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Psychologie: Sorgenkinder Buben

Sorgenkinder Buben

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Bis zu dem Tag, an dem er in die Mittelschule eintrat, glaubte Admir, Frauen hätten auf der Welt das Sagen. „Früher habe ich gedacht, es gibt nur Lehrerinnen“, verzieht der 14-Jährige das Gesicht. „Erst hier auf der Sportschule habe ich zum ersten Mal einen Lehrer gehabt.“

Auch zu Hause war das Leben des Buben fest in weiblicher Hand: „Mein Vater lebt in Deutschland. Ich weiß nicht genau, was er dort macht“, sagt Admir betont lässig. „Aber ich glaube, er arbeitet auf einem Schiff.“ Zweimal im Monat besuche ihn der Vater; meistens spielen sie Fußball. Ob das ein besonderes Ereignis für Admir ist? „Na ja, Party lasse ich keine steigen, wenn er kommt.“

Admirs Geschichte steht mittlerweile prototypisch für viele Buben unserer Zeit – vor allem im urbanen Raum: Immer mehr Kinder werden in ihren ersten zehn bis zwölf Lebensjahren überwiegend von Frauen erzogen. Das unmittelbare Umfeld besteht aus allein erziehender Mutter, Hortbetreuerin, Kindergartentante oder Lehrerin, was bei vielen Burschen zu einer Orientierungslosigkeit führt. Im schlimmsten Fall reagieren sie mit Verhaltensauffälligkeit, etwa erhöhter Gewaltbereitschaft oder Hyperaktivität. Viel häufiger aber macht sich ein Leistungsabfall bemerkbar: Bei der zuletzt durchgeführten PISA-Studie schnitten die Buben deutlich schlechter ab als die Mädchen. In allen 32 Teilnehmerstaaten war der Vorsprung der Mädchen beim Lesen im Durchschnitt dreimal so groß wie jener der Buben in Mathematik. Die Freude am Lesen gilt jedoch an fast allen Schulen als einer der Hauptindikatoren für gute Noten. Die Folge: Jungen stellen in Deutschland 56 Prozent der Haupt- und 64 Prozent der Sonderschüler dar. In Österreich liegen die Zahlen ähnlich: Der Bubenanteil im Hauptschulbereich beträgt 52,6 Prozent, an den Sonderschulen 63,9 Prozent.

„Jungs – werden sie die Sorgenkinder unserer Gesellschaft?“, titelte das Wissenschaftsmagazin „Geo“ vor einem Jahr angesichts der wachsenden Gewaltbereitschaft und der schwachen schulischen Leistungen unter männlichen Jugendlichen. Sogar die Zeitschrift „Business Week“, üblicherweise in den Bereichen Finanz und Börse beheimatet, widmete dem brisanten Thema im Mai 2003 eine Coverstory: „Der neue Gender Gap – Warum Jungen im Bildungssektor hinter den Mädchen zurückfallen und was das für die Wirtschaft, die Geschäftswelt und die Gesellschaft bedeutet“.

Diese Entwicklung lediglich auf die ansteigenden Scheidungsraten (derzeit 44,4 Prozent in Österreich) zurückzuführen wäre zu einfach. Relevant in diesem Zusammenhang ist eher, dass etwa „75 Prozent der Kinder innerhalb der ersten drei Jahre nach der Trennung ihre Väter nicht mehr regelmäßig sehen“, sagt der Kinder- und Jugendpsychologe Helmut Figdor, der mehrere Langzeitstudien zum Thema leitete. Er kenne aber auch Untersuchungen, „denen zufolge bis zu 50 Prozent der Kinder den Kontakt zum Vater gänzlich verlieren“. Die Ursachen für das Verschwinden der Väter sind vielfältig. Für manche Männer rückt mit der gescheiterten Beziehung auch das gemeinsame Kind in den Hintergrund. Manche Väter werden nach der Trennung knallhart „entsorgt“, wie „Spiegel“-Autor Matthias Matussek in seiner Buch-Polemik „Die vaterlose Gesellschaft“ (1998) gegen „die feministische Muttermacht“ wetterte, und dürfen „als abgeliebter Beziehungs-Restmüll allenfalls alimentieren“. Bei anderen verschlingt das berufliche Engagement mittlerweile so viel Zeit, dass für das Emotionale kein Raum mehr bleibt.

Orientierungslos im Leistungstief. In traditionellen Familienverbänden konnten diese Scheidungswaisen auf Großväter oder Onkel zurückgreifen, um ihr „Bedürfnis nach Männlichkeit“ zu stillen. Der Zerfall dieser Strukturen hat allerdings dazu geführt, dass die Burschen häufig lange warten müssen, bis ein Mann als Autoritätsperson in ihr Leben tritt. Im von Frauen dominierten Kindergarten ist das unwahrscheinlich, ebenso wie in der Volksschule, wo 87 Prozent des Lehrpersonals weiblich sind. Erst im Gymnasium oder in der Hauptschule, wo der Lehrerinnenanteil bei 58 beziehungsweise 65 Prozent liegt, gehören männliche Bezugspersonen zur Normalität.

Problematisch dabei: Entwicklungspsychologisch beginnt der junge Mensch deutlich vor dem Eintritt ins Gymnasium oder in die Hauptschule, sich mit seiner geschlechtlichen Identität auseinander zu setzen. „Spätestens ab dem vierten Lebensjahr stellen sich Kinder die Frage: Was bin ich eigentlich? Das Mädchen bekommt ununterbrochen vorgelebt, was Weiblichkeit bedeutet, dem Buben aber gehen Modelle für Männlichkeit in unmittelbarer Nähe verloren, also sucht er seine Idee in der Entgegensetzung. Somit wird Männlichkeit für ihn zu einer Negation des Weiblichen“, analysiert der Psychologe Helmut Figdor. In den Schulalltag übersetzt, bedeutet dies: Wenn Lernen und Ehrgeiz Teil der „weiblichen“ Welt sind, dann muss „männlich“ auf jeden Fall etwas anderes bedeuten – nämlich desinteressiert, laut und nachlässig sein. Jüngst publizierte Zahlen über den heimischen Bildungsstand untermauern diese These: Laut Statistik Austria verfügen bei den 25- bis 29-jährigen Frauen 34 Prozent über eine Matura, 12,5 Prozent haben sogar eine „Uni, Fachhochschule oder hochschulverwandte Einrichtung“ abgeschlossen. Der Vergleichswert bei gleichaltrigen Männern liegt mit 29 Prozent (Matura) und 8,4 Prozent (Studium) deutlich darunter.

Gabi Stampler von den Österreichischen Kinderfreunden sieht einen der Hauptgründe für dieses Leistungsgefälle in der Tatsache, dass „der Unterricht in den vergangenen zehn, fünfzehn Jahren sicher stärker auf Mädchenförderung ausgerichtet war als auf jene der Buben“. Mädchen wurden dazu ermutigt, sich zu melden, zu sprechen, öffentlich aufzutreten, politische und ökonomische Verantwortung einzufordern. Bei den Buben aber ging man davon aus, dass sie ohnedies stark und selbstbewusst genug seien, um ihre Position zu behaupten. „Mädchen haben sich immens verändert, aber die Welt der Buben ist nicht weiter geworden, denn ihre Defizite sind unberührt geblieben“, beobachtet die Sozialwissenschafterin Edith Schlaffer.

Bubenarbeit an Schulen. Kein Wunder also, dass sich Buben wie der eingangs zitierte Admir in der Klasse hin und wieder benachteiligt fühlen. Auch sein Freund Marius ist überzeugt davon, dass „Buben automatisch schlechtere Noten bekommen“. Sogar an Schulen, an denen Geschlechterarbeit im Stundenplan integriert ist, wie am Wiener Gymnasium Rahlgasse, ist diesbezügliches Unbehagen zu vernehmen. Der 15-jährige Clemens etwa glaubt: „Wo Buben einen Dreier haben, bekommen Mädchen einen Einser. Vor allem Lehrerinnen bevorzugen die Mädchen bei der Notenvergabe. Selbst Mädchen finden das manchmal ungerecht.“ Der Lehrer von Marius und Clemens, Roman Jobstmann, leugnet diese Problematik nicht: „Es kann vorkommen, dass man sich als Lehrer dabei ertappt, Schüler nach Auffälligkeiten vorschnell zu beurteilen. Aber gerade an dieser Schule wird sehr viel getan, um diese Negativbilder aufzulösen.“

Tatsächlich führte Rahlgasse-Leiterin Heidi Schrodt 1995 als eine der ersten Schuldirektorinnen Österreichs an ihrem Gymnasium Bubenarbeit ein. „Der Ausgangspunkt war die Beschäftigung mit den Mädchen, dadurch haben die Buben angefangen, mehr zu stören. Wobei die Lösung nicht hieß: Mehr Männer an die Schule.“

Klassische Bubenarbeit sieht zum Beispiel vor, dass Werken und Computerunterricht teils gemeinsam, aber auch getrennt durchgeführt werden, weil die Interessengebiete der Buben und jene der Mädchen manchmal stark auseinander driften. Darüber hinaus gibt es Sonderprojekte, bei denen Buben zum Beispiel einen Tag lang gemeinsam kochen, während die Mädchen beim ÖAMTC lernen, Autoreifen zu wechseln. „Generell soll eine kontinuierliche Bewusstseinsarbeit im Schulalltag stattfinden, und die Buben sollen auch die Möglichkeit haben, sich anders zu definieren“, skizziert Direktorin Schrodt das Ziel: „Das Wichtige bei dieser Arbeit ist der Perspektivenwechsel.“

Begleitet wird diese Sensibilisierungs-Aufgabe von den Bemühungen, Konflikte nicht mehr als geschlechtsneutral zu betrachten. „In kleinen Gesprächsrunden diskutieren Buben und Mädchen getrennt über ihre Anliegen“, erzählt der Lehrer Roman Jobstmann. Allerdings werden die im Rahmen der Geschlechterarbeit angebotenen „Gefühls-Module“ von Buben nicht so leicht angenommen, denn „Gequatsche“ ist bei Jungs nicht sonderlich gefragt. „Die Welt von Buben ist von einem Aktivitätsdrang geprägt“, erläutert Kinderpsychologe Figdor.

Eine typische Szene männlicher „Aussprache“ zeichnet der international renommierte Männerforscher und Psychologe William F. Pollack in seiner 1998 publizierten Studie „Richtige Jungen“: „Ein intelligenter, frecher 13-Jähriger verwickelt sich in eine schwierige Debatte mit seinem Vater. Bevor für diesen Jungen die Hölle losbricht, packt ihn sein Vater und sagt: ,Lass uns hinausgehen und ein paar Körbe (Basketball, Anm.) werfen.‘“ Beziehungen, so Pollack, entstünden bei Buben oft weniger durch Reden als durch die gemeinsame Aktion. Fehle diese, suchten sich die Knaben ihre Partner in Kunstwelten: meistens in Computerspielen wie „Sands of Time“, in dem der „Prince of Persia“ die Zeit zurückdrehen kann, wenn er etwas falsch macht. Oder in Idolen wie dem Hollywood-Schauspieler Bruce Willis oder dem Rap-Star Eminem, deren Trademark ostentativ zelebriertes männliches Selbstbewusstsein ist.

Die Bewunderung solcher Kultfiguren erweist sich vor allem für die weitere Entwicklung der Buben als problematisch. „Denn in der wirklichen Welt gibt es diese Art von Helden nicht. Sie gehen nicht in die Schule, machen keine Hausaufgaben und müssen nie zu Bett“, gibt Helmut Figdor zu bedenken.

Die Stigmatisierung der Abenteurer. Auch wenn erwachsene Frauen in der Berufswelt nach wie vor benachteiligt werden, so hat ihnen der Feminismus doch auf einem Terrain den Sieg beschert: Frauen haben die Macht über das soziale Wertesystem gewonnen. Spielen und strafen, loben und lernen, pflegen oder das Pflichtbewusstsein schärfen – das Leben heutiger junger Männer wird fest von weiblichem Willen dirigiert. Ein Junge wie Mark Twains Kinderbuchheld Tom Sawyer, der Katzen sekkiert und Beschwörungsrituale auf dem örtlichen Friedhof unternimmt, würde heute als „verhaltensauffällig“ gelten und einem Psychologen überantwortet. Auch der vergleichsweise brave Abenteurer Harry Potter, der seiner Tante Streiche spielt und nächtens durch die Wälder zieht, stünde in der realen Welt eher im Abseits.

Die Abwertung all dessen, was an Jungen auffällt, lässt sich sogar statistisch belegen: In einer Studie der deutschen Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung gaben die 64 nach typischen Buben-Eigenschaften befragten Pädagogen, Sozialarbeiter und Therapeuten fast nur negative Attribute an: Jungs seien Machos, Hahnenkämpfer, aggressiv, eitel, laut und egozentrisch.

„ADHS“ – ein Gesellschafts-Syndrom. Selbst Frauen, die sich sehr ernsthaft mit der pädagogischen Kernfrage „Wie kann ich meinem Jungen die Liebe und Aufmerksamkeit schenken, nach der er sich sehnt, und ihn dennoch auf die harte männliche Kultur vorbereiten?“ (William F. Pollack) auseinander setzen, tun sich oft schwer, dieses kämpferische Moment von echter Aggression zu unterscheiden. So mutiert der Knabe, der eigentlich nur seinem natürlichen Drang nach Bewegung, Kräftemessen und Rivalisieren nachgehen wollte, zum „schlimmen“ Buben.

Manche Psychologen meinen, vor allem die Summe ihrer stigmatisierten und daher schwer auszulebenden Eigenschaften brächte die Buben innerlich zum Brodeln. Daher seien sie oft unruhig, unkonzentriert und aufbrausend. Andere behaupten, die Hektik des modernen Kinderalltags lasse die Zahl der so genannten „hyperaktiven“ Kinder ansteigen. Eine dritte Denkschule hält ärztlich diagnostizierte Hyperaktivität (ADHS-Syndrom) schlicht für genetisch bedingt.

Allein die Tatsache, dass es sich bei dem Hektik-Syndrom um eine „Bubenkrankheit“ handelt (diese sind viermal so oft betroffen wie Mädchen), stimmt den Psychologen Helmut Figdor nachdenklich: „Für mich handelt es sich hier um Kinder, die vor lauter unterdrückten Problemen zerplatzen.“ Die Schuld an den Verdrängungsmechanismen weist Figdor vor allem der alternativen Pädagogik zu, deren Maxime lautet: Man schimpft nicht, man streitet nicht. „Hier versucht man, den Kindern etwas aufzuzwingen, zu dem nicht einmal die Erwachsenen fähig sind.“

Geschlechterdemokratie statt -dämonisierung. Mit seiner Kritik am realitätsfernen Faserschmeichlerkurs steht Figdor nicht allein. Denn die neuesten Lösungsvorschläge der Experten tendieren zu harmonischem Pragmatismus: „Erst wenn ein tieferes Gefühl für die Gleichwertigkeit beider Geschlechter im Bewusstsein der Öffentlichkeit und in den gesellschaftlichen Institutionen breit verankert ist, lässt sich die Polarität der Geschlechter zugunsten wechselseitiger Anerkennung und Fürsorge auflösen“, schreibt der Berliner Jugendpsychiater Horst Petri in einem Dossier zum Thema „Das Drama der Vaterentbehrung“.

Dass solche Forderungen nicht Utopie sind, beweisen die skandinavischen Länder, die bereits Mitte der achtziger Jahre Fachkommissionen oder Ideengruppen für „Fragen der Männerrolle“ in ihren Gleichstellungsministerien einsetzten. In Norwegen führten diese Maßnahmen dazu, dass der Anteil der Väter, die Erziehungsurlaub nahmen, auf 70 Prozent anstieg. „Gäbe es bei uns vergleichbare Regelungen“, mutmaßt der österreichische Männerforscher Erich Lehner, „hätten wir eine andere gesellschaftliche Situation. Jeder Chef wüsste: Auch der Mann wird hin und wieder fehlen, wenn er ein Kind hat.“

Laut Statistik Austria nützen derzeit lediglich zwei Prozent der österreichischen Väter die Möglichkeit, in Karenz zu gehen. Hauptgründe für das müde Engagement sind, wie eine Studie von Lehner bestätigt, „Einkommensverlust“ und die Angst, „den Anschluss im Beruf zu verlieren“. Die Frage der Zukunft, so der österreichische Pastoraltheologe und Männerforscher Paul Zulehner, werde deshalb „nicht mehr lauten, wie sich Frauen und Männer verändern können, sondern wie sie als Freunde in einen kreativen Dialog treten können“.

Die Geschichte des 28-jährigen Bernd Aichberger gibt Hoffnung auf eine Besserung der Verhältnisse – zumindest, was die jüngere Generation betrifft: „Nach dem Scheitern unserer Beziehung ist meine Frau mit unserem Sohn von Oberösterreich nach Wien gezogen. Also habe ich mir ebenfalls eine Wohnung gesucht, weil ich schnell gemerkt habe, dass ich weiterhin mit Aaron zusammen sein will“, erzählt Aichberger. Seinen Job in Wels hat der Mediendesigner behalten: „Ich pendle jede Woche: drei Tage Arbeit, vier Tage kümmere ich mich um Aaron.“ Und mit Kümmern meint Aichberger nicht nur, dass man gemeinsam Fußball spielen geht. „Ich koche für ihn, mache mit ihm Hausaufgaben, lege ihn ins Bett.“ Aichberger hält seine Einstellung nicht für atypisch, sondern für selbstverständlich: „Im Zuge meiner Politisierung mit 16 Jahren habe ich beschlossen, dass die klassische Teilung in Frauen- und Männerarbeit für mich nicht existiert.“ Außerdem, sagt der junge Vater, kenne er genügend andere Männer, die das genauso sehen wie er.