Im schwarzen Loch Europas: Moldawien

Reportage: Im schwarzen Loch Europas

Die Menschen verlassen die verarmte Republik

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Nicolae Misail ist desillusioniert. Der 52-Jährige, dessen Goldzahn aufblitzt, wenn er resignierend lächelt, sitzt in einem kleinen, gut versteckten Büro ohne Türschild im Zentrum von Moldaus Hauptstadt Chisinau. (Der Name „Moldawien“ wird als prosowjetische Eindeutschung abgelehnt.) Misail war 1991 Abgeordneter im ersten unabhängigen Parlament der ehemaligen sowjetischen Teilrepublik. Seither musste er mit ansehen, wie der junge gemischtsprachige Staat – Rumänisch und Russisch wechseln sich im Alltag ständig ab – vor die Hunde ging: 1992 kam es zum Bürgerkrieg, als radikale Nationalisten den Anschluss an Rumänien forderten und sich die stärker russisch dominierten Gebiete jenseits des Dnjestr abspalteten. Bis heute ist der Konflikt um Transnistrien ungelöst. Und seit einer Landreform, die den Bauern den Boden in kleinen Zweihektarstücken übergab, wirft auch die einst stolze Landwirtschaft keine Überschüsse mehr ab. Mit einem Durchschnittseinkommen von unter 60 Euro im Monat ist Moldau heute das ärmste Land Europas, noch hinter Albanien.

„Eine Million Menschen, fast jeder vierte Einwohner, ist ausgewandert, weil es hier keine Arbeit gibt“, sagt Misail. „Gerade die am besten Ausgebildeten im Alter zwischen 20 und 35, die Ärzte, Lehrer und Ingenieure, gehen weg. So wird das Bildungsniveau drastisch sinken“, fürchtet er. In Südeuropa, Russland oder der Türkei arbeiten die Emigranten nun illegal und in schlechten Jobs. Zurück bleiben nur die Kinder und die Alten, die in ihrer Sowjet-Nostalgie 2001 die Kommunisten wieder an die Macht wählten (siehe Kasten). Als Sprecher der holländischen Hilfsorganisation La Strada, die gegen den Menschenhandel kämpft – das Fehlen des Türschildes ist eine Schutzmaßnahme gegen die Mafia –, versucht Misail, gegen die brutalsten Auswüchse der Emigration vorzugehen. Denn viele moldauische Mädchen vom Land führt die Hoffnung auf ein besseres Leben direkt in die Hölle der Sexsklaverei. Mit staatlicher Hilfe könne La Strada beim Versuch, die Mädchen zu finden und zurück nach Moldau zu bringen, kaum rechnen, sagt Misail: „Der Staat sorgt sich mehr um sein Image im Ausland als um die wirklichen Probleme. Meine Privatmeinung: Unser politisches System ist einfach zu korrupt.“

Draußen, in den völlig vereisten Straßen im Zentrum Chisinaus, wo sich internationale Modegeschäfte und schicke Lokale abwechseln, ist die Armut nicht auf den ersten Blick zu sehen. Sie versteckt sich hinter den verfallenden Fassaden der Plattenbauten. Nur die unzähligen Geldwechselstuben geben einen Hinweis auf den großen Exodus. Schätzungsweise eine Milliarde Euro schicken ausgewanderte Moldauer per Western-Union-Geldtransfer jedes Jahr in ihre Heimat zurück. Sie ermöglichen ihren Angehörigen das Überleben, denn bei einer Invalidenrente von zehn Euro monatlich oder 20 Euro Alterspension droht Hunger.

Massenflucht. Am Land werden die Gründe für die Massenflucht offensichtlich. Im Dorf Cretoaia, etwa 40 Kilometer von Chisinau, ducken sich einige Dutzend windschiefe Häuschen an verschneite Hänge. Die örtliche Infrastruktur ist völlig verfallen: die Mühle bankrott, der Kindergarten aus Geldmangel geschlossen, ebenso die Krankenstation, das einzige Lokal und das Badehaus. Die Volksschule hat nur ebenerdig Fenster, und auf den Dorfstraßen wurden sämtliche Kanaldeckel gestohlen – Altmetall lässt sich verkaufen, und Wasserleitungen gibt es ohnehin nicht.

Familie Oriol kann mit ihrem Ofen nur eineinhalb Zimmer beheizen. In dicke Jacken gepackt, drängen sich Vater, Mutter, Sohn und Neffe um einen kleinen Tisch, auf dem die kargen Früchte der Feldarbeit stehen: Eier, Tomaten, Brot und Wein. Vater Boris, 52, ist guter Dinge: „Für mich ist das wie Sommer“, sagt er und zeigt hinaus in die Kälte. Vor Kurzem erst ist er aus der russischen Tundra zurückgekehrt, wo er acht Monate lang bei bis zu 45 Grad unter null im Baugewerbe arbeitete. Mit dem Verdienst will er sich nun ein paar Schweine kaufen. Für den Gast aus Österreich gibt er ein Gedicht zum Besten, das er einst in der Schule gelernt hat – auf Deutsch:

„Mein Bruder ist ein Traktorist
in unserer Kolchos’,
und wo sein Traktor pflügt, da ist
die Ernte leicht und groß.“

Kirchen-Wettstreit. Traktoren gibt es in Cretoaia heute kaum noch, die Kolchose ist aufgelöst und der einst allgegenwärtige Staat zerbröselt. „Den Bürgermeister haben wir schon lange nicht gesehen“, meint der Vater. War das Leben im Kommunismus leichter? „Für uns schon“, antwortet er, ohne zu zögern. „Aber mit der Religion ist es jetzt besser“, entgegnet seine Frau Tanja, die Katholikin geworden ist. „Den Kommunismus hielten nur Menschen für gut, die Gott noch nicht entdeckt hatten.“

Seit dem Ende der erzwungenen Religionslosigkeit liefern sich die Kirchen – Orthodoxe, Katholiken und strenggläubige Neoprotestanten – in Cretoaia wie auch im Rest des Landes einen Kampf um die Seelen. Dabei geraten sie schon einmal aneinander: Erst zwei Monate ist es her, erzählen die Oriols, dass Baptisten die Marienstatuette am Ortseingang zerstörten. In Cretoaia punktet die katholische Kirche, deren neues Gotteshaus bald fertig sein soll, indem sie liegen gebliebene Aufgaben des Staates übernimmt: Die katholische Caritas sorgt mit internationalen Mitteln – unter anderem aus Österreich – dafür, dass erstmals eine Gasleitung in den Ort verlegt wird.

„Lokale Behörden verwechseln uns und andere NGOs immer wieder mit Staatsagenturen und geben uns Anweisungen“, erzählt Otilia Sirbu, die erst 28-jährige Direktorin der Caritas in Chisinau. Ihr Büro liegt etwas außerhalb des Zentrums, wo die Straßen abends unbeleuchtet sind und streunende Hunde regieren. „Hier herrscht noch die alte kommunistische Mentalität. Der Staat glaubt, er kann uns diktieren, was wir mit den internationalen Geldern zu tun haben.“ Oft bleibt Sirbu nichts anderes übrig, als mitzuspielen. So muss sie von jeder importierten Hilfslieferung, egal, ob es sich um Medikamente, Schulbücher oder Möbel handelt, einen Teil an die Behörden abtreten, die damit ihre eigene Klientel versorgen – oftmals Weltkriegsveteranen, die ohnehin überdurchschnittlich hohe Pensionen erhalten. Trotzdem sieht die energische Frau mit dem Kurzhaarschnitt einen Hoffnungsschimmer: „In Moldau wird die Situation langsam besser, es wächst eine neue Generation von Politikern heran.“ In der abtrünnigen Provinz Transnistrien mit der inoffiziellen Hauptstadt Tiraspol hingegen ist die Herrschaft der alten Nomenklatura ungebrochen. „Vor einigen Monaten haben die Transnistrier drei Tonnen Nahrungsmittel konfisziert“, erzählt Sirbu.

Eiszeit. Die neue Eiszeit zwischen Chisinau und Tiraspol, die im Sommer 2004 ausbrach, hat die wenigen Hilfsprojekte internationaler Organisationen über den Dnjestr praktisch lahm gelegt. Nicht einmal Telefonate von Moldau nach Transnistrien sind möglich. Nur mithilfe spezieller Telefonwertkarten kann über Moskau eine Verbindung hergestellt werden.

An der Grenze zum „schwarzen Loch Europas“, wie der ukrainische Außenminister Boris Tarasiuk den schmalen Landstrich vergangene Woche nannte, stehen Uniformierte. Vier Kontrollen gilt es zu überwinden: Moldauische Zöllner, russische „Friedenstruppen“, transnistrische Soldaten und Polizisten studieren Pässe und durchsuchen Autos. Der verbotene Fotoapparat bleibt unentdeckt. Ein russischer Soldat fragt nach Geld. „Für Wasser“, sagt er. Mit umgerechnet 30 Cent gibt er sich zufrieden. Eigentlich sollte er gar nicht hier stehen. Russland hatte sich verpflichtet, sein Kontingent, das im kurzen und blutigen Bürgerkrieg 1992 den Transnistriern zu Hilfe eilte und immer noch mit 1800 Mann die Stellung hält, Ende 2002 abzuziehen.

Jenseits des Dnjestr. Gleich hinter der Grenze reißt der Empfang des Autoradios ab, und es beginnt zu regnen. Große kyrillische Lettern auf einem mit Hammer und Sichel geschmückten Monument verkünden „Friede, Fortschritt, Menschenrechte“. Jenseits der militärisch befestigten Brücke über den Dnjestr funktionieren dann auch keine Mobiltelefone mehr.

In der international nicht anerkannten „Moldawischen Republik Transnistrien“ ist die Zeit nach dem Zerfall der Sowjetunion stehen geblieben. Die geschätzten 400.000 Einwohner, die nicht ausgewandert sind, besitzen immer noch sowjetische Reisepässe – bis Juni sind sie noch gültig. In Sowjetzeiten begonnene Plattenbauten stehen unvollendet mitten in der Hauptstadt Tiraspol. Und vor den Regierungsgebäuden harrt der steinerne Lenin aus.

Unumstrittener Herrscher über dieses Reich, in dem neben Textilien und Alkoholika zur Beunruhigung der EU und der USA auch Waffen produziert werden, ist Igor Smirnow, ein ehemaliger Fabrikdirektor, der erst in den späten 80er-Jahren aus dem fernen Kamtschatka an der russischen Pazifikküste nach Tiraspol kam. Er und sein Clan verdienen so gut am Schmuggel durch den nahen ukrainischen Schwarzmeerhafen Odessa, dass sie im verfallenden Tiraspol eine riesige orthodoxe Kirche mit goldenen Kuppeln und ein topmodernes Fußballstadion errichtet haben.

Oxana Alistratova ist einer der wenigen Lichtblicke im schwarzen Loch Europas. Die 33-Jährige hat es in dieser Umgebung auf sich genommen, eine NGO zu gründen – was sie auch prompt ihren staatlichen Job gekostet hat. Sie sitzt in einem Café unweit vom „Haus des Sowjets“, dem Rathaus von Tiraspol. Vor einigen Monaten, erzählt Alistratova, wurde sie mit ihrer kleinen Tochter im Ministerium für Staatssicherheit von zwei Beamten stundenlang verhört, nachdem sie ein Seminar über Menschenrechte abgehalten hatte. Immer wieder erhält sie seither anonyme Drohungen. Doch gebremst hat sie das nicht. „Ich liebe mein Land“, sagt sie. „Es wird zwar lange dauern, aber wir werden auch einmal eine Zivilgesellschaft haben.“