Psychologie: Seelische Narben

Wie das menschliche Gehirn Traumata bewältigt

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Zweimal hat die Welle schon zugeschlagen. Gerhard und Judith Kero haben sie inmitten einer Gruppe von Einheimischen und Touristen mit unglaublichem Glück überstanden. Auch die drei Kinder der Niederösterreicher haben überlebt, obwohl die Plattform, auf die sie sich geflüchtet hatten, zur Hälfte weggerissen wurde.

Dann laufen sie um ihr Leben: über Gebäudetrümmer, Kakteenhalden und durch Schlammlöcher, auf der Suche nach einem sicheren Ort. Als sie durch eine Lagune schwimmen, werden die neunjährigen Zwillinge Dana und Nadja von der Strömung mitgerissen. Gerhard, längst am Rande der Erschöpfung, kann sie gerade noch retten. Sie erreichen das Ufer, hetzen einen Hang hinauf und klettern auf Bäume. Dann kommt die dritte Tsunami-Welle.

„Autonome Reserve“ nennt die Medizin jene letzten Kraftressourcen, die auch trainierte Athleten nicht willkürlich aufbringen können und die nur in Momenten akuter Lebensgefahr aktiviert werden. In Extremsituationen pusht ein Hormonfeuerwerk den Organismus zu Höchstleistungen. Aus den Extremitäten wird Blut abgezogen, die Füße werden kalt – der Mensch reagiert im Wortsinn „kaltblütig“. Das Stresshormon Cortisol stimuliert Leber und Muskeln, worauf die Zuckerreserven mobilisiert werden. Der Körper entwickelt buchstäblich übermenschliche Kräfte.

Auch das Gehirn reagiert auf die Ausnahmesituation und stellt seine Arbeitsweise um. Die „Verdrahtung“ zwischen dem limbischen System – der Gefühlsebene – und dem rationalen Großhirn wird gekappt. Die bedrohlichen Eindrücke werden nun unreflektiert und unselektiert aufgenommen. Verstandesentscheidungen sind in solchen Situationen kaum möglich. Dafür reagiert der Mensch extrem schnell.

Allerdings handelt er nicht immer vernünftig: „Einige Leute schrien, wir sollten in der Lagune bleiben, weil wir nur im Wasser sicher wären“, erinnert sich Gerhard Kero. „Es hat Minuten gedauert, bis wir draufkamen, dass das völliger Blödsinn ist.“ Retrospektiv wundert er sich auch über die Wahl des ersten Zufluchtsortes: Denn unmittelbar neben der Plattform, auf welche sich die Familie gerettet hatte, stand ein stabiler und deutlich höherer Betonbunker. Doch den hatten sie nicht einmal in Betracht gezogen.

Derartige Reaktionen sind in Katastrophenfällen häufig: die Frau, die während eines gewaltigen Murenabgangs im schweizerischen Gondo am 17. Oktober 2000 mit bloßen Händen versucht, nach ihren Habseligkeiten zu graben; der schwer verbrannte Mann beim Flugzeugabsturz in Ramstein im August 1988, der zum Unglücksort zurückläuft, statt sich in Sicherheit zu bringen.

Höchste Bedrohung. Die psychischen Folgen katastrophaler Ereignisse werden nun nach dem verheerenden Beben in Südostasien wieder debattiert, und stets ist von Traumatisierung die Rede. Das Österreichische Netzwerk für Traumatherapie definiert ein Psychotrauma als „Erlebnis höchster Bedrohung“ bei gleichzeitiger Unmöglichkeit, darauf mit den üblichen Verhaltensmustern „Kampf oder Flucht“ zu reagieren. Zudem werden Monotraumata durch Einzelereignisse, Mehrfachtraumatisierungen durch langfristige Einflüsse wie Kriege, Traumata durch Naturkatastrophen und solche durch „Man-made Desasters“ unterschieden.

Die Reaktionen im Gehirn verlaufen dabei in mehreren Phasen. Ist die akute Gefahr überstanden, schaltet das Gehirn auf einen anderen Modus: Statt mit Gefühl, aber ohne Ratio, arbeitet es nun mit Verstand – aber oft ohne erkennbares Gefühl. Das erklärt, warum Väter Tage nach der Flut auf der Suche nach einem vermissten Kind mit unbewegter Miene durch Leichenhallen gehen und viele der Heimgebrachten lächelnd aus dem Flugzeug steigen. „Ein Schutzmechanismus der Seele“, erklärt der auf Angststörungen spezialisierte Linzer Psychologe Hans Morschitzky. „Man funktioniert wie ein Uhrwerk. Die Gefühle bleiben abgespalten, sodass man alles locker wegsteckt am Anfang.“

Erst nach und nach wird die Verbindung zwischen Gefühl und Verstand wieder hergestellt, kommen unverarbeitete Bilder, Gerüche, Gefühle hoch. Bei der Familie Kero ist zurzeit von Normalität keine Rede. „Wir haben uns zu Hause eingeigelt“, erzählt Judith Kero. An Durchschlafen ist nicht zu denken: Immer wieder tauchen Bilder des Erlebten vor dem inneren Auge auf. Judith verspürt ständige Unruhe, ihr Mann hat jedes Gefühl für Hunger verloren. Beim Autofahren gerät vor lauter Reden das Ziel in Vergessenheit.

Freilich sind diese Reaktionen Teil eines natürlichen Reinigungs- und Verarbeitungsprozesses, der meist nach wenigen Wochen bewältigt ist. „Der Mensch verfügt über gut eingespielte Mechanismen, um über solche Erlebnisse hinwegzukommen“, erklärt Wolfgang Fleischhacker, Psychiater an der Uniklinik Innsbruck. Immer wieder tauchen Bilder auf, werden jedoch weggeschoben – bis zur nächsten inneren Konfrontation. Im Idealfall werden die Eindrücke allmählich verarbeitet und in die Persönlichkeit integriert. So hat der zwölfjährige Kai Kero schon jetzt intuitiv seinen Weg gefunden, mit dem Erlebten umzugehen: indem er von der Familie einen Besuch im Wellenbad forderte, „weil das ein gezähmtes Wasser ist“.

Selbsthilfe. Rund die Hälfte bis zwei Drittel aller Katastrophenopfer schaffen diesen Prozess erfahrungsgemäß ohne professionelle Unterstützung. „Hilfreich wirken dabei unter anderem ein höherer Sozialstatus, ein starker Glaube und Geborgenheit in der Familie“, so Psychologe Morschitzky.

Eine sofortige, organisierte Bearbeitung von Schockerlebnissen – wie etwa in New York, wo Augenzeugen, Helfer und Hinterbliebene des Anschlags vom 11. September 2001 zu Dutzenden in Sälen versammelt wurden – gilt unter Fachleuten heute als höchst umstritten. Werden Menschen quasi genötigt, sich allzu früh dem Erlebten zu stellen, kann das sogar kontraproduktiv sein und erst recht eine Traumatisierung zur Folge haben. „Manche wollen zwar von Anfang an über das Erlebte reden“, weiß Rudolf Morawetz vom Notfallpsychologischen Dienst Österreich. „Bei vielen genügt es aber, erst einmal zur Ruhe zu kommen und sich im Alltag möglichst ungestört wieder einleben zu können.“

So konnten nach dem Unglück von Galtür, wo im Februar 1999 eine Lawine 31 Menschen tötete, die herbeigeeilten Psychologen nach kurzer Zeit wieder abziehen. „Jeder, der stirbt, wird bei uns zwei Nächte lang im Haus aufgebahrt“, beschreibt der pensionierte Gemeindearzt Walter Köck den im abgeschiedenen Alpendorf immer schon üblichen und offenbar hilfreichen Umgang mit seelisch belastenden Ereignissen. „Und aus jedem Haus kommt mindestens einer, um sich persönlich zu verabschieden.“

Roland Squaratti war dieser letzte Gruß verwehrt. Der Gemeindepräsident des Schweizer Ortes Gondo hatte tatenlos zusehen müssen, wie seine beiden Geschwister von einer gewaltigen Hangmure im Oktober 2000 verschüttet wurden. „Mich quälten Schlaflosigkeit und auch das schlechte Gewissen, weil ich überlebt hatte und meine Brüder nicht“, berichtet Squaratti. Er kann nachvollziehen, was all jene durchmachen müssen, die jetzt in Südostasien Angehörige und Freunde verloren haben, diese aber nicht einmal bestatten können, weil sie entweder in Massengräbern verscharrt oder in der Tiefe des Ozeans versunken sind. „Der Trauerprozess dauert in solchen Fällen immer länger“, weiß Gerhard Lenz, Psychiater am AKH Wien. „Was fehlt, ist das symbolische Abschiednehmen beim Begräbnis.“

Abschied. Squaratti hat es schließlich geschafft, mit den traumatischen Erlebnissen fertig zu werden: „Ich habe letztlich akzeptiert, dass meine Brüder irgendwo ein Grab gefunden haben. Hier am Friedhof haben wir ihnen ein Denkmal gesetzt.“

Doch nicht alle Betroffenen bewältigen das seelische Dilemma allein. Je schlimmer das Erlebte und je schwächer die psychische Konstitution, desto größer ist die Gefahr, dass das Gehirn nach der – zunächst sinnvollen – Trennung von Gefühls- und Verstandesebene nicht mehr zur Zusammenarbeit beider Ebenen findet. Als Folge dieser dauerhaften Umverdrahtung kommt es im Gehirn sogar zu physiologischen Veränderungen: Bei schwer Traumatisierten ist der Hippocampus, der eine zentrale Rolle bei der Verarbeitung von Erinnerungen spielt, nachweisbar kleiner als bei Gesunden. Einige Verbindungen zu anderen Hirnteilen sind teils unumkehrbar unterbrochen.

Das Erlebte bleibt so völlig weggeschoben – bis es in Form von psychischen oder körperlichen Symptomen an die Oberfläche drängt. Die Palette dieser Folgen reicht von dauerhaften Schlafstörungen, emotionalem Rückzug und Gefühlsabstumpfung bis zu schweren Depressionen. So leiden, wie eine Langzeitstudie zeigte, Sanitäter und Feuerwehrleute, die nach dem Attentat auf das World Trade Center zum Einsatz kamen, viermal häufiger unter Depressionen. Besonders betroffen waren Jüngere ohne Partner. Vier von zehn Einsatzkräften litten mehr als ein Jahr nach dem Unglück noch an Stressstörungen.

Bei Analysen von Naturkatastrophen zeigten sich ähnliche Resultate. Ein Jahr nachdem der Hurricane Mitch im Jahr 1998 Nicaragua verwüstet hatte, wurden im Rahmen einer Studie die am schwersten Betroffenen untersucht. 40 Prozent dieser Menschen hatten einen Angehörigen verloren, zwei Drittel ihr Haus eingebüßt. Beinahe jedes zehnte dieser Katastrophenopfer berichtete, an Selbstmord gedacht zu haben, darunter überproportional viele Frauen und Analphabeten.

Der Beforschung von Spätfolgen widmete sich die Medizin erst nach dem Vietnamkrieg, aus dem tausende junge Soldaten als gebrochene Männer zurückkehrten. 1980 wurden die Spätfolgen traumatischer Erlebnisse als eigene Krankheit anerkannt: als Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS).

Bei davon Betroffenen kommen die verdrängten Bilder oft erst nach Jahren oder Jahrzehnten – spontan oder durch so genannte Trigger ausgelöst – schlagartig ins Bewusstsein zurück. Bei manchen lösen die Flashbacks Panikattacken aus. In Extremfällen rettet sich die Seele in eine Persönlichkeitsspaltung.

Dauerfolgen. Bei wirklich großen Ereignissen können die Langzeitschäden sogar quer durch die Bevölkerung spürbar werden. „Sehr deutlich sieht man das bei der Weltkriegsgeneration, wo jetzt noch in den Altenheimen die Spätfolgen der unverarbeiteten Eindrücke zum Ausbruch kommen“, sagt Brigitte Lueger-Schuster, Trauma-Expertin an der Universität Wien. „Die Menschen waren mit dem Wiederaufbau beschäftigt, und darüber haben sie ihre psychischen Wunden verdrängt.“

Um Ähnliches bei den Flutopfern zu vermeiden, fordert David Vyssoki, ärztlicher Leiter des ESRA-Zentrums für Holocaust-Opfer, im Bedarfsfall kostenlose psychotherapeutische Hilfe für jene, die dem Drama lebend entkommen sind. „Wer sich nach ein paar Wochen noch immer sehr schlecht fühlt, sollte professionelle Hilfe suchen“, so Vyssoki. „Niemand muss ein Held sein und das Ungeheuerliche allein ertragen.“