Schengen-Reportage: Passieren, bitte!

Reportage: Passieren, bitte!

Grenzen: Eine Erkundung am neuen Ende Europas

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Die gefrorenen Äcker hinter den Hügeln sind Rom und Paris. Der kahlgeschlagene Wald ein Stück weiter könnte Berlin sein. Barcelona und Madrid liegen plötzlich am polnischen Nordrand. Und auch Wien ist dann nur noch ein schlammiger Parkplatz im Westen der Slowakei.

Wer die ukrainischen, weiß- oder rein russischen Grenzposten einmal passiert hat, den trennt nur noch ein europäischer Zollbalken von der absoluten Reisefreiheit innerhalb der EU. Wer dann seinen Fuß auf die Äcker, Wälder und Straßen des ehemaligen Ostblocks setzt, steht plötzlich mitten in Europa.

Ab 21. Dezember wird der Schengen-Raum nach Osten erweitert. Von Schweden bis Slowenien, von Estland bis Portugal lässt sich dann ohne Passkontrollen reisen. Dann fallen auch Österreichs Grenzen zu Ungarn, Slowenien und der Slowakei. Neun neue Mitgliedsstaaten schützen stattdessen die europäischen Außengrenzen Richtung Osten. Nicht ganz ohne Anlaufschwierigkeiten: 58-mal besuchten Kontrollore der Europäischen Kommission die Grenzen der neuen Cerberus-Staaten, immer wieder beanstandeten sie massive Mängel. Als Österreich – zum Vergleich – 1998 der Schengen-Zone beitrat, genügte eine einzige Stippvisite.

Damals ersetzte das österreichische Bundesheer mit seinem Assistenzeinsatz den kurz zuvor abgebauten Eisernen Vorhang an der österreichischen Grenze. Gefallen ist dieser aber in Wahrheit nie, nun wird er lediglich einige hundert Kilometer nach Osten versetzt. Fünf entsprechende Szenen aus fünf Ländern.

Die Sex-Sklavinnen von Zahony, Ungarn

Der kleine Bahnhof von Zahony ist eines Expresszugs kaum würdig. Moskau, Kiew, Budapest, Rom passiert er auf seiner Fahrt. Und doch muss er jedes Mal im Morgengrauen im kleinen ungarisch-ukrainischen Grenzort stehen bleiben.

Zwei ungarische Grenzbeamte bitten drei junge Frauen aus dem Zug. Ihre rumänischen Pässe sind echt, die Fotos dazu auch. Nur: Sie passen nicht zusammen. Die Dokumente sind manipuliert, die Damen in Wahrheit Moldawierinnen – und die Grenzer keineswegs überrascht. Rumänische Ausweise sind beliebt, weil nicht mit Plastik verschweißt, Fotos lassen sich leicht austauschen. Als EU-Bürger werden Rumänen weniger streng kontrolliert. Rumänische Pässe wandern gegen Bares zuhauf über die Grenze nach Moldawien, ebenso viele Moldawier damit aus ihrem Heimatland aus. Allein in den vergangenen zehn Jahren kam der jungen Ex-Sowjetrepublik eine ihrer ehemals fünf Millionen Menschen abhanden. Vor allem junge Frauen werden von Menschenhändlern geködert und verschwinden dann in den Bordellen Europas. Der Schlepper dieser drei Damen wird in derselben Nacht noch aus dem Zug gefischt. Ihre moldawischen Pässe hat er im Gepäck. 5000 Dollar müssen Moldawier für Schlepperdienste hinblättern, ein Staatsanwalt verdient – zum Vergleich – gerade einmal 120 Dollar pro Monat.

Die Grenzer kennen das: Erst vor Kurzem versuchte ein Schlauchboot mit 36 Menschen vom ukrainischen Ufer der Theiß auf die ungarische Seite zu übersetzen. Die meisten von ihnen waren Frauen, Nachschub für die Sex-Industrie im reicheren Teil Europas. Das Boot kenterte, die Grenzer holten die unfreiwilligen Schwimmer aus dem kalten Wasser. „Wenn Schengen kommt, bedeutet das für uns nicht Neues“, sagt Postenkommandant Csaba Attila Kovacs. „Wir haben schon alles gesehen.“ Die großen Migrationsströme der neunziger Jahre seien ohnehin abgeebbt. Damals stoppte er mit Kollegen eine Truppe von rund 80 Afghanen im grünen Grenzland. Ihr Schlepper zückte eine Waffe und schoss sich vor den Augen der Beamten in den Kopf. „Er wollte offenbar nicht ins Gefängnis“, sagt Kovacs trocken. „Ich sag’s Ihnen ja: Wir haben schon alles gesehen.“

Big Brother in Vysné Nemecké, Slowakei

„Wir sehen alles!“ – Innenminister Robert Kalinak liebt das Spielzeug in seinem Amtssitz in Bratislava. Einer überdimensionalen Playstation gleich hängt ein riesiger Flachbildschirm seinem Schreibtisch gegenüber. Per Mausklick kann der 36-Jährige tausende Kameras am anderen Ende der Slowakei steuern. Von 98 Kilometer grüner Grenze zur Ukraine sind rund 40 Kilometer lückenlos videoüberwacht, alle 186 Meter jeweils drei Thermokameras montiert. Jeder Grenzübertritt löst Alarm aus, die Kameras zeichnen auf, die GPS-Koordinaten werden via Satellit sofort an die Grenzbeamten gefunkt: Menschenjagd im 21. Jahrhundert. „Wir wissen genau, wo die Illegalen sind, und müssen sie nur noch einsammeln“, sagt Kalinak. Und fügt in gebrochenem Englisch hinzu: „… just like in a supermarket.“

2849 Menschen aus Pakistan, Bangladesch, Russland, Georgien und Moldawien baten vergangenes Jahr um Asyl in der Slowakei, nur acht wurden als Flüchtlinge anerkannt (zwei davon aus Kuba). Dass viele Asylwerber angesichts solcher Perspektiven gar nicht abwarten, bis sie zurückgeschickt werden, sondern einfach illegal über die dann offenen Grenzen ins reichere Mittel- und Westeuropa weiterwandern, ficht den slowakischen Minister nicht an. „Wir können sie ja nicht einsperren.“

Er will lieber über Erfolge reden: Mit den nun 890 Grenzbeamten, statt der früheren 240, würden nun auch flinke Jungs wie jene zwei Moldawier gefasst, die gerade in der vergitterten Grenzzelle auf Rückführung warten: Sie waren illegal über die Grenze gerobbt, um in Polen ebenso illegal zu jobben. 880 Euro verdienen Grenzbeamte, 660 Euro beträgt der Durchschnittsverdienst in der Slowakei, gar nur 400 in der östlichen Grenzregion. Trotzdem funktioniert das System keineswegs perfekt: Jahrelang wurden Beamte, die an der Grenze zu Österreich wenig vertrauenerweckend agierten, an den slowakischen Ostrand zwangsversetzt. Das rächt sich nun, wie der Minister auf Rückfrage bestätigt. Er zückt das Handy und liest eine SMS vom Display ab: „Heute Morgen gab es eine Inspektion einer slowakischen Grenzstation. Eine Schlepperbande wurde verhaftet: sechs Slowaken, darunter ein Grenzpolist.“

Die Kreisgänger von Medyka, Polen

Die Zeichnung im Büro der Grenzwache ist unmissverständlich: zwei Hände, ein Geldschein – darüber ein fettes rotes Kreuz. Bestechung wäre auch kaum nötig, der Import von Zigaretten floriert hier legal. Denn in Medyka, der Grenzregion zwischen dem polnischen Przemysl und dem ukrainischen Lviv (dem ehemaligen Lemberg), darf man zu Fuß zwischen den Welten pendeln. Unter österreichisch-ungarischer Kaiserflagge vereint, wurden viele Familien bei der Grenzziehung 1945 zerrissen. Der Fußweg soll sie wieder verbinden.

Hunderte Menschen stehen hier täglich an, dicht gedrängt, wie Vieh in vergitterte Kontrollschleusen gepfercht. Doch nicht aus privaten Motiven nehmen sie die Prozedur auf sich, mehr aus beruflichen: Bei jedem Grenzübertritt bringen sie – ganz legal – eine Stange Zigaretten in die EU. Knapp fünf Euro kostet die Stange in der Ukraine, das Doppelte in Polen. Kauf, Grenzcheck, Verkauf und retour: Tausende Menschen in der verlassenen ukrainischen Grenzregion überleben nur, indem sie an der Grenze täglich mehrmals im Kreis gehen. Auch viele Polen opfern ihre Nächte, um sich ein Zubrot zu verdienen.

Alternativen gibt es kaum: In dieser verödeten Gegend stehen Blockbauten leer, werden Bauernhöfe verlassen, und die Dörfer überaltern, bis sie von der Landkarte verschwinden. Nachts dröhnen im Wald benzingetriebene Motorsägen: Wer nichts zu heizen hat, für den haben Eigentum und Naturschutz nur relative Bedeutung. Am verlassenen Grenzzaun gellen Schüsse durch das, was vom Wald noch übrig ist. „Jäger“, werden die Grenzbeamten später sagen. Was im Winter gejagt wird, lassen sie offen.

Wer hier jung ist, geht, wenn möglich, ins Ausland, wenn nicht, zumindest in die Stadt. Selbst auf polnischer Seite fehlt eine ganze Generation 20- bis 30-Jähriger. Der Rest Europas hat sie aufgenommen: Rund 600.000 junge Polen haben Teile Londons bereits fest im Griff.

Medyka ist eine der wenigen Grenzstationen für Autolose. Die meisten anderen Grenzen sind nicht zu Fuß, sondern nur mit Pkw zu passieren. Letztere fahren freilich nur Privilegierte. Auch auf diese Weise lässt sich Armut von Europa fernhalten. Die ukrainische Regierung konterkariert die EU-Strategie allerdings: Einer verarmten Witwe, die mit ihren acht Kindern nahe der Grenze in einem besseren Stadl haust, stellen ukrainische Behörden als Soforthilfe zwei Dokumente aus: einen Sozialpass, der ihr eine erleichterte Einreise im kleinen Grenzverkehr ermöglicht, und einen permanenten Freifahrtschein für den staatlichen Bus. Auch so kann man sich der Armut im Land entledigen.

Zloty-Handschläge in Rava Rus’ka, Ukraine

„Entschuldigen Sie bitte vielmals“, sagt der Mittsechziger im ausgeleierten Sakko, „aber die Socken müssen so stinken – wegen der Hunde.“ Gekonnt schiebt er die 16 weiß-golden blitzenden Zigarettenstangen in lange schwarze Strümpfe und verstaut sie entlang der Gurtenführung am Rücksitz seines Wagens. Vor dem schwarzen Filz der Autopolsterung werden sie gleichsam unsichtbar. Der strenge Geruch soll die vierbeinigen Zollbeamten irritieren. Für die zwölf Flaschen Wodka gibt es andere Verstecke, der Zusatzkanister Benzin geht als angeblicher Eigenverbrauch für den ramponierten Achtziger-Jahre-Mazda durch.

Die ukrainischen Grenzbeamten sind besser ausgestattet: Neue Skodas, mittlere Audis und sogar ein BMW parken beim Amtshaus. Fürsorgliche Behandlung ist dennoch nicht zu erwarten: Fünf Uniformierte reißen die Autotür auf, stützen die Hand an den dicken hölzernen Schlagstock an ihrem Gürtelhalfter und stellen Fragen. Und alle fünf werden geschmiert: Der Mittsechziger am Steuer grüßt jeden Einzelnen mit freundlichen Worten und noch freundlicherem Handschlag. Jedes Mal verschwinden dabei ein paar Zloty-Scheine im Gegenwert einiger Euro aus seinen Fingern. Bei mehreren tausend Grenzgängern pro Tag reicht es dann und wann schon für einen Mittelklassewagen.

Der Mann im ausgeleierten Sakko sagt, die Grenze zur Ukraine sei wichtig – nicht nur, um schmuggeln zu können: „Mit ihren enormen Landwirtschaftsflächen würden die uns Polen sofort vom Markt verdrängen.“ Ähnliche Argumente waren bei Polens Beitritt aus Österreich und Deutschland zu hören. Er selbst, pensionierter Bauer, lebt von einer kleinen EU-Rente. Seine Frau arbeitet seit Jahren in Bologna, um dort eine kranke Dame zu pflegen. Waren es früher die Männer, die als Bauarbeiter nach Westen zogen, um Geld nach Hause zu schicken, sind es nun die Frauen, welche die Familie ernähren. Dass den zum Hausmannsdasein Verdammten das in seiner Männlichkeit trifft, ist nicht zu überhören.

Auch die Polen finden nichts im Auto, vielleicht auch deshalb, weil sie den Österreicher im Wagen nicht des Schmuggels verdächtigen und extra aussteigen lassen wollen. Sosehr sich die Polen gegen ihr böses Autodieb-Image in Westeuropa verwehren, so sehr sind auch sie selbst nicht frei von nationalen Vorurteilen. Seinen alten Mazda würde der Hobbyschmuggler nie an der Grenze stehen lassen, sagt er: „Den Urkainern ist ja nicht zu trauen.“

Lukaschenko als Fluchthelfer in Terespol/Brest, Polen/Weißrussland

„Sie haben ein falsches Bild von der Situation“, sagt der polnische Kommandant der Grenzstation Terespol. Der Übergang nach Brest ist die Hauptachse für den Güterverkehr zwischen Berlin und Moskau. Bis zu 250 Lkws warten hier zu Spitzenzeiten tagelang auf Abfertigung.

Doch hier kommen tschetschenische Flüchtlinge nicht über die südliche grüne Grenze mit der Ukraine. Nur die wenigsten würden nachts durch Wälder schleichen oder den Grenzfluss Bug durchwaten. Nein, Tschetschenen kommen über den Norden, über Weißrussland. Und: mit dem Bus. Unter Russlands Militär leidend, sind sie dennoch russische Staatsbürger. Mit ihren Pässen sind sie im befreundeten Weißrussland willkommen. Und weder Russlands Präsident Wladimir Putin noch Weißrusslands autoritärer Staatschef Alexander Lukaschenko weinen emigrierenden Tschetschenen eine Träne nach. Wie bei Heizdeckenfahrten kommen vollbesetzte Reisebusse aus der historischen weißrussischen Grenzstadt Brest über die einzige Schwerverkehrsbrücke. Vor den Augen der Grenzbeamten geben sie dann ihre russischen Pässe ab und bitten um „Asyl“.

„Nur wenn’s manche vergessen zu sagen, wird’s kompliziert“, sagt ein Beamter. „Dann muss man sie zurückschicken, was zu diplomatischen Verwicklungen führen kann.“ Denn zurücknehmen will man die Flüchtlinge nicht. Zuletzt machen weißrussische Behörden so viele Probleme, dass Polen die Tschetschenen freiwillig aufnimmt. Ansonsten klappen Grenzkontrollen auf weißrussischer Seite bestens: Als die obersten polnischen Grenzbeamten von ihren weißrussischen Kollegen vor Kurzem nach Minsk zur Besprechung besserer Kooperation geladen wurden, wurden sie an der Grenze von weißrussischen Beamten gefilzt. Und das mehrere Stunden lang.

Von Josef Barth/Polen, Ukraine, Slowakei, Weißrussland und Gregor Mayer/Ungarn