Das Rätsel der Liebe

Rätsel 'LIEBE': Wie die Wissenschaft versucht, den Romantik-Code zu entschlüsseln

Biologie, Psychologie und Evolution

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"Keira Knightley ist zum Kotzen!", brüllt der Banker im Thomas-Pink-Shirt seinem weiblichen Gegenüber im Londoner Albion Club zu. „Absolut hassenswert“, repliziert sie euphorisch. „Dieser öde Bambi-Blick!“ Die Hasstirade dauert einige Minuten, dann wird der Tisch gewechselt, um mit einem neuen Partner Themen wie „Der Londoner Bürgermeister stinkt aus dem Mund“ oder „Norah Jones’ Soulgesülze macht mich total aggressiv“ abzuhandeln. „Speed Hating“ nennt Carl Hill seine Veranstaltung, die den Untertitel „Down With Dating“ trägt und der letzte Schrei in der Metropole mit der höchsten Einsamkeitsdichte Europas ist. Das Prinzip soll paarungswillige Singles von dem Druck befreien, in der kurzen Zeitspanne ihrer Begegnung ein Ego-Schaulaufen veranstalten zu müssen. „Wir hatten einfach genug von all den kitschigen Veranstaltungen, zu denen jeder mit viel zu hohen Erwartungen geht, um dann doch keinen Partner zu finden“, sagt Hill.

Die sexuelle Marktwirtschaft ist ebenso komisch wie grausam. Zugleich sind die Umsätze im weltweiten Kuppelgeschäft so krisenresistent wie in keiner ­anderen Branche. Denn die heimliche Hoffnung auf ein Leben in einem „Teekanne“-Spot von harmoniegetränkter Zweisamkeit, unterbrochen von Show-Einlagen entfesselter Leidenschaft, pulsiert in jedem von uns – selbst in den größten Zynikern, wie man in mehreren Staffeln „Sex and the City“ nachsehen konnte. Denn diese sind, so der Romancier Dirk Wittenborn, ohnehin nichts anderes als „enttäuschte Romantiker“. Kaum ein Forschungsgegenstand beschäftigt die Wissenschaft zurzeit so intensiv wie die Liebe. Ganze Armeen von Evolutionsbiologen, Verhaltensforschern, Anthropologen, Neurologen, Psychologen, Soziologen und Psychotherapeuten versuchen, die Dynamik von Paarungsritualen, das System des Ver- und Entliebens und die Selektionsprinzipien der Partnerwahl zu dechiffrieren und zu analysieren – um trotzdem oft genug ratlos zurückzubleiben: Denn zu nahezu jeder These gibt es, vergleichbar allenfalls mit den im Wochentakt wechselnden Diättheorien, immer mindestens eine plausible Antithese.
Und nun die gute Nachricht: Die gesellschaftliche Realität beginnt, das erzkonservative Design, das die Natur sich vor ein paar Millionen Jahren ausgedacht hat, sukzessive auszutricksen. Das Diktat des Darwinismus neigt sich seinem Ende zu, wenn auch nur im Schneckentempo. Darwins Erklärungsmodell, wonach die Partnerselektion für beide Geschlechter allein der optimalen Arterhaltung diene, wird durch gegenläufige Entwicklungen zusehends unterwandert.

Trendwende. Helen Fisher, Anthropologin und die renommierteste Liebesforscherin der Welt, prognostiziert eine Trendwende, die zugleich auch eine Renaissance darstellt. „In den Jäger-und-Sammler-Gemeinschaften der afrikanischen Steppe vor einer Million Jahren haben Frauen und Männer gleichberechtigte partnerschaftliche Modelle gelebt. Durch das Sammeln von Früchten haben sie genauso ihren Anteil zum Haushaltseinkommen beigetragen.“ Das Babysitting übernahmen in diesem Fall die zu Hause gebliebenen älteren Frauen, damals fungierte der Mann als „Partner und nicht als Ernährer“, so Fisher, die heute eine Rückbesinnung auf diese archaischen Traditionen diagnostiziert.

Durch die Fortschritte der Reproduktions- und Fertilitätsmedizin, die Beziehungsleben und Arterhaltung mehr und mehr trennen, sind Frauen weitaus stressfreier, was ihre Partnerwahl betrifft. Sie haben enorm viel Zeit gewonnen, und um ein Kind in die Welt zu setzen, brauchen sie nicht mehr zwingend einen zum Bleiben gewillten Mann und schon gar keinen mit den höchsten Versorgerqualitäten. Das Schweizer Wochenmagazin „Weltwoche“ spricht sogar von einer „zweiten sexuellen Revolution“, die das seit Jahrmillionen ins evolutionsbiologische Gedächtnis eingebrannte Mating-Schema – Mann sucht Frau mit den größten Brüsten, dem breitesten Becken und den höchsten Attraktivitätsmerkmalen zwecks bes­ter Stammerhaltung – außer Kraft zu setzen beginnt. Der Wiener Paarforscher Karl Grammer überrascht mit einer weiteren Erkenntnis: „In allen Arten gilt das Prinzip der aktiven weiblichen Wahl. Das passiert aber so subtil, dass es die Männchen nicht merken und denken, sie hätten die Wahl getroffen.“
Auch der Mythos von dem auf Monogamie programmierten Weibchen und dem promiskuitiven Männchen, das seinen Samen möglichst steppendeckend in der freien Wildbahn verstreut, um eine größtmögliche Zahl von Nachkommen zu produzieren, gerät ins Wanken, auf Basis mathematischer Logik: In jedem Land der westlichen Welt werden geschlechtsspezifische Studien über das Seitensprung-Verhalten durchgeführt. Bei praktisch jeder dieser Untersuchungen geben Männer ungefähr doppelt so viele wechselnde Sexualpartnerinnen an wie umgekehrt. Ein statistisches Märchen, denn angesichts der Tatsache, dass die Anzahl von Männern und Frauen sich in diesem Zivilisationsraum in etwa die Waage hält, können diese Angaben nicht der Realität entsprechen. Die einzige Erklärung dafür: Männer neigen zur Potenz-Prahlerei, Frauen dagegen aus tradiertem Schamgefühl zur Untertreibung.

De facto gibt es auch im Tierreich nur ein durchgehend verlässlich treues Tier – den Höckerschwan. Tendenzen zur Monogamie zeigen auch Biber, ein paar Adlerarten, Gibbons, Schakale und Seidenäffchen. Reaktionäre Evolutionstheoretiker wie der Texaner David Buss („The Evolution of Desire“) werden sich von der Überzeugung verabschieden müssen, dass der menschliche Mantelpavian, der die meisten Wohnhöhlen und das größte Revier aufzuweisen hat, die besten Chancen auf paarungswillige und treue Weibchen hat. Deren Leidensfähigkeit im Tausch gegen Sozialprestige hält sich heute durchaus in Grenzen, und im Ernstfall schrecken sie auch nicht vor symbolischer Kastration zurück: Heather Mills versus Paul McCartney, Irina versus Roman Abramowitsch oder Andrea versus Martin Schlaff – die Frauen verließen das Schlachtfeld im Triumphzug.

„Der liebe Gott hat vor den Erfolg den Schweiß gesetzt“, meint der deutsche Pop-Prolet Dieter Bohlen, neuerdings im Nebenjob Liebesberater bei „Bravo“. Ein idealer „Doktor Sommer“, hieß es in der Presseaussendung, „weil er auch schon so viele Niederlagen erlitten hat“. Die letzte verpasste ihm die 26 Jahre jüngere Estefania Küster, als sie den gemeinsamen fünf Monate alten Sohn einpackte, um Bohlen wegen seines Fremdgangs zu verlassen. Die evolutionsbiologische Theorie, dass Frauen alles auf sich zu nehmen bereit sind, nur um den eigenen Nachwuchs zu schützen, erscheint ebenfalls höchst diskussionswürdig. John Gottman, der US-Guru der Scheidungsforschung, sieht in der Elternschaft sogar einen echten Beziehungskiller. In einer neuen Studie, für die er 82 Ehepaare über Jahre hinweg begleitete, kommt er zu der Erkenntnis, dass das Beziehungsglück seiner Probanden bereits nach einem Jahr im Alete-Inferno dramatisch zurückging. Eine Beobachtung, die auch eine Untersuchung des Österreichischen Instituts für Familienforschung teilt: Mit der Geburt eines Kindes, vermeintliche Krönung jeder Zweisamkeit, sinkt der Zufriedenheitsgrad in der Beziehung rapide. Der Tiefpunkt wird erreicht, wenn der Nachwuchs in die Pubertät driftet. Überlebt man das alles, stehen die Chancen für ein zweites Frühlingserwachen jedoch wieder gut.

Winnetous Schwester. Inzwischen hat Dieter Bohlen eine um 30 Jahre jüngere Carina an seiner Seite, die wie eine Raubkopie von ­Verona, Naddel und Estefania aussieht. „Alle meine Frauen mussten aussehen wie Winnetous Schwester Nscho-tschi, meine erste Sexual­fan­tasie mit zwölf“, bringt der Mann sein Beuteschema auf einen simplen Nenner. Doch das Prinzip Partnerwahl ist leider viel komplexer, als die Bohlens dieser Welt glauben. Dass Männer bei der Wahl ihrer Damen irgendwann eine geringe Oberweite zugunsten eines hohen IQ in Kauf nehmen, wird auch nach 500 Jahren Feminismus wohl nicht die Regel sein. Aber das jeweilige Selektionsprinzip setzt sich aus vielen Parametern zusammen. Den ersten Impuls setzt der Geruch. Werden wir von den Ausdünstungen eines Menschen abgestoßen, verpufft auch schon jede optische Anziehung. Völlig unterschätzt wurde bislang die Qualität des ersten Kusses als Weichenstellung für eine spätere Romanze. „Beim Küssen wird weit mehr an chemischer und physischer Information ausgetauscht als bisher angenommen“, so der New Yorker Psychologe Gordon Gallup. „Allein die Kopfhaltung, die das Gegenüber dabei annimmt, kann über eine Fortsetzung zum Sex entscheiden.“

Ratlosigkeit macht sich inzwischen unter den Forschern breit, was die Freud’sche These vom männlichen Ödipuskomplex betrifft beziehungsweise von der Frau, die in der Endlosschleife den verlorenen Vater im Partner reaktiviert sehen möchte. Unzählige Studien belegen inzwischen das Gegenteil. Fest steht jedenfalls, dass Erwachsene in ihren Partnerschaften unbewusst die Mobbing- und Entwertungsszenarien nachstellen, welche die Beziehung ihrer Eltern prägten. Ohne begleitende Psychotherapie sind die Chancen, jemals die masochistische Lust am Nachstellen der elterlichen Kriegsspiele zum Versiegen zu bringen, deprimierend klein. Auch die alte Theorie von den Gegensätzen, die einander anziehen, steht auf wackligen Beinen. „Es scheint alles ­davon abzuhängen, in welchem sozioökonomischen Umfeld die Partnersuche stattfindet“, so Paarforscher Karl Grammer. „Und natürlich auch davon, welche Partner erreichbar sind.“

In der Paartherapie ist man inzwischen überzeugt davon, dass allzu symbiotische Beziehungen zu einer „Mumifizierung“ führen und gefährdeter sind als solche, in denen die Choreografie von Nähe und Distanz gemeinsam erarbeitet wurde. Über 25 Prozent der Österreicher sind Singles, 71,4 Prozent davon würden diesen Status leichten Herzens aufgeben. Doch die Hälfte der Sehnsüchtigen ist nicht bereit, dafür die eigenen vier Wände zu verlassen. Eine entsprechende Studie wurde vom Marktführer auf dem Sektor des Mausi-und-Bärli-Shoppings, der Online-Partneragentur Parship.at, in Auftrag gegeben und kam – wenig überraschend – zu dem Ergebnis, dass das Gros der Befragten das Internet als „effizientes Instrument“ zur Partnersuche schätzt – und sich diese Dienste, die zunächst im wohligen Schutz der Anonymität abgewickelt werden, auch gern etwas kosten lässt. Rund 500 Euro gibt der deutsche Internet-Sehnsüchtige im Jahr für sein Glücksrittern aus (für Österreich dürfte ein ähnlicher Wert gelten).

Die „New York Times“ hingegen berichtete jüngst von der ersten Scheidungswelle unter online gestifteten Partnerschaften. Offenbar wirken die Kriterien Effizienz, Logik und Pragmatismus, die die Selektionsmethode beim „seriösen“ virtuellen Ködern bestimmen, im wirklichen Lieben auf Dauer eher als Spielverderber. Die biochemischen Prozesse, die in Gang gesetzt werden, wenn zwei Menschen einander auf der freien Wildbahn begegnen, sind nun einmal nicht durch das Abhaken von Checklis­ten wie „Rilke-Leser“, „Nettoeinkommen über 5000 Euro“ und „Liebhaber italienischer Küche“ zu neutralisieren. Dazu kommt, dass im virtuellen Raum naturgemäß oft so dreist gelogen wird, dass sich die Balken biegen. Niemand tippt Bekenntnisse wie „Mir fehlt leider das gewisse Etwas“ in sein Benutzerprofil. Bei allen Beziehungen – egal, ob sie im Cyberspace, beim Kaffeeautomaten im Büro, im Salsa-Kurs oder beim Hundeäußerln ihren Anfang genommen haben – sollte man sich eines abschminken: zu hohe Erwartungen. Denn kein einzelner Mensch kann alle Defizite des Gegenübers abdecken. Und der rauschhafte Zustand, den der Körper im Zuge der ersten Verliebtheit entwickelt, klingt nach drei bis sechs Monaten ab. Dann trifft einen der Blitzschlag der Ernüchterung, und es kommt jener Moment, den der Dichter Christian Morgenstern so beschrieb: „Einander kennen lernen heißt lernen, wie fremd man einander ist.“ Die Paartherapie hat dafür den hässlichen Begriff „Beziehungsarbeit“ geprägt.

Dopamin-Romanze. Helen Fisher wiederum umschreibt das Wesen der Romantik mit dem Begriff „Frustrations-Attraktion“: „Es ist der Zustand des ständigen Verlangens nach mehr. Das hat mit der Dopamin-Produktion zu tun, die sich durch die Tatsache, dass eine in Aussicht gestellte Belohnung immer wieder einmal ausbleibt, erhöht.“ Diese biochemische Reaktion hat jenen Zustand zur Folge, den ­George Bernhard Shaw mit der „grenzenlosen Überschätzung einer einzelnen Person gegenüber dem Rest der Menschheit“ beschrieb. Doppelt deprimierend auch die Tatsache, dass die romantische Liebe dem gleichen Mechanismus folgt wie jeder andere Trieb: Es geht viel mehr um den Tanz als um den Tänzer. Nur: Diese Erkenntnis hat kei­nerlei Konsequenzen. Es wird weiterhin geschmachtet, gesülzt, gelitten und geweint werden. Wie sonst ließe sich erklären, dass Richard Burton noch auf seinem Totenbett, bereits seit Jahrzehnten von seiner zweifachen Ehefrau Liz Taylor getrennt und längst wieder verheiratet, seufzte: „Ich wünschte, die fette Schlampe wäre hier!“

Von Angelika Hager und Sebastian Hofer