Wende der Wende? Regierungsprogramm

Regierungsprogramm: Wende nach der Wende?

Die ersten Feinanalysen der Experten überraschen

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Am Donnerstag schien es überstanden. Mit breitestmöglichem Lächeln stand Kanzler Alfred Gusenbauer in seinem Büro und begrüßte den ersten Gast von auswärts, den deutschen Außenminister Frank-Walter Steinmeier. Eine Woche nach der Angelobung – da hatte man anno 2000 dem mit Sanktionen belegten Wolfgang Schüssel bestenfalls einen Botschaftssekretär ins Amt geschickt.

Der von innerparteilichen Protesten gebeutelte Gusenbauer bekam gegen Ende der Woche erstmals seit Tagen wieder etwas Oberwasser: Die Demo der roten Studenten war mit 800 Teilnehmern nicht eben machtvoll ausgefallen; in der ÖVP zankt man sich wegen Karl-Heinz Grasser, in der FPÖ aperten Fotos aus, die Parteichef Heinz-Christian Strache bei hirnrissigen Wehrsportübungen zeigen.

Das lenkt etwas ab von jenem Koalitionsabkommen, das bei Gusenbauers politischen Gegnern mit ungläubigem Staunen, in seiner eigenen Partei aber mit gewaltigem Grant aufgenommen worden war: Studiengebühren bleiben, Eurofighter womöglich auch – in keinem der beiden, von der SPÖ selbst zu Fahnenfragen erklärten Themen gab es Lorbeer zu holen.

„Das Programm stellt in keiner Hinsicht einen Bruch mit der Politik der letzten sieben Jahre dar“, heißt es auf der Website der eilig zusammengetrommelten Initiative „Wir sind SP֓, einer Gruppe unzufriedener Parteimitglieder, unter ihnen der ehemalige ÖGB-Grande Hans Sallmutter und die gesamte Führungscrew der SPÖ-Jugend. „Ein Diktat der ÖVP“, befundete Oberösterreichs SPÖ-Obmann Erich Haider. „Das ist ja eine ÖVP-Regierung mit einem SPÖ-Kanzler“, ätzte Exvizekanzler Hannes Androsch.

Ist Gusenbauer tatsächlich auf allen Linien überrollt worden, wird gar die in den Februartagen des Jahres 2000 eingeleitete Wende bloß fortgeschrieben?

Nein, meinte Siemens-Generaldirektorin Brigitte Ederer, ehedem Bundesgeschäftsführerin der SPÖ, vergangenen Mittwoch in einem „ZiB 2“-Interview: „Das Programm ist eine gut ausgewogene Mischung mit sehr ehrgeizigen Zielen.“ Bei ihrer gemeinsamen Pressekonferenz am Freitag mochten auch die Präsidenten von ÖGB und Arbeiterkammer, Rudolf Hundstorfer und Herbert Tumpel, „keine Ungleichbelastungen wie in den vergangenen sechs Jahren“ mehr erkennen, wenngleich Tumpel einschränkend hinzufügte, eine „Hurra-Sache“ sei das Regierungsprogramm dennoch nicht.

Zehn Tage nach seiner Veröffentlichung liegen nun die ersten Feinanalysen der Experten vor. Die Analyseabteilungen von Industrie, Banken und Kammern legten die entsprechenden Passagen auf ihre Waagschalen. Der personell und intellektuell am besten ausgestattete Braintrust, jener der Arbeiterkammer, filetierte das Verhandlungsergebnis gar auf fast 200 Seiten.

Fazit aller Untersuchungen: Tatsächlich wurde über weite Strecken die „Wende“-Politik mit nur geringen Korrekturen übernommen, etwa bei der Pensionsreform; bei der Armuts- und Arbeitslosigkeitsbekämpfung und in der Infrastrukturpolitik setzten die Roten aber durchaus eigene Markierungen; bei manchen Themen, wie zum Beispiel bei Umwelt und Energie, hat man sich sogar unrealistisch viel vorgenommen. Und sehr oft blieb der Text höchst vage, wie im Bildungskapitel.

Fortsetzungen. Nicht selten wurden Zeitreihen einfach fortgeschrieben. „Der ländliche Raum liegt dieser Bundesregierung besonders am Herzen“, hatte der gebürtige Ybbser Alfred Gusenbauer in seiner Regierungserklärung bekannt und angekündigt, dass die für diesen Zweck bis 2013 zur Verfügung stehenden EU-Mittel in der Höhe von 3,9 Milliarden Euro von Österreich verdoppelt würden. Freilich: In der soeben abgelaufenen Sechsjahresperiode waren 3,7 EU-Milliarden verdoppelt worden – die Steigerung fällt also denkbar gering aus.

Oder: Mutig bekannte sich der Kanzler zum Beschluss des Europäischen Rates, die Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit bis 2010 auf 0,51 Prozent des Bruttonationaleinkommens anzuheben. Tatsächlich betrugen die Entwicklungshilfemittel in Österreich bereits im Vorjahr 0,52 Prozent, nachdem sie just von der schwarz-blauen Bundesregierung in den vergangenen Jahren deutlich angehoben worden waren.

Nicht viel anders ist es mit dem rundum begrüßten Plan, die Forschungsquote bis 2010 auf drei Prozent anzuheben. Erfreulich, aber: Die Forschungsquote wächst damit gegenüber heute um 0,6 Prozentpunkte und damit etwa im selben Tempo, in dem sie unter der Regierung Schüssel auch schon bisher gewachsen war.

In besonders sensiblen Bereichen ließen Gusenbauer und Schüssel bequemerweise die Sozialpartner die Kompromisse aushandeln und übernahmen einfach deren Vorschläge. So kann künftig in Erfüllung eines alten Wunsches der Arbeitgeberseite in Kollektivverträgen eine tägliche Normalarbeitszeit von zehn Stunden vereinbart werden. Innerbetrieblich ist dann eine Übereinkunft über eine 4-Tage-Woche (viermal zehn Stunden) möglich – auch für nicht zusammenhängende Tage.

Die Arbeitgeber erteilten im Gegenzug ihr Placet zu einer langjährigen Forderung der Arbeitnehmervertreter. So wird künftig etwa bei großen Bauvorhaben der Generalunternehmer dafür haften, dass die oft zahlreichen Subunternehmen artig ihre Sozialversicherungsbeiträge abliefern, um die sie sich in der Vergangenheit bisweilen durch auffällig rasche Insolvenz gedrückt hatten. Dabei waren nicht nur die Sozialversicherung, sondern meist auch die Bauarbeiter um ihr Geld umgefallen.

Zur Bekämpfung der organisierten Schwarzarbeit wurde vereinbart, dass Arbeitnehmer zum Zeitpunkt des Arbeitsantritts bereits bei der Sozialversicherung angemeldet sein müssen. Bisher war bei stichprobenartigen Kontrollen gerne darauf verwiesen worden, der Beschäftigte habe eben erst zu arbeiten begonnen, man habe daher die entsprechenden Formulare noch nicht parat.

Nachdem sich die Sozialpartner im Dezember auf diese Neuerungen geeinigt hatten, reklamierte die ÖVP auf Wunsch der Wirtschaft allerdings neue Punkte in den Pakt – und setzte sie auch durch. So war ursprünglich nicht von jener „flexibleren Erteilung von Beschäftigungsbewilligungen für Fachkräfte aus den neuen EU-Staaten“ die Rede, die sich nun in Regierungserklärung und Koalitionspakt findet. Bittere Expertise der ausgetricksten Arbeiterkammer: „Die geplante Öffnung ist sehr kritisch zu sehen. Angesichts der hohen Arbeitslosigkeit besteht keine Notwendigkeit für eine solche, wenn auch abgefederte Öffnung des Arbeitsmarkts.“

Auch die Ankündigung, künftig würden auch „Forscher“ aus den neuen EU-Staaten großzügiger mit Arbeitsgenehmigungen bedacht, stößt in der AK auf große Skepsis: Einige Unternehmen hatten schon bisher den „Forscher“-Begriff etwas breit ausgelegt. Bei Kontrollen zeigte sich, dass mancherorts billige Facharbeiter aus dem Osten einfach als „Forschungspersonal“ geführt wurden.

Infrastrukturen. Rundum positiv wird hingegen Gusenbauers Ankündigung aufgenommen, bis zum Ende dieser Legislaturperiode sechs Milliarden Euro in den Schienenausbau der ÖBB (pro Jahr um 300 Millionen mehr als bisher) und weitere 4,5 Milliarden in das Straßenbauprogramm der Asfinag zu investieren (plus 50 Millionen pro Jahr).

Dies wird nach Ansicht aller Fachleute den Arbeitsmarkt maßgeblich beleben. Mit einer Milliarde Euro an derartigen Infrastrukturinvestitionen werden nach Ansicht der Wirtschaftsforscher zwischen 10.000 und 13.000 Jobs geschaffen, im Schienenausbau sogar noch etwas mehr. Die Mehrausgaben werden zum Teil durch neue Einnahmen finanziert: Die Lkw-Maut wird um vier Cent erhöht, das bringt etwa 120 Millionen Euro im Jahr. Daneben ist eine „jährliche Valorisierung der Vignette“ vorgesehen. Im Klartext: Das Autobahnpickerl – derzeit kostet es 72 Euro – wird jedes Jahr teurer. Würde der Preis bei runden 100 Euro festgesetzt – was wohl einen Proteststurm der Autofahrerklubs zur Folge hätte –, würde das 80 Millionen pro Jahr bringen. 250 Millionen verspricht die geplante Erhöhung der Mineralölsteuer (Benzin plus ein Cent, Diesel plus drei Cent).

Einen täglich 40 Kilometer zurücklegenden Pendler mit Dieselauto kostet das jährlich 32 Euro zusätzlich. Auf Verteilungsgerechtigkeit wurde diesmal allerdings mehr Rücksicht genommen als bei früheren Belastungspaketen: Insgesamt teilen sich die neuen Abgaben im Verkehrssektor zu ziemlich gleichen Teilen zwischen Unternehmen und Arbeitnehmerhaushalten auf.

Optimismus. Düster ist die Lage bei der Bahn, wie die Expertise der Arbeiterkammer schonungslos vermerkt: „Die prekäre finanzielle Situation der ÖBB bleibt durch das vorliegende Programm ungelöst.“ Die zugesagten Mehrinvestitionen würden „die Insolvenz der ÖBB nur auf das Jahr 2014 hinausschieben“.

Solcher Pessimismus ist Regierungsprogrammen naturgemäß fremd. Die wiedervereinten Großkoalitionäre zeigen bei manchen Themen sogar etwas überschäumenden Optimismus. So wird im Energiekapitel versprochen, den Anteil erneuerbarer Energie in den kommenden vier Jahren auf „mindestens 25 Prozent“ zu steigern. Derzeit liegt er bei bescheidenen elf Prozent. Der Anteil erneuerbarer Energie an der Stromversorgung soll 2010 sogar 80 Prozent betragen. Gegenwärtig sind es ohnehin hart erkämpfte 63 Prozent.

Völlig utopisch sind die Annahmen über Österreichs Beitrag zur Senkung der Emission von Treibhausgasen. Man werde alles daransetzen, das Kioto-Ziel zu erreichen, versprach Kanzler Gusenbauer in Einklang mit Umweltminister Josef Pröll. Laut Übereinkunft der Klimakonferenz in der japanischen Stadt Kioto soll der Ausstoß dieser klimaverändernden Gase bis 2012 auf das Niveau von 1990 gesenkt werden. Österreich liegt derzeit bei 118 Prozent des 1990er-Werts – Tendenz stetig steigend.

Ernüchternd fiel nach allgemeiner Einschätzung das Bildungskapitel aus: Das verpflichtende Vorschuljahr für Fünfjährige kommt nun doch nicht fix, sondern wird bloß von einer Expertengruppe geprüft. Die Gesamtschule wird – wie schon seit 30 Jahren – „evaluiert“. Individuelle Förderungsmaßnahmen werden zwar versprochen, über die finanzielle und personelle Bedeckung schweigt sich das Papier jedoch aus. Fazit der Arbeiterkammer-Studie: „Die Verringerung der sozialen Selektion im Schulwesen und der erforderliche Sprung in der Schulqualität ist mit den vorgesehenen Maßnahmen möglich, aber keineswegs gesichert.“

Weit gehend durchgesetzt haben sich die Sozialdemokraten hingegen im Gesundheitskapitel. Zwar gelang es ihnen nicht, durch die Erhöhung der Höchstbeitragsgrundlage vor allem die Besserverdiener zur Sanierung der Kassen heranzuziehen – es gibt eine allgemeine Erhöhung der Beiträge um 0,15 Prozentpunkte. Allerdings rüttelt die ÖVP jetzt nicht mehr an der „solidarischen Finanzierung“ des Gesundheitssystems: Das Wort „Selbstbehalt“ kommt im Regierungsprogramm gar nicht mehr vor. Einer der schmerzhaftesten Selbstbehalte, die Rezeptgebühr, wird für chronisch Kranke sogar mit zwei Prozent des Einkommens gedeckelt. Bei einer Rezeptgebühr von derzeit 4,70 Euro ergibt sich demnach für eine Bezieherin einer 1000-Euro-Pension ab fünf Arzneipackungen pro Monat ein Vorteil gegenüber der gegenwärtigen Regelung.

Scharmützel. Der Wirbel in der SPÖ überdeckte in den Tagen nach der Angelobung so manche erst jetzt offenkundig werdende Scharmützel in der ÖVP. So hieß es im vorletzten Entwurf des Koalitionsabkommens noch: „In der kommenden Legislaturperiode wird nur jede zweite durch Pensionierung freiwerdende Planstelle des Bundes nachbesetzt.“ Die Passage wurde – offenbar nach Intervention der schwarzen Beamtengewerkschaft – gestrichen. Im Endtext lautet sie: „Der Personalstand des Bundes wird unter Beachtung der Aufgaben weiter konsolidiert.“ Vergangenen Donnerstag sprach ÖVP-Vizekanzler Wilhelm Molterer in einem Interview in der „Wiener Zeitung“ abermals davon, dass nur jeder zweite pensionierte Beamte ersetzt werde. Was postwendend von der Beamtengewerkschaft zurückgewiesen wurde: „Kann es nicht geben.“

Was es gibt, ist ein Kulturwechsel – am offenkundigsten fällt er im Sozialressort aus: Erwin Buchinger und Ursula Haubner verkörpern zwei weit entfernte Galaxien.

Und manche Beobachter sind bei der Beurteilung der neuen Bundesregierung ohnehin bescheiden. „Falter“-Chefredakteur Armin Thurnher in seiner Analyse: „Soweit man sehen kann, befindet sich auf der Ministerliste kein Wappler. Auch daran muss man sich erst einmal gewöhnen.“

Von Marianne Enigl und Herbert Lackner
Mitarbeit: Mario Wally

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