Religion: Das Grüß-Gott-Komplott

Homo-Ehe, Türkei-Beitritt, der Fall Buttiglione

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In einer Volksschule der norditalienischen Stadt Treviso bleiben in diesem Advent erstmals der Stall leer, das Jesukind ungeboren und die Heiligen Drei Könige zu Hause. Die Schulleitung hat beschlossen, auf die traditionelle Aufführung der Weihnachtsgeschichte zu verzichten, um die Integration der muslimischen Kinder nicht zu beeinträchtigen. Ersatzprogramm: Rotkäppchen. In einer Volksschule im norditalienischen Como wiederum wird der Name „Jesus Christus“ in Liedtexten durch neutrale Begriffe ersetzt.

Der Vatikan befürchtet „gravierende Folgen für die Erziehung der Jugend“ und ruft die Italiener dazu auf, die Weihnachtstraditionen zu verteidigen. Angesichts der politisch-kirchlichen Kräfteverhältnisse in Italien wird das ausgeladene Jesukind wohl umgehend in Krippen und Liedtexte zurückkehren, und der Vatikan wird dafür sorgen, dass die Lehrer von Treviso und Como noch die Engelein singen hören werden. Jesus, der Retter ist da.

Trotzdem verbergen sich hinter dem läppischen Weihnachtskulturkampf Fragen, die in immer neuen Varianten ganz Europa beschäftigen: Wie christlich ist unser abendländischer Kontinent noch? Wie christlich darf Europa sein, ohne Bürger anderer Konfessionen – besonders die wachsende Zahl an Moslems – zu diskriminieren? Wie christlich muss es bleiben, um nicht seine Identität zu verlieren – falls es überhaupt noch eine christliche Identität will?

Diese Fragen lassen sich nicht darauf reduzieren, wie viele Europäer christlich getauft sind – es ist immer noch die absolute Mehrheit – oder wie viele tatsächlich in die Kirche gehen – das tut bloß eine kleine Minderheit (siehe Grafik). Das Christentum macht sich in jüngster Zeit verstärkt politisch bemerkbar, je nach Anschauung als Ärgernis oder als Rettungsanker, jedenfalls aber als relevante Kraft.

Auf den ersten Blick jedoch kämpft das Christentum in Europa auf verlorenem Posten, nach christlicher Lesart siegt das Böse in Serie:

Gott wird eine Erwähnung in der EU-Verfassung verweigert, obwohl sich christdemokratische Parteien mehrerer Länder – darunter die ÖVP – dafür aussprechen. Auch in Österreich bleibt Gott in der neu diskutierten Verfassung Persona non grata. Die so genannte Homo-Ehe, also eingetragene Partnerschaften für Homosexuelle bis hin zur Gleichstellung mit traditionellen Ehen, wird in Europa zusehends salonfähig. In Osteuropa hat die Rechristianisierung, die nach dem Fall des Kommunismus einsetzte, inzwischen deutlich an Fahrt verloren. Abgesehen von Russland, wo die orthodoxe Kirche unter Präsident Wladimir Putin auch politisch eine Renaissance erlebt, schwindet der gesellschaftspolitische Einfluss der Kirchen in den Ländern des ehemaligen Ostblocks. In Spanien reformiert die sozialistische Regierung gleich mehrere Gesetze, die der Moral der starken katholischen Landeskirche zuwiderlaufen: Homo-Ehe, Scheidungsrecht, Abtreibung, Stammzellenforschung (siehe Kasten Seite 39). Die Forschung an menschlichen Stammzellen, die aus Embryonen gewonnen werden, ist trotz heftiger christlicher Gegenwehr nicht aufzuhalten. Selbst in den USA hat der radikale Christ George W. Bush der Stammzellenforschung zwar die staatlichen Förderungen entzogen, doch die privat finanzierte Forschung wird weiterbetrieben. In Europa ist der Abwehrkampf der Christen zum Teil erfolgreich, doch ein EU-weites Verbot der Stammzellenforschung kann die Kirche nicht durchsetzen. Eine Allianz von 60 mehrheitlich katholischen Ländern, darunter Österreich, Italien, Portugal, Irland und Polen, versuchte im vergangenen Oktober, durch eine neue UN-Konvention ein Totalverbot des Klonens von Menschen zu erwirken – und scheiterte vorerst. Die Mehrheit will das therapeutische Klonen ermöglichen, ein Verfahren, bei dem embryonale Stammzellen etwa zur Züchtung von Organen verwendet werden könnten. In der Diskussion um einen EU-Beitritt der Türkei wird auch der christliche Charakter Europas im Gegensatz zur muslimischen Bevölkerung der Türkei ins Treffen geführt. Doch die Meinung, wonach die EU kein „christlicher Klub“ sein solle, setzt sich allmählich durch. Vergangene Woche wurde die Aufnahme der Verhandlungen mit der Türkei beschlossen. Schließlich der symbolträchtigste aktuelle Streit um das Christentum: der Fall Buttiglione. Der italienische Kandidat für das Amt das EU-Justizkommissars, Rocco Buttiglione, wurde von der Mehrheit der EU-Parlamentarier abgelehnt, weil er Homosexualität als „Sünde“ bezeichnete.

Europa ist das Sorgenkind des Vatikans. Die Säkularisierung macht in allen Staaten Fortschritte, die gesellschaftlich anerkannte Moral passt zur katholischen Lehre wie Marilyn Manson zu Britney Spears. Die Statistik belegt den Trend zur Entchristianisierung: In den vergangenen 40 Jahren ist die Zahl der in Europa tätigen katholischen Priester von 250.000 auf 200.000 zurückgegangen, obwohl die Zahl weltweit im selben Zeitraum stabil geblieben ist. Dabei dienen in Europa ohnehin schon zu einem Gutteil Priester aus der Dritten Welt, weil die europäischen jungen Männer keinerlei Berufung zu einem zölibatären Leben im Dienste einer seltsam anachronistischen Organisation verspüren.

Rudimente. Europa scheint gut ohne Christentum auszukommen, Ausnahmen sind Geburt, Eheschließung, Tod und Weihnachten. Priester und christliche Politik werden als Rudimente einer vergangenen Zeit betrachtet, deren endgültiges Ableben sich noch eine Weile hinziehen wird.

Doch die christliche Religion hätte nicht mehr als 2000 Jahre überdauert, wenn sie sich so leicht geschlagen gäbe. Die jüngste Serie von Niederlagen eignet sich für eine Religion, in der die Opferrolle zentrales Thema der Erlösungsgeschichte ist, ganz ausgezeichnet. Und so geriert sich die einstige Großmacht des Alten Kontinents plötzlich als verfolgte Minderheit, die um Gedankenfreiheit kämpft.

Ein wenig patzig jammerten katholische und evangelische Kirche nach dem Beschluss der gottlosen EU-Verfassung gemeinsam, dass es nicht möglich gewesen sei, „durch einen Bezug auf die Verantwortung vor Gott deutlich zu machen, dass jede menschliche Ordnung vorläufig, fehlbar und unvollkommen und Politik nie absolut ist“. Der Pontifex monierte: „Man schneidet nicht die Wurzeln ab, aus denen man geboren wurde.“

Noch mehr in Opferlammstimmung gerieten die Christen nach dem Fall Buttiglione. Der Papst selbst intervenierte für den rechtgläubigen Italiener und rief zu „gegenseitigem Respekt im Geiste des gute Willens“ auf. Doch es half nichts: Buttiglione durfte nicht EU-Kommissar werden. Man habe den Mann auf der Basis seines Glaubens und seiner Überzeugungen „diskriminiert“, klagte die italienische katholische Zeitung „L’Avvenire“, und der „Corriere della Sera“ schloss, dass „kein Anhänger des Katholizismus eine Spitzenposition in der EU einnehmen“ könne. Auch der steirische Diözesanbischof Egon Kapellari spricht von „Intoleranz“, andere Christen bemühen den Begriff des „fundamentalistischen Säkularismus“. Buttiglione ist zum Märtyrer der neuen Christenverfolgung geworden.

Allerdings erhalten die Märtyrer der Neuzeit eine Chance zum Gegenangriff. Buttiglione trat ab, leckte in Kommentaren für das amerikanische „Wall Street Journal“ seine Wunden und ließ wissen, er habe aus vielen europäischen Ländern so massiv Zustimmung erfahren, dass er überlege, eine christliche politische Bewegung zu gründen. In Anlehnung an die amerikanischen Neokonservativen, kurz „Neo-Cons“, wurden die Buttiglione-Jünger „Theo-Cons“ – theologische Konservative – getauft.

Die neue Argumentation der Christen dreht den Spieß um: Man wird ja wohl noch glauben dürfen, lautet das neue Credo. Der deutsche Kardinal Josef Ratzinger befürchtet, der Säkularismus beginne sich in eine Ideologie zu verwandeln, die für christliche Vorstellungen „keinen Raum im öffentlichen Leben“ lasse.

Märtyrer. Taktisch macht die Märtyrerrolle der Christen vielleicht Sinn, in Wahrheit jedoch erscheint sie absurd. Der politische Einfluss der christlichen Kräfte ist immer noch größer, als es die schwindende Zahl an praktizierenden Gläubigen vermuten ließe. Nicht zuletzt dank kirchlichem Lobbying bleibt die Homo-Ehe in Ländern wie Österreich tabu, sind Abtreibung und sogar Ehescheidung im erzkatholischen Malta verboten, wird Stammzellenforschung in Italien, Spanien und Österreich besonders restriktiv behandelt. In Spanien erlebt die neue sozialistische Regierung unter José Luis Rodríguez Zapatero, welchen Furor die Stellvertreter Gottes auf Erden entfachen können, wenn ihre ewigen Prinzipien angetastet werden (siehe Kasten).

Das Christentum kann auch darauf vertrauen, dass immer wieder gläubige Politiker die Religion in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rücken. CDU-Parteichefin Angela Merkel postulierte auf ihrer Parteitagsrede Anfang dieses Monats, eine Politik ohne Gottvertrauen sei nicht möglich. Der britische Premier Tony Blair, Mitglied der anglikanischen Kirche und nach Einschätzung von Beobachtern ein Kandidat für einen baldigen Übertritt zum Katholizismus, soll mit dem „wieder erweckten Christen“ George W. Bush auf dessen Ranch gemeinsam gebetet haben. Und in Frankreich, wo der Laizismus der Religion traditionell wenig Raum auf der politischen Bühne lässt, hat mit Nicolas Sarkozy ein deklariert gläubiger Christ (jüdischer Abstammung) die Macht in der Regierungspartei UMP übernommen.

Überall dort, wo die Christen aus historischen Gründen politischen Einfluss innehaben, nutzen sie ihn aus und kümmern sich nicht darum, ob ihre Vorrechte etwa gegenüber anderen Religionsgemeinschaften legitimiert sind. In Österreich etwa, wo die katholische Welt noch relativ in Ordnung ist, wo Sprecher der Mittagsnachrichten ihr Publikum gerne einmal mit „Grüß Gott“ begrüßen und wo die Generalsekretärin einer siegreichen Partei dem Allmächtigen selbst für das Wahlergebnis dankt, darf sich die Kirche auf ihre institutionalisierten Privilegien in Form des Konkordats verlassen.

„Gleichmacherei“ nennt Bischof Kapellari im profil-Interview die Idee, dass in einem Europa, wo mehrere Religionen nebeneinander existieren sollen, gleiche Rechte für alle gelten sollten, und so etwas „sollte es nicht geben“. Also schließt die vermeintlich diskriminierte Kirche mit Regierungen von Polen bis Kasachstan Verträge ab, die ihr gegenüber den spirituellen Mitbewerbern nach Möglichkeit Vorteile sichern und nur schwer wieder aufzukündigen sind. In Österreich besteht heute noch das 1933 unter der Regierung Dollfuß geschlossene Konkordat.

Dort allerdings, wo die Christen in der Minderheit sind, fordern sie lautstark eine Gleichstellung mit der Mehrheitsreligion. Die Türkei etwa bezeichne sich offiziell zwar als laizistisch, sei de facto aber „ein sunnitisch-islamischer Staat“, kritisiert Otmar Oehring, der Menschenrechtsbeauftragte des Internationalen Katholischen Missionswerkes Missio.

Gleichstellung. Der Prototyp für einen Prozess der Trennung von Kirche und Staat und die Gleichstellung der Religionen ist seit der Revolution von 1789 Frankreich. Ein 1801 geschlossenes Konkordat mit dem Heiligen Stuhl wurde 1905 durch ein Gesetz abgelöst, das den Laizismus festschrieb. Dieser soll Republik und Religionsgemeinschaften vor gegenseitiger Einmischung bewahren. Der neue konservative Parteichef Sarkozy möchte das Gesetz etwas religionsfreundlicher gestalten, doch an einem wesentlichen Punkt will auch er nichts verändern: Es sei nicht die Rolle des Kultusministers, „die Religionen hierarchisch zu ordnen“. Es dürfe im Staat „keine offizielle Religion geben, keine Staatsreligion und auch keine Religion, die über einer anderen steht“, so Sarkozy in seinem jüngsten Buch „La République, les religions, l’espérance“ (Verlag Cerf).

Dieses Prinzip der absoluten Gleichstellung soll auch die Integration von Angehörigen anderer Religionen erleichtern, denn ob Moslems, Juden oder Christen – keine Religionsgemeinschaft kann finanzielle oder rechtliche Privilegien aufgrund irgendeines Vertrags geltend machen.

In Ländern wie Österreich hingegen, wo die katholische Kirche bis heute Nutznießerin ihrer historischen Sonderstellung ist, gelten Vorstöße zur gesetzlichen Gleichstellung unweigerlich als antiklerikale Frontalangriffe.

Die Frage ist, wie lange Europa, in dem gläubige Christen weniger werden, der Atheismus zunimmt und durch Immigration und die allfällige Aufnahme der bevölkerungsreichen, muslimischen Türkei das zahlenmäßige Verhältnis von Christen und Moslems stark verändert wird, ein „christliches Europa“ bleiben kann.

Einerseits will die säkularisierte Mainstream-Politik mit Vertretern ewiger Wahrheiten à la Buttiglione nichts mehr zu tun haben, andererseits wird man es einem wachsendem Islam in Europa auf Dauer nicht verwehren können, auch einmal politische Forderungen zu erheben, wenn dies den Christen erlaubt ist. Der französische Weg der strikten Trennung von Religion und Staat erscheint da langfristig als der einzige gerechte Ausweg.

Doch die Kirchen wehren sich: gegen die Gleichstellung von homosexuellen mit heterosexuellen Partnerschaften ebenso wie gegen die „Gleichmacherei“ von Religionen. Andererseits hatte sich der Vatikan 1791 auch gegen die Deklaration der Menschenrechte ausgesprochen, die unter anderem die freie Religionsausübung beinhaltete. „Kann man sich etwas Unsinnigeres ausdenken, als eine derartige Gleichheit und Freiheit für alle zu dekretieren?“, wetterte der damalige Papst Pius VI.

200 Jahre später denkt der Vatikan anders. Vielleicht muss er irgendwann auch in der Frage eines religiös neutralen – vormals christlichen – Europa umdenken.