Reportage: Die trennende Brücke

Reportage: Die trennende Brücke

Brücke von Mostar wird feierlich wiedereröffnet

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Ekrem Handzic hat Gründe genug, sich zu ärgern. Zum Beispiel darüber, dass kaum Fremde durch den Kujundziluk spazieren, das putzige Kopfsteingässchen in der Altstadt, wo er in seinem Laden selbst getöpferte Vasen und Schüsseln verkauft. Aber der versiegte Touristenstrom ist nichts gegen das, was sie mit dem Sims oben an Ekrems kleinem, altem türkischem Haus gemacht haben.

„Mit der Hand“ haben sie da oben die Kante gezogen, statt, wie es sich gehört, mit einem Brett. „Und so sieht es auch aus“, krumm und nicht gerade, wie es sich gehört. Überhaupt wird hier ja nichts mehr ordentlich gemacht. Wo das Stromkabel durch die dicken Natursteine in sein Haus führt, sitzt ein Prachtstück von einer Muffe, eine eiserne Rosette, wie man sie vor hundert Jahren geschmiedet hat, als Strom hier in Mostar noch etwas Besonderes war. Aber jetzt? „Einfach so“, grummelt er, „da stecken sie das Kabel einfach so zwischen den Steinen durch.“

Wenn er sich auch mal ein bisschen freuen wollte, könnte sich Ekrem Handzic auf seinem Mäuerchen am Kujundziluk einfach umdrehen und die Alte Brücke anschauen. Von hier ist der Blick am malerischsten. Es ist ein Blick auf Bosniens Schönheit, auf seine lange, oft blutige Geschichte, aber auch auf echte Mostarer Wertarbeit. Das Bauwerk glänzt in ungewohntem, aber originalem Weiß; das Dunkelgrau von früher war Patina. Architekten, Ingenieure, Archäologen von hier und aus aller Welt haben 1088 dicke Kalksteine aus der smaragdgrün leuchtenden Neretva gefischt, abgeklopft, identifiziert, gereinigt und alles genau so zusammengesetzt, wie es einst im Jahre 1566 der Baumeister Hajrudin getan hatte.

Die Sonne strahlt, unten am Fluss baden die Kinder, und gegenüber im Café sitzen die ersten Touristen. Am 23. Juli, dem Tag der offiziellen Eröffnung der wiederhergestellten Brücke, wird es hier keinen freien Hocker mehr geben.

Dass die Brücke so schön geworden ist, versteht sich eigentlich von selbst. „In Mostar“, sagt Ekrem, „ist immer sauber gearbeitet worden.“ Die hier neuerdings so herumschlampen und alles kaputtmachen, sind Fremde, die Dosljaci. Ekrem ist ein Muslim, aber dieses Thema ist eines der wenigen, wo die Religionszugehörigkeit nichts zur Sache tut. In noch schrilleren Tönen schimpft Snjezana Matic, eine Sekretärin aus dem kroatischen Westen der Stadt. Der perfekt gekleideten und geschminkten Frau passiert es immer wieder, dass irgendwelche Dosljaci sie anrempeln und nicht „Entschuldigung“ sagen. Sie spucken auf den Gehsteig, rasen in aufgemotzten Rallye-Autos ohne Nummernschild durch die Stadt und parken dann mitten auf der Verkehrsinsel.

Dosljaci sind keine Volksgruppe. Sie sind einfach „Gekommene“, Zugereiste vom Land, aus den Dörfern der kroatischen West-Herzegowina und des muslimischen Neretva-Tals oder von noch weiter her. Die Überzeugung, dass die schlampenden und rempelnden, unmerklich einsickernden Dosljaci „zu viele“ sind und „immer mehr werden“, eint ganz Mostar. Sonst eint Mostar nicht viel.

Die Hölle. Im Sommer und Herbst 1993, als es noch kaum Dosljaci gab, war das malerisch gelegene Mostar, mit seiner Brücke und einem echten Canyon mitten in der Stadt, die Hölle. Muslime und Kroaten, die je zwei Fünftel der Vorkriegsbevölkerung ausmachten, hatten im Jahr zuvor mit vereinten Kräften die Jugoslawische Volksarmee aus der Stadt verdrängt und das restliche, serbische Fünftel der Bevölkerung vertrieben.

Wie es dann genau zum Krieg zwischen Kroaten und Muslimen, die sich heute „Bosnjaken“ nennen, kam, ist nicht richtig geklärt. Fest steht, dass weder die bosnischen Serben noch die Kroaten in einem Staat leben wollten, in dem die Muslime eine relative und vielleicht eines Tages eine absolute Mehrheit stellten. Und erst recht wollten sie keine Grenze zwischen Mostar und der kroatischen Adria.

Sarajevo, Bosniens Hauptstadt, wurde von serbischen Truppen belagert. In Mostar hingegen standen die Geschütze mitten in der Stadt. Monatelang, vom Sommer bis in den Spätherbst, lag der östliche Teil, in dem die Muslime überwogen, unter permanentem Granatbeschuss aus dem kroatischen Westen. Wochenlang verhandelten die Vereinten Nationen, um einen einzigen Hilfskonvoi in die belagerte Altstadt zu bringen. Wasserholen war lebensgefährlich, und wer von den Eingeschlossenen über den Fluss wollte, musste sich 50 Meter an einem Seil entlanghangeln.

Am 8. November fiel als letzte die alte türkische Brücke, nachdem ein kroatischer Panzer fünfzigmal draufgehalten hatte. Die Szene ist mit drei Filmaufnahmen dokumentiert. Einen „Bruderkrieg“ nannten es später die Amerikaner – eine irritierende Front, mit der die Serben nichts zu tun hatten. Hier ging es nur um Bosnien. Dass Milosevic an allem schuld war, konnte in Mostar keiner behaupten.

Der Aufbau. Ein Jahrzehnt ist seither vergangen, und wenn man den dicken Akten der internationalen Verwalter glaubt, ist in dieser Zeit enorm viel passiert. Bald nach dem Fall der Brücke, im März 1994, zwang der neue US-Präsident Bill Clinton die Muslime und die Kroaten, sich wieder gegen die Serben zu verbünden. Das zerstörte Mostar, das sie trennte, sollte als gemeinsames Zentrum der beiden Volksgruppen wieder auferstehen.

Es kam der erste internationale Verwalter: der damals 65-jährige Hans Koschnick, ein freundlicher Mann voller Idealismus, Aufbauwillen und kosmopolitischer Verve – und, als Langzeitbürgermeister von Bremen und Vizevorsitzender der SPD, auch mit reicher politischer Erfahrung. Es nützte nichts – denn die kroatische Seite wollte kein gemeinsames Mostar. Sie wollte ihre „Kroatische Republik Herceg-Bosna“, wenn Mostar schon nicht gleich ein Teil Kroatiens werden konnte. Bald trafen anonyme Drohungen ein, einmal zerstörte eine Granate Koschnicks Zimmer im Hotel Ero. Als eine wütende Menge sein Auto umzingelte und drohte, ihn zu lynchen, war die Mission des Deutschen unmöglich geworden.

Seither haben ein Spanier, zwei Briten, noch ein Deutscher, ein Norweger und zwei Franzosen den Großversuch der Wiedervereinigung Mostars geleitet. „Polako“ war das erste Wort, das die westlichen Idealisten und Karrieristen hier lernten: langsam. Der einstige „Platz der Brüderlichkeit und Einheit“, bis heute eine Kriegswüste mit der zerschossenen Front des k. u. k. Gymnasiums im Hintergrund, heißt jetzt „Spanischer Platz“ – nach den vielen Opfern unter den spanischen UN-Soldaten. Die Bäume im Schutt der Wohnblocks erreichen schon Zimmerhöhe. Im Osten, an der Marschall-Tito-Straße, grüßen die ausgehöhlten Fassaden zerbombter Gründerzeithäuser.

Aber nicht nur das langsame Tempo war das Problem, manchmal war es auch das schnelle. Gebaut wird über Nacht. Mitten im einstigen Niemandsland gleißt schroff ein modernes Banken- und Geschäftszentrum mit dem Schriftzug der österreichischen Volksbanken. Schutt hier, Marmor und Messing da, dazwischen ein Zaun – ein Unterschied zum städtebaulichen Chaos der Dritte-Welt-Metropolen ist kaum sichtbar. Geld baut dicke Häuser, pflanzt aber keine Blümchen, wie sie sonst die bosnischen Innenstädte zieren.

Verdoppelungen. Administrativ ging es schleppend, aber doch voran. Koschnick hatte, schon halb resigniert, die zerrissene Stadt in sieben Bezirke aufgeteilt – de facto wurden es drei kroatische, drei bosnjakische und in der Mitte ein gemeinsamer. Sofort schlossen sich die je drei Bezirke zusammen. Fortan gab es zwei Müllabfuhren, zwei Wasserwerke, zwei Feuerwehren, und wenn im „gemeinsamen“ Zentrum gelöscht werden musste, war klar, welche Straße welcher Wehr gehörte. Fast zehn Jahre ging es so. Pünktlich zur Brückeneröffnung hat der oberste Verwalter Bosniens, der Brite Paddy Ashdown, nun die Zweistädterei abgeschafft und ein neues Statut oktroyiert: Die Bezirke sind abgeschafft, eine gemeinsame Stadtverwaltung ist gerade im Aufbau. Was die Kroaten 1995 noch verhindern konnten, wird jetzt Wirklichkeit.

Wenn Josip Merdzo in sein Büro kommt, begrüßen ihn die Geister der Vergangenheit. Auf der Anrichte steht ein Bild des verstorbenen kroatischen Präsidenten Franjo Tudjman mit Trauerflor. An der Wand hängt ein Bild von Mate Boban, des ersten und letzten „Präsidenten“ des kurzlebigen „Herceg-Bosna“, den 1997 ein früher Herztod vor der Reise zum Kriegsverbrechertribunal nach Den Haag bewahrte. Neben Boban prangt ein großes Wappen des untergegangenen Separatstaates – ein im heutigen Bosnien zwar verbotenes, trotzdem aber verehrtes Zeichen – ähnlich wie die in der Serbenrepublik Srpska kursierenden „Heiligenbildchen“ mit dem Konterfei des Radovan Karadzic. Josip Merdzo ist der Chef der „Kroatischen Demokratischen Gemeinschaft“ von Mostar, der einzigen kroatischen Partei, die hier von Bedeutung ist. Der Eingang zu seinem Devotionalienkabinett befindet sich der Einfachheit halber auf demselben Flur wie die Kantonsregierung. Die Politik geht hier kurze Wege.

Aber wer in Josip Merdzo einen Ewiggestrigen vermutet, könnte falscher nicht liegen. „Man sollte Mostar genauso behandeln wie jede andere Stadt in Bosnien“, sagt er. „Wir brauchen kein Statut!“ Das würde bedeuten: Die Mehrheit entscheidet, der Bürgermeister wird direkt gewählt – ganz wie in einer normalen Demokratie.

Das Geheimnis von Josip Merdzos wunderbarer Wandlung ist ebenso einfach wie niederschmetternd: Die Kroaten, vor dem Krieg noch um ein paar hundert Köpfe in der Minderzahl, sind jetzt mit 3000 bis 4000 Seelen in der Mehrheit. Direktwahl des Bürgermeisters hieße: Es würde sicher ein Kroate. Geht es so weiter, wird Mostar ganz ohne Krieg eine kroatische Stadt. Wer die Mehrheit hat, mag es einheitlich, wer in der Minderheit ist, will die Trennung.

Schuldfragen. Deswegen ist Merdzo sogar mit dem Aufbau der Brücke, des verhassten türkischen Symbols für die Einheit von Orient und Okzident, heute ganz glücklich. „Die Brücke“, sagt er, „wird symbolisch überfrachtet.“ Eine „Touristenattraktion“ sei sie, meint Merdzo, vergisst aber nicht, darauf hinzuweisen, dass hier schon vor der Türkenzeit einmal eine hölzerne, christliche Brücke die Neretva überspannte. „Und übrigens“, sagt er leise, „hat sich beim Wiederaufbau gezeigt, dass ein Fundament hohl war.“ Früher oder später, heißt das, wäre das Wunderwerk ohnehin in sich zusammengefallen.

So schlimm also war die Zerstörung nicht, selbst wenn es die Kroaten gewesen sein sollten – was Merdzo nicht für erwiesen hält. Das ist noch kein reuiges Schuldeingeständnis, aber immerhin. „Alle haben geschossen“, formuliert die kroatische Fremdenführerin für ihre deutschen Gäs-te an der Brücke die Antwort auf die

Frage, wer für die Zerstörung denn verantwortlich sei. „Irgendwann ist sie dann zusammengefallen.“ „Wir nicht, aber die auch“, war die Antwort aller Parteien im Krieg, wenn die Welt ihnen moralisch kam. Jetzt ist nur das „die auch“ übrig geblieben.

Vom Krieg, gar von Schuld wird in Mostar heute kaum gesprochen. Oben vom Hügel Hum, gleich über der Stadt, ließen vor elf Jahren junge Katholiken brennende Autoreifen auf die muslimische Altstadt, die Mahala, rollen, wo sie in Dächer einschlugen und Häuser in Brand setzten. Heute steht dort oben wie zum Triumph ein riesiges beleuchtetes Kreuz. Am Fuß des Hum reckt sich ein neuer Kirchturm, schlank und hoch wie ein Minarett. Schrill tönen zu Mittag die Kir-chenglocken durch die Altstadt; kein Muezzin aus dem Lautsprecher kommt dagegen an. Auf dem Platz vor dem Hotel Ero wird gebaut: Die gewaltigen Fundamente einer neuen Kathedrale, der „größten auf dem Balkan“, lassen eine architektonische Katastrophe erahnen. Es wird weiter gezählt, gemessen, verglichen. Wer hat den höchsten Turm, die größte Kuppel, die meisten Bethäuser?

„247 Moscheen sind in Bosnien seit dem Krieg gebaut worden“, sagt Mile Puljic, der Chef des kroatischen Wasserwerks – ein Mann, der sogar bei Franjo Tudjman in Ungnade gefallen war, weil er zu radikal war. Auch Puljic will heute ein gemeinsames Mostar und ein gemeinsames Wasserwerk. Doch er hat die andere Seite genau im Blick und führt Buch darüber, was dort passiert.

Neues Spielfeld. Dass die nationalen Stadtbezirke aufgelöst wurden, hat nur das Spielfeld verändert, nicht das Spiel. Gerungen wird unter anderem um den Flugplatz, der im Osten liegt – und des-halb nicht in Betrieb gehen kann. Die Kroaten hätten gerne einen westlich der Stadt, der die Pilgermassen für den katholischen Wallfahrtsort Medjugorje bewältigen kann. Gestritten wird um die Universität im Westen, die sich gegen alle Versuche wehrt, die kroatische Sprache durch bosnische Ausdrücke verwässern zu lassen. Es geht darum, wie das Gymnasium am Boulevard heißen soll und ob es „Kroatisch“ oder einfach die „Landessprache“ unterrichten soll – Kämpfe wie in den Tagen der österreichisch-ungarischen Monarchie, die den Bosniern dereinst die Quotierung und den Stellungskampf beigebracht hat.

Die Ausländer, die herkommen, um beim Aufbau zu helfen, fassen sich an den Kopf. „Sie streiten noch immer um Fahnen, Namen, Posten“, sagt ein junger Australier. „Dabei liegt die Arbeitslosigkeit bei 42 Prozent!“

Und wenn es hier alles bloß Mostarer wären, wie in New York alle New Yorker sind? „Sehen Sie“, sagt Mile Puljic vom Wasserwerk, „das ist es, was die Ausländer einfach nicht begreifen: dass hier drei

Völker leben!“ Dabei ist es doch so einfach. Gäbe es nur noch Mostarer, wären sie alle am Krieg schuld. Drei Völker hingegen – das ergibt drei Parteien, deren Wahlergebnisse immer schon von vornherein feststehen; und drei Weltbilder, in denen bis hin zum krummen Sims an der Dachkante immer gleich eine ganze Volksgruppe für alles verantwortlich gemacht wird, das nicht funktioniert.

Drei Völker, das ergibt in Mostar heute zwei Wasserwerksdirektoren. Und wenn die Ausländer kommen und die Aufklärung bringen und dann nur noch ein Direktor gebraucht wird – dann wird es, wenn Mile Puljic richtig gezählt hat, der kroatische.