An einem ganz normalen Tag

Reportage: An einem ganz normalen Tag

Die Folgen des Tsunami im Fischerdorf Maradana

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Alles, was A. H. M. Buhary von seinem früheren Leben geblieben ist, passt in eine Plastiktragtasche, weiß, ohne Aufschrift. Es ist Dienstag früh, und A. H. M. Buhary – die drei Buchstaben stehen für Abdul Hamid Mohamed – geht langsam über die Trümmerfläche, die bis vor einer Woche sein Haus war. Er misst mit Schritten Räume aus, die es nicht mehr gibt.

Eins, zwei, drei: das Wohnzimmer. Eins, zwei: die Küche. Eins, zwei, drei: das Warenlager seines Textilgeschäfts. Alles weg.

Buhary dreht sich um und schaut durch eine Reihe von Palmen auf das fünfzig Meter entfernte Meer, das da draußen liegt und unschuldig tut.

Vor etwas mehr als einer Woche hat es seine Heimat verschlungen.

Das ist die Geschichte des Fischerdorfes Maradana auf Sri Lanka, 60 Kilometer südlich der Hauptstadt Colombo. Sie könnte überall an der Küste des Indischen Ozeans spielen. Maradana ist ein Ort wie tausende andere in der Region, die von der Flut verwüstet wurden: 4000 Einwohner, ein paar hundert Häuser. Ein Arzt, ein Rechtsanwalt, um die hundert Fischerboote, ein bisschen Tourismus.

Ferienanlagen gibt es hier nicht. Die befinden sich im benachbarten Beruwala direkt an der Hauptstraße von Colombo an die Südspitze der Insel.

Maradana liegt abseits vom großen Trubel. Wer dorthin will, muss sich über eine rumpelige Piste durch Busch und Palmenhaine bemühen. Die Leute leben von der Fischerei und den Urlaubern. Begütert sind die wenigsten.

Vor gut 1000 Jahren landeten an einem benachbarten Strand arabische Seeleute, und deshalb befindet sich im Ort die älteste Moschee der Insel. Maradana ist muslimisch, aber das tut auf Sri Lanka, wo die Religionen recht entspannt nebeneinander existieren, wenig zur Sache.

Es geht beschaulich zu in Maradana, an einem ganz normalen Tag. Bevor das Meer kommt, um sich das Dorf zu holen.

Vor der Flut. Der ganz normale Tag beginnt damit, dass am dunstigen Horizont die Boote auftauchen: Fischer, die vom Meer zurückkommen. Fünf Mann Besatzung haben die Kähne, die knallbunte Bemalung ihrer Planken leuchtet in der Sonne. N. K. H. Silva, klein und drahtig, 48 Jahre alt, kommandiert ein eigenes Boot. 90.000 Rupien bringt es in guten Monaten, ein Drittel davon zahlt er seinen Helfern, ein Drittel geht für Reparaturen und Verpflegung drauf. Bleiben ihm selbst umgerechnet 200 Euro.

Wenn Silva das Ufer ansteuert, kann er von weitem sein Haus sehen, das direkt am Ortseingang am Ufer liegt. Er lenkt das Boot an den Strand, die Besatzung entlädt den Fang und schleppt ihn über die Böschung zur Hauptstraße hinauf, wo jeden Morgen der Fischmarkt aufgebaut wird.

Dort steht das Haus eines wohlbestallten Mannes, die Textilhandlung von Herrn Buhary. 59 ist er jetzt, ein wuchtiger Mann, der seit 45 Jahren Stoff verkauft – Seide aus China, Tuch aus Indien. Wer in Maradana einen Sari kaufen will, wendet sich an Herrn Buhary.

Das Geschäft läuft gut. Es ernährt drei Familien mit 13 Menschen, es hat ihm das Haus mit vier Schlafzimmern, einen Fernseher und einen Videorekorder finanziert.
Wenn Herr Buhary vor die Tür tritt, schaut er direkt auf den gegenüber gelegenen Laden von S. I. A. Rahaman, 48, Lebensmittelverkäufer, bei dem die Bewohner der umliegenden Häuser ihre täglichen Einkäufe erledigen. Frau M. G. M. Kareema, 42, hellblauer Sari, braucht nur ein paar Schritte die Straße heruntergehen, um Reis und Tee zu kaufen. Ihr Mann M. M. S. Ameer, 43, zaundürr, ist Buchhalter, aber das klingt besser, als es ist. Im Grunde verdingt er sich als Tagelöhner, bekommt seine Aufträge einmal von dort, einmal von da, meistens von einem Wettbüro. Damit verdient er 400 Rupien pro Arbeitstag, umgerechnet 2,80 Euro.

Lebensmittelhändler Rahaman macht am Tag 2000 Rupien Umsatz, vor Steuern und Abgaben. Direkt hinter dem Tresen seines Geschäfts schließt seine Wohnung an, drei Zimmer, eine dunkle Küche mit offenem Herd, Unterkunft für acht Menschen: Die Frau, sechs Kinder und die Schwiegermutter, um die sich sonst niemand kümmern würde.

Auf der Hauptstraße von Maradana schwillt jetzt der Lärm an: Das Geschrei der Fischhändler, das Knattern der Tuk-Tuks, dreirädriger Mopeds mit Dach, die als Taxis für den Nahverkehr dienen, Blumengebinde hinter dem Lenker, Koranverse an der Windschutzscheibe: Allah ist Sicherheit, verkünden die meisten. Und vor dem Haus des ehrwürdigen I. L. M. Tahir, der Privatstunden in Arabisch und Koranlehre gibt, drängen sich die Schüler. 72 ist der Lehrer jetzt, immer noch muss er unterrichten, weil er keine staatliche Pension bekommt.

Knapp bevor die Hauptstraße von Maradana eine Rechtskurve zur Schule hinüber macht, öffnet sich die Häuserzeile, der Blick geht zwischen Palmen hinaus aufs Meer und eine vorgelagerte Insel. Hier ist der Park des Hotels Berlin Bär, eines Guesthouse mit 13 Zimmern. Das Berlin Bär beschäftigt acht Angestellte, vor 27 Jahren wurde es errichtet, ein sandgelber Bau mit geschwungenen Balkonen, die Zimmer im Erdgeschoß weisen direkt auf den Strand hinaus. In der Früh sieht A. C. P. Mohamed, 63, ein zierlicher Herr mit freundlichen Augen, gerne selbst nach dem Rechten. Er streift durch den Garten, kontrolliert im Speisesaal, ob seine Gäste zufrieden sind, und streicht mit der Hand stolz über die prächtigen Möbelstücke, die er gesammelt hat. In der Lobby stehen wertvolle Stücke: Sitzbänke und Sessel, die an die hundert Jahre zählen, feinste ceylonesische Handarbeit.

Es passiert nicht viel an einem ganz normalen Tag in Maradana. Die Sonne gleitet über den Himmel, der Ruf des Muezzin weht über die Dächer, ein paar Touristen flanieren durch die Straßen, der Indische Ozean brandet ans Ufer. Man kommt durch, die einen besser, die anderen weniger gut, aber es geht schon.

Weggeschwemmt. Doch am Vormittag des 26. Dezember kann niemand ahnen, was dieser bis dahin ganz normale Tag noch bringen wird.
Denn als das Wasser, die Schreie und die Aufregung abgeebbt sind, ist nichts mehr wie zuvor.

Es ist Dienstag, neun Tage nach der Welle, ein strahlender Morgen, die See ruhig, aber es kommen keine Boote vom Meer zurück. Sie liegen, bizarr ineinander verkeilt, an Land: neben den Straßen, zwischen Ruinen, in den Palmenhainen des Dorfs.
Das Boot von N. K. H. Silva wurde von der Flut in einen angrenzenden Garten gespült und schwer beschädigt. Aber dort kann und will er es nicht bergen. Das Nachbarhaus trägt Trauer: Der Familienvater ist ertrunken, wurde vom Strand weg ins Meer hinausgesogen. 213 Tote hat es nach offizieller Zählung im Distrikt Kalutara gegeben, wo Maradana liegt. Vermutlich waren es aber weit mehr: „Die Regierung spielt Zahlen wie diese gerne herunter“, mutmaßt ein Einheimischer.

Totenstille. Silva, der Fischer, beugt sich mit einem Helfer über einen Haufen aus verknäuelten Schnüren: die Netze, an denen er arbeitete, als die Welle am Ufer detonierte, völlig verwickelt und verheddert. Wenn es nur das wäre: Hinter ihm gähnt in der Wand des Hauses ein Loch, als hätte ein Panzer hineingeschossen. Das Gestell des Ehebetts lehnt an einer Palme, der Hausrat liegt im Garten verstreut.

So einfach ist das: Kein Boot, keine Fische, kein Geschäft. Kein Geld, keine Reparatur. Keine Fische. Und so weiter.

Von den rund hundert Booten, die es in Maradana gab, ist keines mehr ganz. „Die eine Hälfte ist beschädigt, die andere völlig zerstört“, sagt Bürgermeister M. M. Mohamed, 50. Alleine die Reparatur eines Außenbordmotors würde, wenn sofort durchgeführt, 30.000 Rupien kosten. Allerdings: Man müsste hundert reparieren, aber es gibt nur einen Mechaniker im Ort, der das könnte. Und wenn man zu lange wartet, frisst sich das eingedrungene Salzwasser in die Maschine. Dann hilft nur mehr eins: einen neuen Motor kaufen. Um 1000 Euro, die hier keiner hat.

In der Hauptstraße, wo sonst die Fischhändler schreien, ist es totenstill. Das Textilgeschäft von Herrn Buhary gibt es nicht mehr. Dort wo es gestanden ist, klafft eine leere Fläche, die von der Küche des Nachbarhauses begrenzt wird. Die Mauer ist aufgerissen, zwei Frauen sitzen am kalten Herd und haben freien Blick auf das ehemalige Stofflager, in dem die Tuch- und Seidenballen lagen.

Dort steht jetzt Herr Buhary, den Plastiksack in der Hand. Nächstes Jahr ist er 60. Er sollte daran denken, sich zur Ruhe zu setzen. Um seine Augen zuckt es. Er hat keine Versicherung abgeschlossen, natürlich nicht: Das können Muslime mit ihren Glaubensgrundsätzen nicht vereinbaren. Was geschieht, ist der Wille Allahs: Inschallah!

„Ich muss jetzt noch einmal von vorne anfangen“, sagt Buhary, und dann dreht er sich um und geht zu den Verwandten, die seine Familie und ihn erst einmal aufgenommen haben.

Kein Stoff. Kein Geschäft. Kein Geld. Kein Stoff, um Geschäfte zu machen.

Keine Arbeit, kein Geld: Ameer, der zaundürre Buchhalter, hat seit Montag, 27. Dezember, keinen Auftrag mehr bekommen. Dem Mann vom Wettbüro wurde das Haus weggerissen, sein eigenes ist zur Hälfte eingestürzt, der Eingang steht verloren neben der Straße, die Tür hängt schief in den Angeln, es gibt kein Zimmer mehr, das man durch sie betreten könnte. Auch diese Woche wird Ameer nicht arbeiten können. Dann hat er schon einen halben Monatslohn verloren.

Noch sind nach Maradana, 60 Kilometer, aber drei Fahrtstunden von der Hauptstadt Colombo entfernt, keine Aufräumtrupps der Regierung vorgedrungen. Die putzen sich gerade erst die Straße an die Südküste der Insel entlang. „Uns hat noch niemand geholfen“, wettert der Bürgermeister, ein Oppositionspolitiker: „Die Regierung will zwar etwas tun, aber sie weiß nicht, wie und was.“

An diesem Dienstag haben nicht einmal die lokalen Gesundheitsbehörden einen genauen Überblick, wie viele Verletzte die Flut in Maradana gefordert hat. Zwei Krankenschwestern fragen sich neun Tage nach der Katastrophe gerade auf der Suche nach Opfern von Haus zu Haus durch. Immer wieder finden sie neue: vor allem Menschen mit schweren Schnittverletzungen, die zu Hause liegen, ohne bislang einen Arzt gesehen zu haben.

Leichensuche. Von psychologischer Hilfe für die Traumatisierten gar nicht zu reden. Im Hafen der benachbarten Stadt Beruwala liegt ein Greis im Staub der Straße und gestikuliert wirr auf die Kaimauer hinaus, auf der die Welle einen Fischkutter abgesetzt hat. An der verwüsteten Eisenbahnhaltestelle sitzt auf einer grünen Wartebank der Bahnhofsvorsteher, die Gleise sind verdreht, die Signale umgestürzt, auf den Schienen treiben sich Kühe herum. Am nächsten Tag wird er immer noch hier sitzen. 30 Kilometer südlich, bei Hikkaduwa, hat das Wasser einen Zug erfasst und 1500 Menschen in den Tod gerissen. Noch immer graben Suchmannschaften unter den Trümmern nach Leichen.

Und in Maradana, wo vor ein paar Tagen noch sein Hotel war, greift sich der zierliche Herr Mohamed an die Stirn. Das Berlin Bär: eine Ruine. Die Wassermassen sind durch Lobby und Gästezimmer geschossen, haben die Fenster herausgesprengt und die Möbel zertrümmert. Am Boden liegt der abgebrochene Fuß einer Sitzbank. Herr Mohamed hebt ihn auf, wischt mit der Hand etwas Schmutz von der schwarz lackierten Oberfläche und lächelt: „Hundert Jahre alt“, sagt er. Im Garten liegt einen Meter hoch das Gerümpel – Treibgut, Müll, der Kühlschrank, die Waschmaschine. „Ich bin hilflos“, sagt Mohamed.

Kein Hotel. Keine Gäste. Kein Geld. Keine Reparatur. Keine Arbeit für die acht Angestellten. Kein Lohn. Kein Einkommen für acht Familien.

Und keiner mehr, der bei Lebensmittelhändler Rahaman einkaufen könnte, auch nicht Frau Kareema in ihrem hellblauen Sari.

Wie denn auch: Das Geschäft stand eineinhalb Meter unter Wasser, die Bausubstanz ist beschädigt, die Waren sind vernichtet, seit die See über die Uferböschung gesprungen und die Straße heraufgekommen ist. Rahaman kehrt mit einem kleinen Besen die nassfleckige Küche aus. Den Schutt hat er schon weggeräumt. Was bleibt, ist nicht viel.

285 Häuser in Maradana sind beschädigt, 40 unbewohnbar geworden. Das Meer hat zugeschlagen wie bei einer perversen Lotterie. Haupttreffer: Tod und Zerstörung.
Im gesamten Distrikt Kalutara sind nach offiziellen Angaben vom vergangenen Dienstag 34.356 Menschen obdachlos, auf ganz Sri Lanka sollen es 835.028 sein.
An der Hauptstraße von Maradana versucht ein Mechaniker, den Außenbordmotor eines Fischerbootes zu reparieren.

Vor dem ruinierten Haus des ehrwürdigen Koranlehrers Tahir liegen die Lehrbücher zum Trocknen in der Sonne. Und dann kommen die ersten Schüler die Straße herauf. Es geht schon. Man kommt durch. Irgendwie.