Reportage: Ukraine Die letzte Grenze

Reportage: Die letzte Grenze

Die EU schiebt ihr Migrationsproblem ab

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Was Bobak von der Stadt Mukatschewo hält, kann er in einem Wort ausdrücken: „Drecksnest.“ Hier wollte er nie her. In der heruntergekommenen ukrainischen Kleinstadt gibt es für einen lebenshungrigen 25-jährigen Iraner keine Zukunft. In seiner Heimat wurde Bobak (der ersucht, seinen richtigen Namen nicht zu veröffentlichen) von Geheimpolizei und islamischen Schlägertrupps verfolgt. Als zwei seiner Freunde spurlos verschwanden, beschloss der junge Mann, nach London zu flüchten. Bobak spricht passabel Englisch, sieht gut aus, wirkt klug und selbstbewusst. Er hätte wohl gute Chancen gehabt, sich in Großbritannien eine neue Existenz aufzubauen.

Doch nach mehrwöchiger Fahrt durch die Türkei, Bulgarien und Rumänien geriet Bobak in der Westukraine an die falschen Schlepper: Maskierte Männer führten ihn und andere illegale Migranten in die sumpfige Theiß-Ebene. „Dort drüben ist Ungarn“, sagten sie. „Von dort kommt ihr nach Österreich und weiter.“ Aber in stockdunkler Nacht konnten sie das „Drüben“ nicht finden, irrten stundenlang durch hohes Gras und feuchten Lehm. In der Morgendämmerung sahen sie einen Autobus mit kyrillischer Beschriftung. Sie waren im Kreis gelaufen. Kurz darauf wurden sie von ukrainischen Grenzwächtern verhaftet.

Im großen globalen Unternehmen des Menschenschmuggels ist die Ukraine eines der wichtigsten Transitländer. Auf den Routen aus Zentralasien und dem Kaukasus kommen Iraker, Afghanen, Bangladescher und Chinesen ins Land. In der Ukraine, dem Armenhaus Europas, will jedoch keiner von ihnen bleiben, alle wollen weiter nach Westeuropa. Wie viele Migranten diesen Transitweg benutzen, können weder die ukrainische Regierung noch internationale Hilfsorganisationen präzise sagen. Die Schätzungen reichen von 50.000 bis 200.000 pro Jahr.

Bisher war die Grenze durchlässig. Die Grenzwächter, auf beiden Seiten schlecht bezahlt, arbeiteten oft mit den Schleppern zusammen. Jetzt aber setzt die EU ihre neuen Mitglieder gehörig unter Druck. Wer irgendwann in den Kreis der Schengenstaaten aufgenommen werden will, muss zur Sicherung der EU-Außengrenzen beitragen. Der Grenzschutz in der Slowakei, in Polen und in Ungarn wurde massiv ausgebaut. Auch die ukrainische Grenzwache macht Jagd auf Migranten. Laut Informationen des UN-Flüchtlingshochkommissariates (UNHCR) wurden im Jahr 2003 alleine in der Westukraine monatlich zwischen 300 und 600 illegale Migranten festgenommen und in Lager gebracht. Ihre Behandlung in diesen Lagern entspreche „weder internationalen Menschenrechtsstandards noch der Verfassung der Ukraine“, so das UNHCR in einem internen Bericht.

Hinter den Karpaten. Bobak lebt jetzt im Eisenbahnerwohnheim von Mukatschewo. Zwei Stockwerke sind hier für Flüchtlinge reserviert. Die Zimmer sind überfüllt und sehen verwahrlost aus: Stockbetten, ein Tisch, mehrere Stühle, ein alter Fernsehapparat und ein primitiver Kocher, bestehend aus zwei Ziegelsteinen und einer Heizspirale. In der Nacht dient der Kocher als Heizung, untertags kocht Bobak darauf Tee und Makkaroni.

Mukatschewo ist eine Stadt mit 70.000 Einwohnern in der Region Zakarpatije, dem westlichsten Zipfel der Ukraine. Die Hauptstadt Kiew liegt 800 Kilometer weiter östlich, die Grenzen zu Ungarn und der Slowakei hingegen sind nahe, auch nach Polen und nach Rumänien ist es nicht weit. Bis 1918 gehörte der Landstrich zu Ungarn, danach zur Tschechoslowakei, dann wieder kurz zu Ungarn, bis ihn Stalin 1944 der ukrainischen Sowjetrepublik einverleibte. Viele Einwohner sprechen neben Ukrainisch auch Ungarisch und Russisch, manche dazu auch noch Slowakisch und Deutsch. „Bei uns“, sagen die Menschen von Mukatschewo (ungarisch: Munkacs), „vermischen sich alle Kulturen Osteuropas.“ Sie sind stolz darauf. Zakarpatije – das „Land hinter den Karpaten“, soll nach ihrem Willen zu einer Drehscheibe der Kultur und des Handels zwischen West und Ost werden.

Aber das sind vorerst bloß Träume. Denn derzeit markiert der Fluss Theiß hier nicht bloß eine Staatsgrenze, er trennt vielmehr die Erste von der Dritten Welt. Am ungarischen Ufer sind die Dörfer herausgeputzt, die Autos neu und die Bahnhöfe frisch gestrichen. Auf der ukrainischen Seite verfallen die Häuser, fressen sich Schlaglöcher in den Straßenasphalt, herrscht bittere Armut. Ein Arbeiter verdient in Mukatschewo etwa 35 Euro im Monat, ein Pensionist bekommt 20 Euro. Wer es zu Wohlstand bringen will, versucht sein Glück häufig im Schmuggel von Zigaretten – oder von Menschen.

Mukatschewo gilt als Hochburg der organisierten Kriminalität. Dass die bisherige Stadtverwaltung mit der Opposition im Gemeinderat momentan gerade mit unglaublicher Brutalität um den Posten des Bürgermeisters kämpft und diese Auseinandersetzung sogar das EU-Parlament und den Europarat alarmierte, kümmert die Bewohner wenig. Für sie sind alle Parteien gleich korrupt und mafiös.

Über die sanierungsbedürftige Landstraße von Mukatschewo holpern schmutzig-graue Lastwagen in das Dorf Tschop. Ihr Ziel ist der dortige Grenzübergang zur ungarischen Kleinstadt Zahony. Vor einem Jahr wurde der Übergang mit finanzieller Hilfe der EU aufgerüstet. Personen- und Lastwagen werden hier penibel kontrolliert. Fußgänger und Radfahrer dürfen nicht passieren. Die ungarischen Grenzer haben Nachtsichtgeräte, neue Autos und sogar Helikopter bekommen.

Auf ukrainischer Seite liegt der Grenzschutz in Händen der Armee. Die Befestigungen aus Sowjetzeiten wurden nie abgebaut. Zäune, Stacheldraht und Wachtürme schützen die Ukraine so, als ob ein Angriff aus dem Westen unmittelbar bevorstünde. Erinnerungen an den Eisernen Vorhang drängen sich auf. Umso mehr, als die ukrainischen Grenzwachen den Befehl haben, nicht bloß Menschen zu verhaften, die illegal ins Land wollen, sondern auch all jene, die es ohne gültiges Visum Richtung Westen verlassen wollen. Ein eher merkwürdiges Verhalten, dass sich ein westlicher Diplomat nur mit dem lebendigen Erbe der Sowjetunion erklären kann: „Damals war die wichtigste Aufgabe der Grenzer, Republiksflüchtlinge aufzugreifen. So verhalten sie sich heute noch.“

Isolation. Gleich nach ihrer Festnahme werden die Flüchtlinge getrennt: Frauen und Kinder kommen in den dritten Stock des Eisenbahnerheims in Mukatschewo. Dort stehen sie unter ständiger Bewachung und leben hinter versperrten und verbarrikadierten Eingängen. Nur einmal am Tag dürfen sie in den kleinen Hinterhof des Heims. Gespräche mit Außenstehenden sind unerwünscht.

Die Männer werden etwas außerhalb der Stadt festgehalten, in einer aufgelassenen Kaserne im Wald, nahe dem Dorf Pawschyno. Die Lagergebäude sind mit einer Mauer umgeben, von einem Wachturm aus beobachten bewaffnete Grenzschützer das Gelände. Niemand darf ohne Genehmigung raus oder rein.

Der junge Iraner Bobak hat fast drei Monate in diesem Lager verbracht. Die „schlimmsten Monate meines Lebens“, sagt er heute. Damals, Anfang dieses Jahres, drängten sich etwa 400 Gefangene in den Baracken. Viele mussten am Boden auf den Gängen schlafen. Es gab keine Heizung, kein warmes Wasser und nur eine Mahlzeit pro Tag. Ein Armeearzt schaute einmal pro Woche kurz vorbei. „Wir durften auch keinen Kontakt mit unseren Familien oder mit der Botschaft unseres Landes aufnehmen.“ Bobaks Schilderung der Zustände wird von Hilfsorganisationen bestätigt. „Im vergangenen Herbst hatten wir bis zu 600 Menschen im Lager, da war es wirklich schlimm“, sagt Hans Schodder, Mitarbeiter des UNHCR in Kiew. „Zurzeit ist die Lage etwas entspannter. Es gibt weniger Flüchtlinge und mehr humanitäre Hilfe.“

Die Zuständigkeit für die Internierten von Pawschyno ist unklar. Die ukrainische Regierung, Behörden, Armee und internationale Organisationen schieben einander gegenseitig die Verantwortung zu.

Die Armee hat für die Versorgung von Flüchtlingen keine zusätzlichen Mittel vorgesehen. Die Internierten werden aus den Rationen der Soldaten versorgt. Laut UNHCR bekommen sie täglich etwa 1000 Kalorien. Die Norm für die Versorgung in Flüchtlingslagern wären 2100 Kalorien. Ehemalige Gefangene werfen den Lagerwächtern vor, sie hätten für Zusatzrationen Geld verlangt und Wertgegenstände gestohlen. Als einzige Konsequenz aus den katastrophalen Zuständen verbot die Armeeführung Journalisten den Zutritt zum Lager: Wegen Seuchengefahr, so ein Pressesprecher der Grenzwache, stehe Pawschyno nun unter Quarantäne.

Geld von der EU. Bis vor kurzem war es nach ukrainischem Recht nicht gestattet, illegale Migranten länger als maximal zehn Tage festzuhalten, dann mussten sie entweder freigelassen oder abgeschoben werden. Jetzt wurde diese Frist auf sechs Monate verlängert. Manche der Internierten – die Bezeichnung Gefangene erscheint eigentlich zutreffender – leben freilich schon deutlich länger in der alten Kaserne. „Wir können den Flüchtlingen gerne Wohnungen mit Sauna bauen“, meinte ein hoher Beamter des Außenministeriums in Kiew unlängst zu einer Mitarbeiterin des Roten Kreuzes: „Wenn die EU dafür bezahlt.“

Tatsächlich wollen EU, UNHCR, eine lokale Hilfsorganisation namens Neeka und die österreichische Caritas nun gemeinsam die Lage der Flüchtlinge verbessern. Eine „ganz große Sache“ werde in Mukatschewo entstehen, sagt Andreas Lepschi, Leiter der Migrationsprojekte bei der Caritas: Ein neues Flüchtlingsheim soll gebaut, die Rechtshilfe verbessert und die Grenzwachen im Umgang mit Migranten geschult werden. Zwei Millionen Euro stellt die EU zur Verfügung, das Flüchtlingsheim ist bereits in Bau. Es soll für die festgenommenen Flüchtlinge jedoch nicht als Dauerunterkunft dienen. Kein Migrant soll dort länger als drei Monate untergebracht sein, versichert Neeka-Chef Albert Pirtschak: „Dann werden wir sie auf die ganze Ukraine verteilen. Sie sollen sich in unsere Gesellschaft integrieren.“ Profitieren werden davon allerdings nur Menschen, die in der Ukraine einen Asylantrag stellen. In Pawschyno sind das die wenigsten. Entweder sie können sich nicht verständlich machen. Oder sie glauben immer noch an den Weg in den Westen.

Problem abgewälzt. Das Engagement der EU wird von nichtstaatlichen Hilfsorganisationen skeptisch betrachtet: als Versuch, das Problem der illegalen Einwanderung schon vor Europas Grenzen zu lösen. Die Pläne dazu liegen in den Schubladen. Großbritannien machte den Vorschlag, Asylanträge in Zukunft nur mehr in EU-Nachbarländern zu behandeln. „Da wird die Migrationsproblematik auf die Ukraine abgewälzt“, warnt UNHCR-Mitarbeiter Schodder, „obwohl das Land gar nichts damit zu tun hat.“

Bobak hat sich dennoch entschlossen, in der Ukraine einen Asylantrag zu stellen. Seine Freilassung aus dem Lager Pawschyno musste er durch einen Hungerstreik erkämpfen. Nach 20 Tagen ließ ihn die Armee frei und übergab ihn dem Migrationsbüro, das ihn im Eisenbahnerheim einquartierte. Aber selbst hier können der junge Iraner und seine Zimmergenossen nicht bleiben. Ab kommendem Monat verlangt der Eigentümer des Heims pro Person eine Tagesmiete von sechs Griwna (das entspricht etwa einem Euro). Wer nicht zahlt, fliegt raus. „Und dann“, sagt Bobak, „muss ich wohl auf der Straße schlafen.“