonausschüttung aber führte zur Ausbildung eines „extrem männlichen Gehirns“ und zu Autismus.

Objektbezogen. Tatsächlich fällt bei Kindern mit ASD ein stark ausgeprägtes Interesse für das Verhalten und die Beschaffenheit von Materie auf. Sie sind von allem fasziniert, was sich dreht, glitzert, kreiselt, und sie versetzen sich selbst gern in Bewegung. Zugleich interpretieren sie, wie Hirnscans beweisen, sogar andere Menschen zunächst als Objekte. Das bedeutet aber keineswegs, dass Autisten keine Gefühle hätten. Die amerikanische Forscherin Karen Pierce von der University of California konnte zeigen, dass ASD-Betroffene die Bilder geliebter Menschen nicht mehr im Areal für Objekte verarbeiten, sondern im rechten Schläfenlappen – dort, wo auch sonst die Gesichtswahrnehmung stattfindet.

In Wahrheit fühlen Autisten besonders intensiv, wie die Psychologin Elvira Muchitsch weiß. „Die ASD-Betroffenen der ersten Generation, die meine Mutter Mitte der siebziger Jahre zu betreuen begann, sind bis heute unendlich anhänglich und dankbar“, so die Leiterin der Sonderpädagogischen Ambulanz mit dem Schwerpunkt Autismus in der Wiener Sobieskigasse. Nicht Gefühlskälte sei das Problem der Autisten, sondern die Art, wie sie andere Menschen wahrnähmen und daran scheiterten, deren Gefühle zu lesen. „Deshalb ist es so schwer, sie zu Gruppenwesen zu machen“, erklärt Muchitsch. Die Verschiebung der Wahrnehmung ist ein Grundphänomen des Autismus und führt dazu, dass sich die Betroffenen in einer eigenen Erlebenswelt befinden, aus der sie erst langsam und mühsam geholt werden müssen. Dabei geht es nicht allein um ihre Wahrnehmung von anderen Menschen, sondern auch darum, wie sie äußere Sinnesreize und eigene Bedürfnisse erfahren.

Autisten, die gelernt haben, ihre Eindrücke nach außen zu kommunizieren, erzählen von einer hermetischen Welt, die übervoll ist von Farben, Klängen und anderen Sinnesreizen. Ein Wasserstrahl, der über die Hand läuft, kann zu einem umfassenden Erlebnis werden; ein zufälliges Geräusch zu einem unerträglichen Schmerzreiz. Dabei können sie ihren Zustand und ihre Bedürfnisse zunächst nicht in Worte fassen. Ohne entsprechendes Training bleibt ein ASD-Kind, wenn ihm kein Getränk angeboten wird, in der ärgsten Sommerhitze durstig.

Die wichtigste Quelle „normalen“ Lernens, die Imitation, ist Autisten weitgehend verschlossen. Geschulte Betreuer pirschen sich deshalb über das Spiel an sie heran. Das beginnt bei einfachsten Handgriffen, die ihnen in Elemente zerlegt und eingeübt werden, und ist ein langwieriger Prozess, der viel Geduld erfordert.

Positive Verstärkung. Clemens, 7, steht am liebsten am Fenster und schaut hinaus, einen Gegenstand in der Hand, den er knetet und drückt. Vielleicht würde er alle Tage so verbringen, wenn seine Eltern ihn nicht konsequent fordern würden. Jetzt hat Clemens gelernt, selbstständig zu essen. Das ist eine große Freude für seinen Vater, den Mediziner Andreas Festa: „Jeder kleine Schritt unseres Kindes ist für uns ein großer Schritt.“

Bei Clemens war lange nicht klar, dass er an Autismus litt, bis sein Vater sich an Muchitsch wandte, die ihm den Verdacht bestätigte. Schließlich wurden Clemens’ Eltern auf das Verfahren „Applied Behavior Analysis“ (ABA) aufmerksam, ein ausgeklügeltes System positiver Verstärkung und individueller Abstimmung. Inzwischen hat Marianne Festa für ihren Sohn den Beruf an den Nagel gehängt. „Wir haben Glück, dass ich genug verdiene“, meint der Vater, „aber es gibt so viele Menschen, oft alleinerziehende Mütter, die fern von diesen Angeboten leben und auch nicht das Geld hätten, sie zu finanzieren.“

Auch Eva Ackerl, medizinisch-technische Fachkraft, ist zu Hause geblieben, um sich ganz ihrem Sohn Tobi, 7, widmen zu können. Tobi war nach normaler Entwicklung im Alter von drei Jahren plötzlich verstummt und auch sonst zurückgefallen. Unterstützt von ihrem Mann und unter psychologischer Anleitung, beschäftigt sich Ackerl fast rund um die Uhr mit ihrem Kind – wenn es nicht gerade in einem heilpädagogischen Kindergarten ist. Die intensive Förderung zeigt Erfolge: Tobi kann Blockbuchstaben lesen und schreiben und beginnt jetzt, sie zu Wörtern zusammenzusetzen. Und er kann sich sogar schon selbst loben: „Ich bin tüchtig – jetzt Gummibärli.“

Sowohl bei Clemens als auch bei Tobi dauerte es Jahre, bis die Diagnose Autismus feststand. Das hat damit zu tun, dass es mitunter schwierig ist, leichte Normabweichungen bei Babys und Kleinkindern einem bestimmten Störungsbild zuzuordnen. Dazu meint Katharina Biebl, Leiterin des Kindergartens und Horts in der Sobieskigasse: „Oft haben die Eltern schon sehr früh ein Gefühl, dass bei ihrem Kind etwas nicht stimmt.“ Ihr Rat an besorgte Eltern: „Den eigenen Gefühlen vertrauen und nicht resignieren, bis klar ist, was falsch läuft.“ Falls der Kinderarzt Verdacht auf Autismus hat, sollte das Kind zur endgültigen Diagnose unbedingt an ein wirklich spezialisiertes Zentrum überwiesen werden.

Für die Eltern ist die Diagnose ASD meist ein Schock, der aber auch eine Chance birgt: Jetzt können sie beginnen, gezielt nach einer Therapie zu suchen, und aufhören, sich selbst die Schuld zu geben – sowohl an der Beeinträchtigung des Kindes als auch an den verständnislosen bis bösartigen Reaktionen, mit denen die Umwelt das zuweilen tatsächlich recht befremdliche Verhalten der Kinder bedenkt. Viele betroffene Familien sind, besonders wenn es noch andere Kinder gibt, hochgradig überbeansprucht: Die Scheidungsrate liegt zwischen 80 und 90 Prozent. Fachlich kompetente Hilfe ist teuer. „Deshalb setzen wir uns ein, dass ASD im Pflegegeldgutachten inkludiert wird“, sagt Ruth Renée Kurz vom Dachverband Österreichische Autistenhilfe.

Rabenmütter. Galten früher die Mütter als Verursacherinnen der Störung – „Rabenmüttersyndrom“ war eine gängige Bezeichnung –, so ist heute klar, dass es sich um Vererbung handelt. Das beweisen groß angelegte Studien an Zwillingen und Geschwistern. „Bei eineiigen Zwillingen gibt es eine sechzigprozentige Wahrscheinlichkeit, dass beide autistisch sind, und eine Wahrscheinlichkeit von 92 Prozent, dass beide eine autismusähnliche Störung haben“, erklärt Humangenetiker Petek. Bei zweieiigen Zwillingen indes, die im selben Haushalt aufwachsen, liege dieses Risiko bei nur zehn Prozent, wodurch sich der Beitrag der Erziehung zumeist als nicht signifikant erweise.

Autismus gilt heute als Folge des Zusammenwirkens von bis zu 20 Genen und in nur geringerem Maß von Umwelteinflüssen. Am Krebsforschungszentrum im deutschen Heidelberg läuft ein Projekt, in dessen Rahmen unter anderem Blutproben von Eltern und Kindern molekulargenetisch analysiert werden. Wie Projektbetreuerin Sabine Klauck berichtet, wurden bereits verdächtige Gene identifiziert. Solche Regionen befinden sich auf den langen Armen der Chromosomen 2 und 7 sowie auf den Chromosomen 11 und 15. Dass das Syndrom bei einem Familienmitglied entsteht und bei einem anderen nicht, dürfte auch eine Folge der so genannten „copy number variations“ sein, komplexer Strukturen, die dafür sorgen, dass das menschliche Genom plastisch bleibt, die aber zugleich störungsanfällig sind. Das Projekt ist Ergebnis der Zusammenarbeit von Fritz und Annemarie Poustka, eines österreichischen Forscherpaars, das in Deutschland auf dem Gebiet des Autismus als federführend gilt (siehe obenstehendes Interview).

Die genetische Veranlagung lässt das autistische Gehirn meist schon in einem frühen Stadium der Embryonalentwicklung einen eigenen Weg einschlagen. „Es gibt Hinweise, dass das Syndrom mit der Synapsenbildung in bestimmten Hirnregionen zu tun hat“, so Klauck. „Bei Autisten lassen sich in manchen Arealen mehr und in anderen weniger Verschaltungen zwischen Synapsen und Neuronen finden.“ Dies treffe vor allem auf den Hippocampus zu, jenen Teil des limbischen Systems, in dem emotionale und soziale Eindrücke für das Gedächtnis vorverarbeitet werden. An Gehirnen von Autisten fällt zunächst auf, dass sie ein wenig größer sind als solche gesunder Personen. Als vermutliches Resultat der teilweisen Überverschaltung weisen sie bedeutend mehr weiße und graue Hirnmasse auf.

Als möglicher Auslöser einer autistischen Störung beim schon geborenen Kind geriet Ende der neunziger Jahre der quecksilberhaltige Impfstoffzusatz Thimerosal unter Verdacht, der als Konservierungsmittel beigegeben wurde. Trotz Studien, die den Zusatzstoff entlasteten, zog heuer im Juni in den USA eine Familie stellvertretend für fast 5000 Familien mit ASD-Kindern vor Gericht, um ausjudizieren zu lassen, ob ein Zusammenhang zwischen Impfung und Krankheitsausbruch besteht. Die Impfschadendebatte und das Engagement prominenter ASD-Eltern wie Sylvester Stallone ließen in den USA Initiativen entstehen, die nun Geldmittel für die Autismusforschung mobilisieren. Auch das breite Bevölkerungsscreening funktioniert dort schon sehr gut.

Dunkelziffer. Im Gegensatz dazu haben sich hierzulande noch nicht einmal die Anzeichen von ASD bei allen mit Kindern befassten Ärzten, Psychologen und Pädagogen herumgesprochen. Das zeigt die hohe Dunkelziffer: Allein in der Steiermark gibt es nach Schätzung des Hilfsvereins Libelle etwa 8000 Menschen mit unerkanntem ASD, die mangels spezifischer Förderung ein Leben weit unter der erreichbaren Qualität führen. Dabei ist in Graz auf Betreiben von Oberarzt Wolfgang Kaschnitz von der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendheilkunde ein Diagnostik- und Therapiezentrum entstanden, in dem Eltern umfassende Beratung erhalten. „Das hat immerhin dazu geführt, dass wir heute eine viel geringere Anzahl an älteren Verdachtsfällen zu sehen bekommen als noch vor zehn Jahren“, sagt Kaschnitz.

Je früher ein Verdacht abgeklärt wird, desto besser ist es naturgemäß, denn, so Martha Feucht, Spezialistin für Entwicklungsstörungen und Professorin an der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendheilkunde Wien, „es gibt bei ASD eine enorme Fördermöglichkeit, wenn rechtzeitig damit begonnen wird“. Dazu gehört auch eine signifikante Verbesserung der Intelligenzleistung. Allerdings sind die qualifizierten öffentlichen Zentren noch immer so dünn gesät, dass Eltern oft jahrelang auf einen Platz für ihr Kind warten müssen. Überdies, meint Feucht, fehle es an Erwachsenenpsychiatern, die kompetent in der Begleitung von Menschen mit autistischen Störungen sind.

Christine Karasangabo, 15, aus Leoben befindet sich gerade an einem kritischen Punkt ihres Lebens. Bis jetzt hat sie sich dank des Einsatzes von Familie, Therapeuten und Lehrern sehr gut entwickelt. Noch besucht die Tochter eines Metallurgie-Ingenieurs eine Integrationshauptschule, aber die Zukunft danach ist ungewiss. Christines Vater hofft, dass sich eine Lösung finden lässt, „die mehr ist als bloße Beschäftigungstherapie. Für autistische Menschen ist Leerlauf destruktiv. Sie brauchen ständige Begleitung und Förderung, sonst fallen sie schnell zurück.“ Christines Betreuerin vom Verein Libelle, die Pädagogin Marina Lagger, meint, dass eine Tagesstätte, „vergleichbar mit der Wiener Arche Noah, wo Autisten spezifisch betreut und gefördert werden“, für Christines Bedürfnisse ideal wäre. Und so haben sich Eltern in der Steiermark nun zusammengeschlossen, um ein Konzept für eine vergleichbare Tagesstätte in ihrem Raum auszuarbeiten. Ob es realisiert werden kann, wird von der politischen Unterstützung abhängen.

Für mehr Hilfestellung und Koordination kämpft auch Ruth Renée Kurz, Vizepräsidentin und treibende Kraft der Österreichischen Autistenhilfe sowie selbst Mutter eines 16-jährigen Sohnes mit autistischer Wahrnehmung. Bis jetzt konnte sie durchsetzen, dass grundlegende diagnostische Fragen zur Abklärung von Autismus in den Mutter-Kind-Pass aufgenommen wurden. Derzeit setzt sie sich für möglichst weitgehende Integration der betroffenen Kinder in den Bereichen Kindergarten, Schule und Freizeit ein, da für sie ein unbeschwertes Umfeld Gleichaltriger enorm förderlich sein kann. Entsprechende Erfahrungswerte gibt es aus dem Wiener Integrativen Schulmodell für autistische Kinder, das seit elf Jahren besteht. Als Fernziel hat sich die Autistenhilfe die Integration von ASD-Betroffenen am ersten Arbeitsmarkt gesteckt. „Jeder von ihnen hat eine besondere Fähigkeit, die es zu fördern und zu nützen gilt“, sagt Kurz. Insbesondere die Genauigkeit und Verlässlichkeit von ASD-Betroffenen ließen sich sinnvoll einsetzen.

Die Früchte optimaler Förderung zeigen sich bei der zwölfjährigen Sandra K. Aufgrund eines hochgradigen frühkindlichen Autismus konnte Sandra als Fünfjährige noch nicht sprechen. Die ganze erste Volksschulklasse hindurch ließ Sandras Mutter die Kleine von einer Therapeutin begleiten, die ihr jedes Detail verständlich machte. Das kostete die Alleinerzieherin 7000 Schilling (509 Euro) im Monat. Heute ist Sandra ein entzückendes Mädchen mit Empathiefähigkeit und erfüllt von Neugier auf ihr Gegenüber. Im Gespräch errät sie Dinge, die normalerweise nicht zu erraten sind – und wirkt ein wenig, als wüsste sie mehr als die anderen.

Von Johanna Awad-Geissler