Reduktion einer Rolle

Die Geschichte der Vaterlosigkeit

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Noch in den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts galt der Vater als die relevante Bezugsperson, wenn es um die Erziehung der Kinder ging: Die Versorgung der Familie erfolgte innerhalb derselben und lag eindeutig im männlichen Verantwortungsbereich. „Der Vater musste seinen Kindern die Gesetze der Moral und der Religion nahe bringen und sie auf das Erwachsenenleben vorbereiten“, erläutert Männerforscher Erich Lehner.

Erst durch die Industrialisierung wurde dieses Gefüge erschüttert. Berufliche Betätigung erfolgte zunehmend in Fabriken und Werkstätten; somit waren die Bereiche Arbeit und Familie strikt voneinander getrennt. Eine psychologische Aufarbeitung dieser Zeit behandelt das 1963 erschienene berühmte Buch von Alexander Mitscherlich: „Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft“. Der Vater zog morgens aus dem Haus, um seinem Beruf nachzugehen, während sich die Mutter daheim den familiären Verpflichtungen widmete. Damit reduzierten sich seine Aufgaben auf die des materiellen Versorgers und formalen Familienoberhauptes. An der pädagogischen Wichtigkeit des Vaters, der für Ordnung und Weltbezug stand, wurde dennoch festgehalten. Unterstützt wurde diese Auffassung durch die Psychoanalyse, die im Vater den Befreier aus der Symbiose mit der Mutter sah, den Wegbereiter für die raue Realität.

Im Zuge der beiden Weltkriege hatten dann viele Familien tatsächlich ihre Väter verloren. Diese in der Nachkriegszeit aufwachsende vaterlose Generation war es dann, die 1968 der traditionellen Familie ideologisch den „Krieg“ erklärte. So wurde wieder eine Kindergeneration gezeugt, die ohne Väter aufwuchs. Diesmal forderte der Geschlechterkampf seine Opfer.

„Die Geschlechterfrage“, so Lehner, „eröffnete jedoch eine neue Verständnisperspektive. Einerseits wurde deutlich, dass das Bild des Vaters, in dem er für Ordnung und Weltbezug steht, Folge einer traditionellen Geschlechterordnung ist. Andererseits konnte gezeigt werden, dass die Bedeutung des Vaters in seiner Funktion als zweite verfügbare, emotional nahe Bezugsperson liegt.“