Drei Monate nach dem Hurrikan Katrina

Reportage: Katrinas Erben

New Orleans: Hoffnungen der Bewohner schwinden

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Die Ankunft auf dem nach dem Jazztrompeter Louis Armstrong benannten Flughafen verheißt nichts Gutes: Bereits am späten Nachmittag ist der Airport weit gehend leer, die wenigen Restaurants sind allesamt geschlossen – eine Vorschau auf den Zustand von New Orleans, drei Monate nachdem der Wirbelsturm Katrina die Stadt verwüstet hat. Noch immer ist die Einwohnerschaft über 44 amerikanische Bundesstaaten verstreut, unschlüssig und erschöpft wartet New Orleans auf Erlösung von den Übeln, die Katrina ihr eintrug.

Die Wirtschaft der Stadt ist zusammengebrochen: Über die Hälfte der Geschäfte und kleinen Unternehmen haben aufgegeben, nur ein Viertel der Restaurants und Hotels sind geöffnet. New Orleans ist pleite. Angst plagt Stadtväter wie Bürger, Angst, vom Rest Amerikas vergessen zu werden und einem Schicksal ausgeliefert zu sein, das New Orleans allein nicht bewältigen kann. Nur etwa 70.000 Menschen leben derzeit permanent in der Stadt. Es war einmal fast eine halbe Million. Der zähflüssige Abendverkehr aus der Stadt heraus verrät, wie unstet das Leben nach Katrina geworden ist. Zehntausende, die tagsüber aufräumen und reparieren und von einer besseren Zukunft träumen, verlassen die Stadt bei Einbruch der Dunkelheit und übernachten in der umliegenden Region.

Neuankömmlinge. Unter ihnen befinden sich Neuankömmlinge, die das Gesicht von New Orleans verändern werden: Tausende Latinos, zumeist Mexikaner und illegal im Lande, sind nach New Orleans aufgebrochen, um Arbeit zu finden. Sie wohnen in Autos und Wohnwagen oder zu mehreren in kleinen Zimmern – und sie drücken die Löhne. Gerade habe er mit dem Zersägen eines umgestürzten Baums begonnen, sagt Zach Smith, als ein Mann auf ihn zutrat. „Er fragte mich, ob ich Hilfe bräuchte; er habe 20 Mexikaner, die für sechs Dollar die Stunde arbeiteten.“ Smith lehnte ab. Vor Katrina verdiente er sein Geld als Fotograf. Den Hurrikan saß er westlich von New Orleans in Lafayette aus, ehe er zurückkehrte, sich mit einem Scheck der Katastrophenschutzbehörde FEMA zwei Motorsägen kaufte und Bäume zerkleinerte.

Jetzt sitzt Smith im French Quarter, dem Vergnügungsviertel von New Orleans, hinter einem Bier und sinniert, wie es denn weitergehen werde mit seiner geliebten Stadt. New Orleans, meint er optimistisch, halte „die Herzen der Menschen fest umklammert“, weswegen das Gros der Evakuierten und Geflüchteten gewiss zurückkehren werde. Niemand aber weiß, was das neue Jahr bringen wird. Vielleicht dümpelt die gebeutelte Stadt weiterhin in einem Meer von Ungewissheiten. Und vielleicht wird sie niemals mehr so groß und bedeutend sein wie vor jenen schrecklichen Tagen im August und frühen September, als der Jahrhundertsturm über sie hinwegfegte und die Deiche brachen.

Bürgermeister Ray Nagin reist unverdrossen in die Diaspora, nach Memphis in Tennessee, ins texanische Houston, nach Atlanta in Georgia, um die verlorenen Seelen der Stadt zur Heimkehr zu bewegen. „Ich vermisse euch, ich möchte euch alle zu Hause in New Orleans haben“, beschwor er vorvergangene Woche in Atlanta die dortigen Flüchtlinge. Mindestens 60.000 Bürger der Stadt halten sich in Georgia auf, doch Nagins Versicherung, rote Bohnen und Reis, das traditionelle Gericht von New Orleans, schmeckten ihm „nicht ohne euch“, erregte eher Missfallen bei seinen Zuhörern. Wohin sie bitte schön zurückkehren sollten, fragten sie den Bürgermeister. „Wen soll ich eigentlich fotografieren?“, sagte James Anthony, vor Katrina ein Fotograf in New Orleans, indigniert zum Bürgermeister.

Einen Anschein des Alltäglichen bieten nur die Viertel im Süden von New Orleans längs des Mississippi, unter ihnen das French Quarter, wo manche Hotels inzwischen wieder Gäste beherbergen und aus den Bars der legendären Bourbon Street laute Musik ertönt. Jenseits der ausgeleuchteten Oasen am Fluss herrscht jedoch die Dunkelheit; 60 Prozent der Stadt sind bis heute ohne Strom. Gnädig verbirgt die Nacht das im Tageslicht sichtbare Inferno: Straßenzug auf Straßenzug an der Ostseite der Stadt liegt in Ruinen. Die wochenlang überschwemmten Häuser, mariniert in Salzwasser und Chemikalien, sind völlig zerstört. Noch im November wurden im Lower Ninth Ward, einem afroamerikanischen Armenviertel im Osten der Stadt, Leichen geborgen.

Schimmel kriecht durch die Viertel, und der Wind trägt einen feinen Staub über die Ödnis. Das einstige Grün der Gärten und Bäume ist einem depressiven Braun gewichen. Drei Monate nach Katrina durften die Bewohner des Lower Ninth vergangene Woche endlich einen Blick auf ihren wertlosen Besitz werfen. Manche der Heimkehrer tragen Atemmasken. Bis mittags um vier dürfen sie bleiben; danach gilt wieder die über den Lower Ninth verhängte Ausgangssperre. „Ich fühle mich wie in einer Kriegszone“, beschreibt der Rentner Wilmot Washington die Szene um das Haus seines Bruders. Es verbittert ihn, dass monatelang lang nichts geschehen ist. „Was hätte getan werden sollen, ist nicht getan worden“, sagt er anklagend.

Zukunft. Die Stadt schwebt zwischen Hoffnung und Resignation. Dabei stehen grundsätzliche Entscheidungen über ihre Zukunft an. Wie soll das künftige New Orleans aussehen? Wird es überwiegend eine Stadt von Yuppies und weißen Mittelklässlern sein? Ein desinfiziertes Disneyland ohne den leichtlebigen Charme, jedoch auch ohne die weit verbreitete Armut und Korruption des alten New Orleans? Wird die Stadt weißer werden, weil ihr viele der afroamerikanischen Bewohner davonlaufen werden? Wo und wie werden neue Arbeitsplätze entstehen? Und was wird aus Deichen und Dämmen? Insgesamt 3,1 Milliarden Dollar hat die Regierung Bush bisher für die Reparatur der Deiche bewilligt. Damit können die Ingenieure der US-Armee nur das bereits bestehende System wieder instand setzen.

Einem Hurrikan der Kategorie drei könnte damit getrotzt werden; der Bürgermeister und die Bürger verlangen jedoch mehr Schutz: stärkere Deiche, die Restaurierung der Feuchtgebiete im Delta des Mississippi und riesige Schleusen, damit New Orleans auch einem Monsterwirbelsturm standhalten könnte. Allein die dafür notwendigen Deiche aber kosteten mindestens 32 Milliarden Dollar – Geld, das nur in Washington aufzutreiben ist, wo sich die Regierung Bush mitsamt der Kongressmehrheit sperrt. Dass der Staat Louisiana nach der Katastrophe forsch 200 Milliarden Dollar Hilfe anforderte, empfanden die Politicos in Washington als überzogen und frech. Das viele Geld, höhnten sie, versickere ohnehin im Korruptionssumpf von New Orleans.

Viele der Geflüchteten andererseits denken nicht daran, ohne die Garantie besserer Deiche zurückzukehren. Dan Trawick besitzt nahe des London Canals zwei Häuser, die überflutet wurden. „Ich baue nicht wieder auf, solange die Deiche nicht repariert werden“, sagt er. Bis zum Beginn der nächsten Hurrikansaison im Juni 2006 werde das bestehende Deichsystem wieder funktionieren, versprechen die Ingenieure. Mehr aber versprechen sie nicht. Und von den über 60 Milliarden Dollar Hilfe, die der Kongress bereits bewilligt hat, ist bisher lediglich ein Drittel ausgegeben worden; der Rest liegt auf FEMA-Konten. Präsident Bushs Zusage, die Stadt werde ansehnlicher und schöner als zuvor aufgebaut werden, traut niemand mehr. „Wir fühlen uns als Bürger der Vereinigten Staaten, die beinahe vergessen worden sind“, appelliert Kathleen Blanco, die Gouverneurin Louisianas, an das Mitleid der Nation.

Abreißen? Eigentlich sei es verrückt, Teile der Stadt wie etwa den Lower Ninth wieder aufzubauen, heißt es in Washington hinter vorgehaltener Hand. Schließlich lägen sie unter dem Wasserspiegel. Nach dieser Logik müsste jedoch der gesamte verwüstete Osten von New Orleans abgerissen werden. Während gewichtige Fragen auf Antworten warten, die nicht kommen wollen, warten die kleinen Leute auf Geld, das nicht kommt.

In den so genannten „Hilfszentren“ der FEMA bilden sich morgendlich lange Schlangen verzweifelter Menschen, manche davon eigens für einen Tag angereist aus entfernten Gegenden, wohin Katrina sie verschlagen hat. Bürokratie, Papiere und Nachweise, die in den Fluten untergangen sind, Versicherungen, die nicht spuren, niemand, der einem das zerstörte Dach reparieren könnte: Das Leben in New Orleans ist geprägt vom Warten und von der Improvisation. Nur eine einzige öffentliche Schule ist wieder eröffnet worden, noch immer hausen 50.000 der vor Katrina Geretteten in Hotels, mindestens 500.000 Häuser im Stadtgebiet müssen abgerissen werden.

„Unser wichtigstes Anliegen ist die Beschaffung von Wohnraum“, sagt Bürgermeister Nagin. Da es an Wohnungen fehlt, bleiben Arbeitskräfte fern, obwohl jede Woche mehr Restaurants und Hotels eröffnen wollen. Die Schnellrestaurantkette Burger King zahlt einen 6000-Dollar-Bonus an alle, die sich bereit erklären, mindestens für ein Jahr bei Burger King anzuheuern. Der verfügbare Wohnraum aber ist teuer; manche Vermieter sind zu Raubrittern geworden. Der Barmann von Spotted Cat, einem Musikklub im Faubourg Marigny, beklagt sich bitter über seine Zwangsräumung nach einer heftigen Mietpreiserhöhung. „Jetzt wohne ich in einem Zimmer ohne fließendes Wasser in einem menschenleeren Slum für 650 Dollar im Monat“, erzählt er. Lange will er nicht mehr bleiben: „Ich kann es nicht bezahlen.“ Aushänge an den Wänden in Marigny weisen darauf hin, dass nur ein Richter eine Zwangsräumung anordnen kann. Man solle sich wehren.

Inmitten von Chaos und Unsicherheit haben sich hässliche Bruchstellen aufgetan. Manche der weißen Einwohner hoffen, dass möglichst viele der armen Schwarzen die Heimat verlassen werden. Die Stadt habe unter ihnen gelitten, sagen sie und verweisen auf die hohe Kriminalität vor Katrina oder auf das restlos kaputte Schulwesen und die verlotterten städtischen Armensiedlungen, in denen Sozialpathologien wucherten. Seit Katrina habe sich kein Mord in der einstigen amerikanischen Mordhauptstadt ereignet, sagen sie.

Symbole. Tatsächlich böte sich nun die Chance, die Elendssiedlungen abzureißen und das neue New Orleans als Modell für innerstädtische Arme zu konzipieren. Einer der kursierenden Pläne sieht vor, dass die Stadt marode Häuser saniert und diese dann an die vormaligen Besitzer zu Vorzugspreisen verkauft. Wieder ein anderer Plan sieht vor, dass der Staat die Hypothekenlast von Bürgern übernimmt, deren Häuser abgerissen werden müssen. Die Hausbesitzer erhielten 60 bis 80 Prozent dessen, was sie bereits abbezahlt hatten, die Banken etwa 40 Prozent der ausstehenden Hypothekenschuld.

Die Stadt setzt unterdessen auf Symbole: Sie wird ein drahtloses städtisches Internet-Netz einrichten, als kleinen Lockvogel für Geschäftsleute und Entrepreneure. Ansonsten sei New Orleans „bankrott“, sagt Nagin. „Wir haben kein Geld.“ Die Bürger von New Orleans hätten brav ihre Steuern bezahlt, weshalb es an der Zeit sei, dass Washington „uns zurückzahlt“, verlangt der Bürgermeister. Aber Washington ist weit weg und die Erinnerung an Katrinas Horror bereits so brüchig geworden, dass Louisianas Kongressdelegation möglichst viele Kongressmitglieder nach New Orleans bringen möchte. Die Zerstörung begreife nur, wer sie gesehen habe, so die Hoffnung.

Die in New Orleans Verbliebenen, Weiße wie Schwarze, wollen jedoch nicht auf ein Wunder warten. Trotzig veranstalten sie Paraden und Umzüge, innig glauben sie an die Wiederauferstehung ihrer einzigartigen Stadt. „Die Köche müssen eben ein bisschen besser kochen und die Musiker ein bisschen besser spielen“, sagt Lee Arnold, der Manager der Hot8, eines hervorragenden Funk-Ensembles aus acht Bläsern und Trommlern. Heller als jemals zuvor werde New Orleans erstrahlen, meint Arnold.

Der Tontechniker Nelson Eubanks hat die prächtige Musik der Combo mitgeschnitten, als sie neulich durch den Faubourg Marigny marschierte, um sich und den Bewohnern Mut zu machen. Er spielt das Band ab. Natürlich sind darauf keine Untergangsklänge zu hören. Beflügelt von den stolzen musikalischen Traditionen der Stadt, paradierten die Hot8 durch das Viertel und spielten, was die Instrumente hergaben. „Helft uns ein bisschen, damit wir uns selber helfen können“, verlangte ein Banner entlang der Route. „Helft uns ein bisschen.“ Als ob es zu viel verlangt wäre.

Von Martin Kilian, New Orleans
Martin Kilian ist Korrespondent des Zürcher „Tagesanzeiger“.