Irreleitungen

Psychosen. Mangelhafte Betreuung trifft vor allem Junge

Drucken

Schriftgröße

Es waren Stimmen, die ihm seit Wochen die Tat anordneten. Die Stimmen erklärten dem Mann, dessen Leidenschaft der intergalaktischen Welt der TV-Serie "Raumschiff Enterprise“ gehörte, dass sein Vater ein gefährlich kriegerischer Klingone sei, den es unter allen Umständen zu töten gelte. Über Wochen versuchte der junge Österreicher mit der Kommandozentrale, die in seinem Kopf zunehmend die Herrschaft übernahm, in Verhandlung zu treten. Er liebe seinen Vater und nichts läge ihm ferner, als ihm Gewalt anzutun, ließ er die Stimmen wissen. Doch die fremden Mächte waren durch nichts umzustimmen. Eines Morgens kapitulierte er vor der Befehlsgewalt in seinem Kopf. Gegen fünf Uhr morgens trat er mit einem Küchenmesser an das Bett seines Vaters und stach auf den Schlafenden ein. Im Todeskampf brach das Messer ab, der junge Mann holte ein zweites aus der Küche und brachte seine "Aufgabe“, wie er das nannte, zu Ende. Seiner psychiatrischen Gutachterin Heidi Kastner erklärte er, dass ihm diese Tat sehr leidtäte, aber es eben keinen anderen Ausweg gegeben habe, um die Stimmen endlich zum Verstummen zu bringen.

Die Diagnose des nicht zurechnungsfähigen Täters: paranoide Schizophrenie.

"Aus der Sicht des Täters und in der Logik seines Wahnsinns war diese regelrechte Abschlachtung durchaus nachvollziehbar“, so die Linzer Psychiaterin. Denn durch Fehlschaltungen im Wahrnehmungszentrum für akustische Reize erscheinen dem Erkrankten diese Stimmen so real wie die tatsächliche Wirklichkeit. Zu derartig unkontrollierbaren Aggressionstaten kommt es unter Psychotikern jedoch selten. Dass Psychose-Patienten in der öffentlichen Wahrnehmung vor allem als Zeitbomben gelten, liegt an ihrer von Negativklischees überladenen Darstellung in der Popkultur wie im Psychothriller "Black Swan“ und dem vergleichsweise überproportionalen Medieninteresse an Verbrechen, die während psychotischer Schübe verübt wurden.

Über die Zahl der in Österreich an Psychosen leidenden Personen fehlt fundiertes wissenschaftliches Studienmaterial. Internationale Studien legen aber einen Richtwert von 0,5 bis 1,6 Prozent der Weltbevölkerung nahe. Dieser bleibe - so Johannes Wancata, Leiter der Abteilung für Sozialpsychiatrie am AKH - über die Jahre auch weitgehend stabil. Langfristige Trends in der Krankenanstaltsstatistik - im Jahr 2009 gab es 15.894 Spitalsentlassungen mit der Hauptdiagnose "Schizophrenie, schizotype und wahnhafte Störungen“ - zeigen, dass es im Vergleich zum Vorjahr zu einem Anstieg der Diagnose von drei Prozent gekommen ist. Ein noch deutlicheres Bild zeichnet die Statistikkurve der in Österreich konsumierten Antipsychotika bei den Sozialversicherungsausgaben. "Das individuelle Krankheitsrisiko ist bei Psychosen relativ hoch“, heißt es in einem von einem deutschen Spezialistengremium herausgegebenen Leitfaden "Psychosen - Früherkennung und Frühintervention“. "Das Gleiche gilt auch für die Krankheitshäufigkeit, denn beispielsweise Schizophrenie ist in rund 80 Prozent der Fälle chronisch.“

Trotz einer wachsenden gesellschaftlichen Überpsychologisierung, wo inzwischen an jeder Ecke von selbst ernannten Therapeuten Familienaufstellungen angeboten werden und an jedem schwarzen Brett im Supermarkt Flugzettel für Burnout-Präventionsseminare baumeln, hält die Öffentlichkeit, was Psychotiker betrifft, noch einen Angstabstand. Der Begriff selbst kommt zwar ständig medial zum Einsatz - von der "Islam-Psychose Europas“ bis hin zu den "psychotischen Inszenierungen der Lady Gaga“ -, aber kaum jemand weiß, wie das Phänomen klar zu definieren ist. Ein Medienwahnsinn, wie ihn der Massenmörder von Oslo, Anders Behring Breivik, im Sommer des vergangenen Jahres entzündete, trägt zusätzlich zur Stigmatisierung jener Gruppe seelisch Kranker bei, bei denen die "Grenzen zwischen Fiktion und Realität sich sukzessive auflösen“, so die Beschreibung eines Psychotikers, "und man in einem Strudel von verschobenen Wahrnehmungen regelrecht verschlungen wird“.

Bei Breivik war nach dem Massaker an 77 vorrangig Jugendlichen von seinen Gutachtern paranoide Schizophrenie diagnostiziert worden, und er wurde als nicht zurechnungsfähig erklärt. Er wird den Rest seines Lebens in einer geschlossenen Anstalt verbringen müssen, was die Angehörigen der Opfer, aber auch ihn selbst empörte. Täter dieser Art haben, so Heidi Kastner, "einen starken Drang, für ihre Taten auch zur Verantwortung gezogen zu werden“.

Ende Jänner erscheint unter dem Titel "Ich oder Ich“ die Autobiografie des Vorarlberger Künstlers Mathias Illigen, eines ehemaligen Studenten des in Wien unterrichtenden Star-Philosophen Peter Sloterdijk. Vor einigen Jahren hatte der 36-jährige Sohn aus gutbürgerlichem Haus seinen Vater erschlagen, weil er ihn für den Kopf einer Verschwörung hielt.

In der "wahren Geschichte eines Mannes, der seinen Vater getötet hat“, so der reißerische Untertitel, schildert Illigen, bei dem damals paranoide Schizophrenie diagnostiziert wurde und der sich inzwischen wieder in Freiheit befindet, seine Jahre im Strafvollzug für abnorme Rechtsbrecher, inklusive der Liebe zu einer Anstaltsmitarbeiterin. Man kann davon ausgehen, dass der junge, blonde Mann mit der Aura eines feinsinnigen Intellektuellen bei seinem geplanten Talkshow-Marathon für wohlige Schauer des Publikums sorgen wird. Gleichzeitig ist zu befürchten, dass er mit seiner dramatischen Geschichte seinen Teil zum öffentlichen Bild des Psychotikers als unberechenbaren Aggressionsträgers beitragen wird.

Viel häufiger als gegen andere richten Psychotiker jedoch Gewalt gegen sich selbst. Bei Schizophrenen - die Schizophrenie gilt als eine von vielen Psychose-Formen - liegt die Selbstmordrate zwischen zehn und fünfzehn Prozent, so der Leiter der Psychiatrie in der Berliner Charité-Klinik, Andreas Heinz, in der deutschen Tageszeitung "Der Tagesspiegel“. Als Grundkonzept für alle Psychose-Facetten gilt eine Wahrnehmungsveränderung der Realität, die auf einer Störung des Dopamin-Haushalts beruht. Dopamin ist jener Botenstoff, der eintreffende Reize besonders hervorhebt und bei einem gesunden Stoffwechsel in Stress- und Gefahrensituationen sowie bei Drogenkonsum ausgeschüttet wird. Bei Psychose-Patienten ist der Dopamin-Pegel konstant um 20 Prozent erhöht, was zu Fehlschaltungen im Wahrnehmungszentrum führt: Neben dem Hören von Stimmen fallen unter die so genannte "positive Symptomatik“ laut des erwähnten Psychose-Leitfadens optische Halluzinationen, unverrückbare irreale Überzeugungen, Paranoia oder das Gefühl, "von übernatürlichen Mächten bedroht, beobachtet und geschädigt zu werden“. Prinzipiell unterscheidet die Psychiatrie zwischen affektiven Psychosen wie Depressionen und Manien und schizophrenen Psychosen, die das Denk-und Wahrnehmungssystem auf den Kopf stellen, dazwischen existieren noch zahlreiche Mischvarianten und Randerscheinungen.

Die manisch-depressive Patientin, die in ihrer Hochphase und in der Illusion ihrer finanziellen Allmacht fünfzehn Reiterurlaube bucht, weil ihre Eltern ihr als Kind nie Ferien auf dem Pferderücken gegönnt haben, ist genauso Psychotikerin wie der spätpubertierende Computer-Nerd, der sich seit Tagen in seinem Zimmer verbarrikadiert, weil er von der Furcht zerfressen wird, von Aliens entführt zu werden. Tragisches Beispiel dafür, dass eine ausgewachsene Psychose auch zu einem lukrativen Geschäftsmodell wachsen kann, ist Charlie Sheen, dessen selbstzerstörerische Pendelgänge zwischen Manie, Drogenkonsum und Wahnvorstellungen ihm inzwischen zu einem satten Geldbetrag verholfen haben. Warner TV zahlte Sheen einen zweistelligen Millionenbetrag, um ihn frühzeitig aus seinem "Two and a Half Men“-Vertrag zu entlassen. "Ich fühle mit ihm mit“, erklärte sein Vater Martin Sheen in einem TV-Interview. "Ich hatte auch psychotische Erlebnisse in der Öffentlichkeit.“

Die genetische Disposition spielt beim Ausbruch von Psychosen eine große Rolle. Als Auslöser für den Ausbruch gelten emotionale Stresssituationen wie Beziehungstrennungen, Überforderung im Job, Drogen, aber auch physische Erkrankungen und Veränderungen im Hormonhaushalt. Bei Expertengesprächen entsteht der Eindruck, dass jede Psychose so einzigartig ist wie der von ihr Betroffene. Allen Psychotikern ist jedoch gemeinsam, dass sie unter den psychisch Erkrankten als die am wenigsten Salonfähigen gelten und gesellschaftlich am härtesten ins Abseits gedrängt werden. Das Scham-und Minderwertigkeitsgefühl scheint auch bei den Psychotikern selbst weitaus höher zu sein als bei an Angststörungen und Depressionen Erkrankten."Es gibt bei diesen Patienten nach wie vor große Hemmungen, psychologische Hilfe zu beanspruchen“, erklärt Renate Skoda, klinische Psychologin am Wiener Otto-Wagner-Spital und Initiatorin des Online-Forums Psychosenetz.com. Obwohl "statistisch durch nichts belegbar“, hat Skoda den Eindruck, "dass es doch zunehmend mehr Betroffene gibt und innerhalb dieser Gruppe die Patienten auch immer jünger werden“.

Der Anstieg von Psychotikern in der Altersgruppe der rund Zwanzigjährigen wäre mit zwei Gründen zu erklären. Der erste ist banal statistisch, die dahinter liegende Ursache aber noch nicht wissenschaftlich erforscht. "Der häufigste Zeitpunkt des Krankheitsausbruchs liegt bei Burschen im Alter von 17, 18 Jahren, bei Mädchen verschiebt sich das um einige Jahre nach hinten“, so die Wiener Psychiaterin und Leiterin der Drogenambulanz am AKH, Gabriele Fischer. In dieser Altersgruppe ist die höchste Quote von Cannabis-Konsum anzusiedeln. Und Cannabis gilt unter den Drogen als der verlässlichste Auslöser von psychotischen Erkrankungen, insbesondere von Schizophrenie. "Laut Langzeitstudien wird durch das Rauchen von Cannabis eine schizophrene Erkrankung im Schnitt um fünf Jahre früher ausgelöst“, so die Linzer Psychiaterin Heidi Kastner. Die Medikation von Jugendlichen erweise sich als besonders schwierig, "weil die sich zwar ansonsten eigentlich alle möglichen Drogen einwerfen, ohne über den Inhalt auch nur irgendwas zu wissen, sich aber gegen Psychopharmaka besonders vehement sperren“.

Und ohne die Unterstützung von Antipsychotika wie Neuroleptika ist die Erkrankung kaum in den Griff zu bekommen. Dass diese Medikamentengruppe erhebliche negative Nebenwirkungen wie Gewichtszunahme und Müdigkeit besitzt, lässt viele Patienten ihre Behandlung frühzeitig oder immer wieder abbrechen, was zu einer Intensivierung der Krankheit führen kann.

Gerade bei Jugendlichen birgt eine verschleppte oder verspätete Behandlung besonders die Gefahr der Chronifizierung und dauerhafter Schäden - wie eine frühzeitige Demenzerkrankung, die beim durch die Psychose bedingten raschen Abbau von Hirnsubstanz entsteht.

"Die Früherkennung ist bei jungen Menschen besonders wichtig“, so Renate Skoda, die Leiterin des Online-Psychoseforums, "ich habe häufig mit Jugendlichen zu tun, die bereits seit drei, vier Jahren völlig abgekapselt mit ihrem Computer im Zimmer sitzen und deren Wahnvorstellungen weit fortgeschritten sind. Oft wird das Umfeld erst dann aufmerksam, wenn sich die Jugendlichen mit Drogen und Alkohol selbst zu behandeln beginnen.“ Zuvor tun Eltern die Wandlung ihres Kindes, die sich mit sozialem Rückzug, Introvertiertheit und wachsenden Konzentrationsschwierigkeiten ankündigt, häufig als "schwierige pubertäre Phase“ ab, die eben viele in dieser Altersphase durchlaufen müssten. Welche Höllen nicht nur die Betroffenen, sondern auch die Angehörigen durchleben, schildert der New Yorker Schriftsteller Michael Greenberg in seinem autobiografischen Bericht "Der Tag, an dem meine Tochter verrückt wurde“. "Papa, ich habe das Gefühl zu reisen, aber ohne Möglichkeit auf irgendeine Umkehr“, erklärte ihm seine 15-jährige Tochter, bei der später eine schizophrene Psychose diagnostiziert wurde. Ihre zunehmende Verwahrlosung und spontanen Aggressionsanfälle hatten die Familie vor ein bedrückendes Rätsel gestellt. "Ich hatte das Gefühl, Zeuge einer seltenen Naturgewalt zu sein“, resümiert Greenberg das gemeinsame Martyrium, "wie ein Schneesturm oder eine mächtige Flut - verheerend, aber auch grandios.“

Eltern eines psychotischen Kindes haben es in Österreich schwer. "Ich fühle mich von der Spitalspsychiatrie völlig allein gelassen“, erzählt die Mutter einer zwanzigjährigen Psychotikerin, der jede Krankheitseinsicht fehlt, was ein häufiges Begleitsymptom ist. "Meine Tochter wurde nach jedem stationären Aufenthalt im AKH oder auf der Baumgartner Höhe viel zu früh entlassen. Sie nahm ihre Medikamente häufig nicht, weil sie sich als gesund empfindet, und ist dann wieder für Tage ohne ein Lebenszeichen abgetaucht. Wir mussten mehrmals die Polizei um Hilfe bitten und waren in großer Angst, dass sie sich etwas antut.“ Während der stationären Betreuung bemerkte sie, "dass viel zu wenig Personal da war, das wenige Personal komplett überfordert war und man das Mädchen möglichst schnell wieder loswerden wollte“. Auch die Angebote für die Nachbetreuung nach den stationären Aufenthalten erwiesen sich als katastrophal: "Wartezeiten von einem halben bis Dreivierteljahr für einen therapeutischen Platz, das ist für einen jungen Menschen eine tödlich lange Zeit. In den betreuten Wohngemeinschaften werden Psychotiker, ohne Rücksicht auf Alter und Krankheitsstadium, durcheinandergewürfelt. Ohne das entsprechende Finanzvermögen sollte man in diesem Land besser nicht psychisch krank werden“, sagt die Mutter der Patientin. Darüber dass die Versorgungslage in Österreich, besonders auf dem Gebiet der Kinder- und Jugendpsychiatrie, schwer verbesserungswürdig wäre, sind sich auch alle von profil befragten Experten einig. "Die Krankenhausaufenthalte sind heute wesentlich verkürzt“, klagt Günther Klug, Psychiater in Graz und Präsident der Österreichischen Schizophrenie-Gesellschaft. "Das wirft das Problem auf, dass manchmal für die psychosoziale Weiterbetreuung keine Plätze frei sind.“ Ideal wäre in diesem Fall "eine mobile Weiterbetreuung, denn bei Psychose-Patienten ist es besonders wichtig, den Kontakt zu halten“. Doch dafür gebe es viel zu wenig Ressourcen: "So landen psychisch Kranke immer wieder in normalen Pflegeheimen, wo sie ganz sicher nicht hingehören.“

Das Ex-Model Vera Lehndorff hat in ihrer Autobiografie nahezu eine Liebesbeziehung zu ihren Psychosen entwickelt: "Ich sehe sie als Erweiterung, denn so habe ich in meine Abgründe geschaut.“

Doch zu solchen Sätzen ist man nur dann fähig, wenn man diese Erkrankung überwunden hat. Was die künstlerische Ausdruckskraft von Psychotikern betrifft, geht die Wissenschaft davon aus, dass das Leben in den Zwischenwelten auch eine besondere Visionskraft hervorrufen kann. Der an einer bipolaren Störung leidende Maler Edvard Munch hätte den "Schrei“ vielleicht nicht ohne seine Krankheitserfahrung gemalt. "Das Malen wird dann von einer großen inneren Not angetrieben“, erzählt die deutsche Künstlerin Helene Beitler, die seit 1987 immer wieder an Psychosen leidet, "denn das Bedürfnis, mich mitzuteilen, wird während einer Psychose existenziell wichtig für mich, denn da ist der Graben zu den Mitmenschen besonders tief.“

Mitarbeit: Sebastian Hofer

Angelika   Hager

Angelika Hager

leitet das Gesellschafts-Ressort