Regionalplanung: Tiropolis mit Metro

Regionalplanung: Tiropolis

Neue Lösungsansätze für ländliche Ballungszentren

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Der einzige Autobahnabschnitt in Tirol, auf dem es hundertprozentig sicher ist, nie in einen Stau zu geraten, befindet sich unweit des historischen Ortskerns von Hall. Nach genau einhundert Meter Wegstrecke ist der Spaß allerdings schon wieder vorbei. Dann ist das Ziel erreicht: das Salzlager von Hall, wo heuer die Tiroler Landesausstellung stattfindet, die unter dem Motto „Die Zukunft der Natur“ einen unidyllischen Blick auf eine Region riskiert, die in der Fremdenverkehrswerbung gerne mit saftigen Wiesen und verschneiten Pisten verklärt wird.

Auf dem eigens für die Ausstellung errichteten vierspurigen Autobahnmodell im Maßstab 1:1 werden die Verhältnisse zurechtgerückt, um den Besuchern mit nicht geringem Aufwand klar zu machen, was jeder weiß, aber gerne verdrängt: Naturgenuss muss mit sehr viel Asphalt bezahlt werden, auf dem es selten so entspannt zugeht wie auf dem kurzen Teilstück bei Hall.

Die Landesausstellung eröffnete in Hall und an ihrem zweiten Standort in Galtür bereits im Mai, aber erst vor Kurzem ist auf der Miniaturautobahn ein Postbus zum Stehen gekommen, der eine unkonventionelle Fracht birgt. Eine Gruppe junger Stadtplaner und Architekten, die sich Yean nennt (Young European Architects Network), hat den Bus dort geparkt und zeigt im Innern einen Film, der die provokanten Thesen einer Studie illustriert, die in den vergangenen zwei Jahren durchgeführt wurde. Die Forschungsarbeit ist inzwischen auch als Buch unter dem programmatischen Titel „TirolCity“ erschienen.

Wolfgang Andexlinger, einer der Autoren, ist gebürtiger Tiroler und hat nach dem Architekturstudium in Wien einige Zeit in den Niederlanden gelebt, wo sich das Yean-Netzwerk gebildet hat. „Wir sind die erste Generation junger Architekten, die Europa frei benutzen können“, sagt Andexlinger. Die Mitglieder von Yean kommen aus drei Nationen, und obwohl sie alle unter fünfunddreißig sind, haben sie bereits an Projekten in aller Welt mitgearbeitet.

Umkehrung. Um zu testen, ob es gelingt, ein gemeinsames Forschungsprojekt zu betreiben, obwohl man in unterschiedlichen Städten in Österreich, den Niederlanden und Frankreich lebt und arbeitet, setzte sich Yean die Aufgabe, die Standortqualitäten des Inntals zu untersuchen. Einen Auftraggeber gab es nicht, ein von der Kunstsektion im Bundeskanzleramt vergebenes Schütte-Lihotzky-Stipendium diente bloß als Startfinanzierung. „Für die beiden Tiroler unter uns, welche die Verhältnisse zu kennen glaubten, stellte der Blick der anderen Teammitglieder die Verhältnisse auf den Kopf“, berichtet Andexlinger. „Uns war nicht bewusst, wie extrem die Bedingungen in Tirol wirklich sind.“

In Nordtirol leben etwa 636.000 Menschen, doch jährlich kommen rund acht Millionen Touristen dazu. Im Hauptferienmonat Februar steigt deswegen in einigen Skiregionen die Bevölkerungsdichte auf einen Wert, der zu den höchsten in der EU zählt. „Viele Tiroler sind noch immer der Meinung, sie würden in einem Land von Bergbauern wohnen“, schreiben die Architekten, doch tatsächlich arbeiten nur noch fünf Prozent der aktiven Bevölkerung in der Landwirtschaft. Die Mobilität im Inntal gleicht der einer Großstadt. Und außer den täglichen Pendlerbewegungen kommen noch der Transit- und der Zielverkehr zu den touristischen Destinationen hinzu.

Passend zum Autobahnteilstück der Landesausstellung nimmt die Studie die A12 ins Visier. Die Inntalautobahn ist die Hauptschlagader, an der sich in den vergangenen Jahren Gewerbegebiete und Einkaufszentren angelagert haben. Die Konsequenz: Wer es sich leisten kann, übersiedelt aus dem Tal auf die angrenzenden Plateaus, was zur weiteren Verhüttelung führt und öffentliche Ausgaben – etwa für den Straßenbau und die Kanalisation – nach sich zieht.

In Karten und Diagrammen messen Yean der Region gewissermaßen den Puls: Die Studie präsentiert nüchtern die augenblickliche Lage, hält sich aber mit Wertungen zurück. Statt über Grenzen des Wachstums zu spekulieren, versuchen die Autoren, die Entwicklungen auf eine neue Ebene zu heben. Wenn das Inntal immer weiter zusammenwächst, läge es doch nahe, dem Gebilde einen neuen Namen zu geben: TirolCity – eine ländliche Region, die aufgrund der gewachsenen Gegebenheiten eigentlich als städtisches Ballungszentrum zu behandeln und mit entsprechenden Konzepten zu gestalten wäre.

Mit der Aufstellung neuer Ortstafeln allein wäre noch nicht viel erreicht. „Eines der Hauptprobleme der Region ist das Kirchturmdenken“, sagt Arno Ritter, Leiter des Architekturforums AUT in Innsbruck, eines unabhängigen Ausstellungs- und Diskussionsortes in Innsbruck. „Als vor einigen Jahren die Getränkesteuer abgeschafft wurde, gerieten die Gemeinden unter Zugzwang, möglichst schnell neue Einnahmequellen zu erschließen“, so Ritter. „Die vermeintliche Rettung war die Gewerbesteuer, und so wurden an den bisherigen Siedlungsrändern Gewerbegebiete hochgezogen, die den bestehenden Ortskernen das Publikum entziehen.“

Zukunftsraum. Ritter ist auch Mitglied einer Planungsgruppe, die das Leitbild „ZukunftsRaum Tirol“ erarbeitet, das künftigen Entwicklungen als Maßstab dienen soll – und zwar möglicherweise nicht nur für Tirol selbst. Andere Regionen haben damit längst begonnen. In Vorarlberg etwa wird seit dem Jahr 2001 die „Vision Rheintal“ diskutiert. Die Region zählt zu den wirtschaftlich stärksten im Alpenraum, ist aber von Zersiedelung und der Umnutzung weiträumiger Industrieareale betroffen. In Deutschland haben das Ruhrgebiet oder die schrumpfenden Städte der ehemaligen DDR reichlich Erfahrung bei der Analyse ihrer Stärken und Schwächen.

Die Schwierigkeiten sind überall andere, aber der Boom des Themas Regionalentwicklung zeigt doch eines: Städte und Gemeinden können ihre Probleme nicht mehr auf eigenem Territorium lösen, und die übergeordneten politischen Einheiten wie Bezirke und Länder decken sich nicht mit der neuen Wirtschaftsgeografie. Das weit weniger gut erschlossene Osttirol wurde deswegen aus der TirolCity ausgeschlossen. Im Inntal mit seinen vom Skitourismus geprägten Seitentälern hingegen lässt sich zeigen, wie durch einen Bewusstseinswandel eine Stadt neuen Typs entstehen könnte.

„Innerhalb von zehn Minuten schafft man es von Downtown auf die Skipiste“, formulieren Yean und definieren so eine Standortqualität, die nicht nur auf den Tourismus abzielt. „Wo sonst in der Welt kann man morgens an einer Konferenz teilnehmen, mittags Ski fahren und abends ins Konzert gehen“, fragt Andexlinger, benennt aber auch gleich die Probleme: „Keine europäische Großstadt, und eine solche ist für uns das Inntal mit seinen immensen Verkehrs- und Touristenströmen, kann ausschließlich durch den Individualverkehr erschlossen werden. Das führt unweigerlich zum Kollaps.“

Vorgeschlagen wird deshalb beispielsweise ein leistungsfähiges Metrosystem, das in die Seitentäler hineinführt. „Horizontale Metro“ nennen das die Architekten und weisen darauf hin, dass eine „vertikale Metro“ bereits längst vorhanden sei: Die Skilifte der Region haben eine Gesamtförderleistung von 1,3 Millionen Passagieren pro Stunde, aber fast nirgends bestehe, so Andexlinger, eine Verbindung zum öffentlichen Verkehrsnetz: „In Ischgl nehmen die Parkplätze deswegen fast denselben Platz ein wie der Ortskern. Es ist doch eine absurde Situation, dass der Verkehr sich in den Seitentälern staut, während Orte wie Landeck, die an den Taleingängen liegen, nur noch die Bedeutung eines Verkehrskreisels haben.“ In einer Straßenkarte, welche die Architekten gezeichnet haben, sind die Seitentäler deswegen als Fußgängerzonen markiert.

Bizarre Visionen. Orte wie Zermatt haben mit einem Shuttle-System, das die Autos aus dem Ortskern fern hält, gute Erfahrungen gemacht, aber würde das nicht bedeuten, viele große Parkhäuser bauen zu müssen? In Bezug auf derartige Szenarien ist die Studie vorsichtig. Nur auf den letzten Seiten werden einige rasche Skizzen präsentiert. Denn seit einigen Jahren hat sich, ausgehend von den Niederlanden, ein Zweig der Regionalplanung herausgebildet, der aus Datenbergen bisweilen bizarre Visionen formt. Besonders das holländische Architekturbüro Mvrdv hat sich damit eine viel diskutierte und bisweilen stark kritisierte Position erworben.

Zuletzt wurde ein Szenario für die Schweiz entwickelt, in dem unter anderem die Umwandlung von extremen Berghängen in Touristenstädte vorgeschlagen wurde. Das Matterhorn mit Hochhäusern zu bebauen war zwar eine Extremposition und nicht unbedingt ein ernst gemeinter Vorschlag. Aber er zeigt, dass sich Architekten heute wieder für Fragen interessieren, die schon in den sechziger Jahren aktuell waren. Damals entstanden insbesondere in den französischen Alpen große und hohe Hotelkomplexe, die einen Hauch von Manhattan in die Berge brachten.

Bei den Autoren von TirolCity stoßen solche Strategien zur Konzentration des Tourismus zwar auf eine gewisse Faszination, aber ihnen ist bewusst, wie fest das Bild von Tirol als Ansammlung von Bergdörfern in den Köpfen verankert ist. Statt allzu konkret zu beschreiben, wie TirolCity denn aussehen könnte, zielen sie darauf ab, einen langsamen Wandel des regionalen Selbstbewusstseins in Gang zu setzen. Arno Ritter bestätigt, dass bereits eine gewisse Veränderung zu beobachten sei: „Als ich die Formulierung ,Stadt Tirol‘ bei einem Treffen mit Vertretern mehrerer Gemeinden verwendet habe, löste das Irritationen aus.“ Aber bei der Arbeit an dem Leitbild „ZukunftsRaum Tirol“ sei zumindest klar benannt worden, dass künftig über Gemeindegrenzen hinweg gedacht werden müsse. Diese offizielle Studie soll im Jahr 2006 präsentiert werden.

Mit dem Buch „TirolCity“ sei es, befindet Ritter, nun überdies „hervorragend gelungen, eine wirksame Sprache zu finden, wie sich die Realität beschreiben lässt“. Die Autoren haben keine langen Abhandlungen verfasst, sondern hantieren mit einprägsamen Bildern und Grafiken wie der „TirolCity map“, einer im Stil eines Stadtplans gezeichneten Darstellung des Inntals, oder dem Entwurf eines Metroplans.

Appell der Architekten. Analysiert werden Wirtschaftsdaten, Bevölkerungsstatistiken und Verkehrsbewegungen. Die Bezeichnung „Stadt“ ergibt sich zwar nicht zwangsläufig aus dem Datenmaterial. Es ist mehr ein Trick, an alle Betroffenen zu appellieren, sich mehr für die Gesamtentwicklung von Tirol zu engagieren, als lediglich Politik in und für die einzelnen Gemeinden zu betreiben. Wer die gesamtstädtische Verantwortung übernehmen soll, ist für Yean evident: Eine Planungsgruppe sollte eingerichtet werden, die als unabhängiges Expertengremium berät und Schlüsselprojekte entwickelt.

Dass eine junge Architektengruppe teilweise vorwegnimmt, was in Tirol gerade in Gang gekommen ist, bringt die Diskussion in jedem Fall auf ein neues Niveau. Und es zeigt sich, dass Architekten nicht nur auf das Entwerfen neuer Gebäude trainiert sind, sondern auch respektables Fachwissen für die Darstellung urbaner Phänomene besitzen.

Aber hat es denn Yean gar nicht gereizt, selbst etwas zu entwerfen? „Wir haben an einigen Stellen gemerkt, dass unsere Recherche auf eine gewisse Reserviertheit stößt“, berichtet Andexlinger. „Was wollen die denn eigentlich, hieß es dann. Wenn ich als Architekt oder Stadtplaner an einem konkreten Ort tätig würde, könnte ein Leitbild wie TirolCity keinesfalls alle Fragen beantworten. Die Situation vor Ort ist immer wieder speziell und verlangt maßgeschneiderte Lösungen. Deswegen haben wir keine Probeentwürfe durchgeführt.“

Von Oliver Elser