Bildstörung und Glaubensfragen

Regierung: Bildstörung und Glaubensfragen

Schüssels Kampf gegen den Koalitionspartner

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Flink und geschmeidig der eine, bullig und robust der andere: ein perfektes Paar, zumindest beim Freundschaftskickerl. Beim Wien-Besuch des türkischen Premierministers Recep Tayyip Erdogan im Juli des Vorjahres standen nicht nur Gespräche über die EU und einen Ausbau der Wirtschaftsbeziehungen auf dem Programm. Abseits der offiziellen Agenda trat der österreichische Regierungschef mit einem „Transfer-Angebot“ der anderen Art an seinen Amtskollegen heran: Hobbykicker Wolfgang Schüssel erkundigte sich bei Erdogan, der einst sogar mit einer Laufbahn als Profifußballer geliebäugelt hatte, ob er nicht Lust hätte, irgendwann in der Zukunft an einem Spiel von Politikern gegen Altstars wie Hans Krankl, Franz Beckenbauer und Michel Platini teilzunehmen. Erdogan sagte zu.

Das Match dürfte nicht so schnell angepfiffen werden. Dienstag vergangener Woche zeigte sich Erdogan vor österreichischen Journalisten in Ankara ob der ablehnenden Haltung Österreichs bestürzt: „Ich muss ehrlich sagen, ich bin schockiert. Eine solche Skepsis habe ich nicht erwartet.“

In Wien übernahm der freiheitliche Klubobmann Herbert Scheibner die türkische Vorlage volley. Er sei verwundert, dass ein Regierungschef, der sein Land in die EU führen wolle, Mitgliedsstaaten dieser Gemeinschaft kritisiere, so Scheibner. Erdogan solle mehr „Augenmaߓ zeigen.

Der Kapitän der österreichischen Regierungsmannschaft wollte sich nicht weiter äußern. Den am Mittwoch der Vorwoche veröffentlichten Bericht der EU-Kommission, in dem die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen empfohlen wird, kommentierte Wolfgang Schüssel im routinierten Politikersprech: „Die Empfehlung der Kommission ist ein interessanter Diskussionsstartpunkt. Unser Weg ist, der Türkei nicht die Tür zuschlagen, aber verhandeln mit offenem Ziel.“ Dass die meisten europäischen Regierungschefs in die Verhandlungen mit einem klaren Ziel, nämlich dem Vollbeitritt, gehen, erläuterte der Kanzler nicht weiter.

Gemäßigter Widerstand. Der Koalitionspartner hat sich intern längst mit der Unausweichlichkeit von Verhandlungen abgefunden, auch wenn Vizekanzler Hubert Gorbach ankündigte, „es werde sich erst zeigen“, ob Schüssel im Dezember beim EU-Gipfel den Beitrittsverhandlungen zustimmen werde. Zur Beruhigung der Kernwähler demonstrierten die Blauen nach außen Widerstand. Parteichefin Ursula Haubner artikulierte fast täglich ihre ablehnende Haltung zu Verhandlungen und kündigte vorsorglich an, die FPÖ werde im Parlament gegen die Ratifizierung eines Beitritts der Türkei stimmen. Ein Versprechen ohne Risiko: Zum Zeitpunkt einer möglichen Ratifizierung wird Haubner wohl nicht mehr FPÖ-Chefin sein.

Klubchef Scheibner hat die Hoffnung indes nicht ganz aufgegeben, dass die EU-Regierungschefs im Dezember womöglich doch nicht für Beitrittsverhandlungen votieren werden. Und falls doch? „Dann ist es die Sache des Bundeskanzlers, wie er sich verhält“, sagt Scheibner. Anders als etwa vom Wiener FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache gefordert, verspüren die FPÖ-Frontleute wenig Lust, das Thema zur Fahnenfrage hochzustilisieren – und noch weniger, in der Frage einer Bindung des Kanzlers durch den Nationalrat gemeinsame Sache mit den Sozialdemokraten zu machen. Die SPÖ will im am 15. Dezember tagenden Hauptausschuss einen Antrag stellen, der Schüssel zu einem Nein zu Beitrittsverhandlungen verpflichten soll. Doch laut einem Gutachten der Parlamentsdirektion ist eine Bindung des Regierungschefs nicht möglich. Die SPÖ konterte mit einem Gegengutachten.

Bei der Sitzung der Präsidiale des Nationalrats am Donnerstag vergangener Woche fand Andreas Khol zu keiner Einigung mit den Klubobleuten. Anfang Dezember will der Nationalratspräsident weitere Gutachten vorlegen. Bleibt Khol bei seiner Rechtsmeinung, das Parlament könne den Bundeskanzler nicht binden, wird er wohl keine Abstimmung über den Antrag der SPÖ zulassen. Die FPÖ wäre aus dem Schneider und würde sich unangenehme Fragen ersparen, warum sie die ablehnende Haltung der SPÖ zu Beitrittsverhandlungen nicht unterstützt.

Kuriose Lage. Das Kuriose an der Türkei-Debatte: In der Sache liegen die vier Parlamentsparteien gar nicht so weit auseinander. Auch ÖVP und Grüne schließen aus heutiger Sicht einen Vollbeitritt der Türkei zur EU aus. Doch im Gegensatz zu SPÖ und FPÖ vermieden die größere Regierungs- und die kleinere Oppositionspartei eine Festlegung und befürworten – wie auch Bundespräsident Heinz Fischer – den Beginn von Verhandlungen.

Im EU-Wahlkampf im Mai und Juni hatten sich die Spitzenkandidaten aller Parlamentsparteien kämpferisch gegeben und einander mit ihren Kontra-Türkei-Argumenten zu übertrumpfen versucht. SPÖ-Spitzenmann Hannes Swoboda forderte die Regierung auf, der Aufnahme von Verhandlungen nicht zuzustimmen – offenbar eine auf den Wahlkampf befristete Haltung: Vergangene Woche bezeichnete Swoboda die Empfehlung der Kommission als „couragiert, aber politisch richtig“. Schon Ende September hatte er das strikte Nein seiner Parteifreunde in Wien kritisiert.

Swobodas ÖVP-Kontrahentin Ursula Stenzel hatte im Mai Verhandlungen kategorisch ausgeschlossen: „Ich sehe die Türkei absolut nicht in der EU. Man darf nun auch nicht in einen Verhandlungskurs hineinschlittern, der zu einem Vollbeitritt führt.“ Mittlerweile hat Stenzel ihre Meinung kanzlerkompatibel adaptiert.

Die Bevölkerung befindet sich in der Frage eines EU-Beitritts der Türkei eher auf einer Linie mit SPÖ und FPÖ. Laut einer im Auftrag von profil vom Wiener Meinungsforschungsinstitut OGM durchgeführten Umfrage lehnen 47 Prozent der Bevölkerung die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen ab.

Insgesamt zählen die Österreicher zu den größten Skeptikern in Europa. 61 Prozent sprechen sich laut profil-OGM-Umfrage kategorisch gegen einen Beitritt aus. Nach einer Erhebung der EU-Kommission aus dem Vorjahr haben nur die Bürger von Luxemburg, Frankreich, Finnland, Dänemark und – geschichtlich bedingt – Griechenland ähnliche Vorbehalte wie die Österreicher. Von offizieller türkischer Seite will man sich zur Haltung der Österreicher und deren Ursachen nicht äußern. Gegenüber profil erklärte eine Vertreterin der türkischen Botschaft in der Vorwoche, dass „nur die Österreicher diese Frage beantworten“ könnten.

Kulturbruch. Die überdurchschnittliche Skepsis hierzulande dürfte in einer Mischung aus kulturell-religiösen Motiven, auf die Türkei projizierten Erfahrungen mit in Österreich lebenden Türken, Islam-Phobien, Sorgen um den Arbeitsplatz, latent vorhandener Fremdenangst und teilweise in Stereotypen und Klischees aus der Geschichte begründet sein.

Laut einer Untersuchung der Sozialwissenschaftlichen Studiengesellschaft vom April sind die vorgebrachten Argumente gegen einen Türkei-Beitritt vor allem kultureller Natur. Zwar steht laut Umfrage der immer noch ungelöste Kurden-Konflikt als Begründung für die Ablehnung an erster Stelle. Doch dahinter folgt, dass die Türken „zum Großteil Moslems“ seien und „ihre Sitten und Gebräuche nicht zu Europa passen“. Auch der aktuellen profil-Umfrage zufolge sind religiös-kulturelle Unterschiede die vorherrschenden Motive gegen einen Beitritt.

Generell scheint die Skepsis in den EU-Ländern gegenüber der Türkei mit der Anzahl der zugewanderten Türken zu korrelieren. „Gerade in jenen Ländern, wo es eine große türkische Gemeinschaft gibt, ist die Beitrittshaltung eher kritisch“, sagt der frühere Generalsekretär im Außenministerium Albert Rohan, der sich für den EU-Beitritt der Türkei engagiert.

Nach einer Aufstellung der OECD hat Österreich nach Deutschland mit zwei Millionen und Frankreich (200.000) den in absoluten Zahlen höchsten türkischen Bevölkerungsanteil in Europa. Zwischen Wien und Bregenz leben derzeit rund 130.000 Türken. Dazu kommen rund 90.000 Türken, die mittlerweile die österreichische Staatsbürgerschaft besitzen.

Bildungsproblem. Während nach Deutschland mit der ersten Einwanderungswelle in den sechziger und siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts vor allem türkische Facharbeiter emigrierten, die etwa in der Automobilindustrie Beschäftigung fanden, kamen nach Österreich tendenziell mehr türkische Hilfsarbeiter, die größtenteils am Bau eingesetzt wurden. Der Grund: In der verstaatlichten Industrie wurden aus beschäftigungspolitischen Gründen und auf Druck der Gewerkschaften kaum Ausländer angestellt.

Die Einkommen der in Österreich lebenden Türken liegen am unteren Ende der Skala. Und auch beim Grad der Ausbildung sind die Türken nicht nur deutlich unter dem Schnitt der Österreicher, sondern auch unter jenem der in Österreich lebenden Ex-Jugoslawen. Unter den Bosniern, Serben und Kroaten verfügen rund 27 Prozent über einen Lehrabschluss, unter den Türken nur elf Prozent, 83 Prozent haben bloß die Pflichtschule absolviert. Das Fazit des Migrationsforschers Bernhard Perchinig: „Im Vergleich zu Deutschland haben türkische Migranten in den vergangenen 20 oder 30 Jahren in Österreich weniger sozialen Aufstieg erlebt“.

Die Wahrnehmung der Türkei durch die Österreicher wird von hier lebenden, zum Teil streng muslimischen Zuwanderern aus den ärmeren Gebieten Ostanatoliens bestimmt, die auch in der Fremde ihre eigene Kultur und ihre Wertvorstellungen pflegen: Großfamilien, die am Wochenende zum Grillen auf die Wiener Donauinsel fahren; Männergruppen, die den Abend in Parks verbringen; Frauen mit Schleier oder Kopftuch. Ärzte, Studenten oder Unternehmer türkischer Provenienz werden dagegen weniger wahrgenommen. Die Folge ist ein verzerrtes und gestörtes Bild der modernen Türkei, ein Fehlschluss von der hier lebenden Bevölkerungsgruppe auf das ganze Land. Der türkische Außenminister Abdullah Gül machte vergangene Woche in Ankara vor österreichischen Journalisten seine Landsleute für das negative Türkei-Bild mitverantwortlich. Gül: „Es ist schlecht, dass das Image der Türkei in Österreich so überwiegend von den dort lebenden, äußerst konservativen Türken geprägt wird. Allerdings wurde den Zuwanderern beim Einleben auch nicht geholfen.“

Regelverstöße. Laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts IMAS bringen die Österreicher den Türken unter allen Migrantengruppen die größten Vorbehalte entgegen. Die Türken gelten als jene Gruppe, die „am wenigsten bereit ist, sich unseren Spielregeln anzupassen“. Sogar Iraker, Afghanen und Nigerianer seien nach der Meinung der Bevölkerung integrationswilliger. „Das Problem ist, dass in Österreich unter Integration vor allem Anpassung verstanden wird“, sagt die Politikwissenschafterin Dilek Cinar. „Es ist schnell dahingesagt, dass Integration ein wechselseitiger Prozess ist, aber die Realität sieht leider anders aus.“

Neben den kulturellen Unterschieden führen die Österreicher laut Umfragen außenpolitische Gründe wie den Nahostkonflikt und die Zypern-Frage, die hohen Kosten eines EU-Beitritts sowie die Angst vor dem Verlust von Arbeitsplätzen ins Treffen. Dazu kommt wohl eine gefühlsinduzierte, latente Fremdenskepsis. Laut IMAS-Institut erklären 65 Prozent der Österreicher, Zuwanderer aus Osteuropa, Asien und Afrika „eher als Belastung“ zu empfinden.

Auch auf offizieller Ebene ist das österreichisch-türkische Verhältnis leicht getrübt. Premierminister Erdogan wollte vergangene Woche in Ankara gegenüber österreichischen Medienvertretern seine Enttäuschung über die mangelnde Unterstützung aus Wien gar nicht kaschieren. „Ich hatte so viele positive Gespräche mit Bundeskanzler Schüssel“, sagte der türkische Regierungschef. „Ich habe mich sogar schon darauf vorbereitet, Fußball mit ihm zu spielen.“