Reportage: Sein Name war Palästina

Ein vaterloses Volk in einer schwierigen Zeit

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Als am vergangenen Donnerstag, einem klaren Novembermorgen, in Ramallah die Sonne aufgeht, strahlt Jassir Arafats Antlitz. Es strahlt von den Häuserwänden, von den Rollläden der Geschäfte, von den Pfählen der Straßenlampen, von den steinernen Löwen am Hauptplatz des Stadtteils al Manarah. Es ist ein Gesicht, so vertraut wie der Sonnenaufgang. Die schmalen, wachen Augen, die dicken Lippen, die breite Nase, der weiße Stoppelbart, die schwarz-weiße Kuffiye. Weder der Name steht darunter, noch eine Botschaft. Kein Wort.

Bald beginnt hier und da jemand, das Poster vorsichtig abzulösen, um es auf sein Autofenster oder auf seine Haustür zu kleben. Noch sind nicht viele Leute auf der Straße, sie stehen in kleinen Gruppen beisammen oder sitzen am Bordstein. Es ist sonderbar, aber Poster von Arafat haben lange nicht mehr in Ramallah gehangen. In den vergangenen Jahren plakatierte man die Konterfeis der von der israelischen Armee getöteten Hamas-Führer, eingesperrter Intifada-Aktivisten oder toter Selbstmordattentäter. Diese Bilder wollten etwas hinausschreien, sie sollten Hass auf die Israelis schüren, Rachsucht wecken, den Märtyrertod verherrlichen. Das Poster von Arafat schweigt.

Gegen sieben Uhr bildet sich am Hauptplatz langsam eine Menge. Der Muezzin ruft, die Fahrer der gelben Sammeltaxis parken ihre Autos mitten auf der Fahrbahn, ein Taxifahrer klettert auf das Autodach, befestigt dort ein Arafat-Poster und beginnt mit erhobener Faust zu schreien. Eine Reporterin des arabischen TV-Senders Al Jazeera spricht in die Kamera, bricht plötzlich ab und hält sich die Hände vor das Gesicht. „The President“, sagt ein Mann zu einem ausländischen Journalisten und deutet mit einer Hand an, die Kehle sei durchgeschnitten.

Arafat ist tot. Gestorben nach tagelangem Koma im Pariser Militärspital Percy um 3.30 Uhr MEZ, halb fünf in Ramallah.

Die Palästinenser reagieren auf die Nachricht anfangs gedrückt. Später, als sich Massen zusammenfinden, werden Fahnen geschwenkt, Schüsse in die Luft abgegeben, und es wird geschrien und skandiert. All das sind eingeübte Reaktionen, hunderte Male erprobt nach erlittenem Unrecht und schmerzenden Verlusten. Dieser Morgen jedoch ist so, wie noch keiner war, seit es die Palästinenser gibt.
Ein Volk fühlt sich verloren.

Bis vor wenigen Wochen gab es in Ramallah ein kleines Fenster, das den Palästinensern das Gefühl gab, sie haben einen Vater, der immer für sie da sei. Das Fenster liegt im Erdgeschoss eines Gebäudes des Hauptquartiers des Präsidentensitzes, der Mukata. Jeder konnte sich hier an Werktagen anstellen und einen Antrag auf finanzielle Unterstützung durch das Fenster abgeben. Auf Formularen, gerichtet an den „Präsidenten der Autonomiebehörde“, baten Leute um Geld für Medikamente, Operationen oder auch für Lebensmittel. Ein Angestellter sammelte die Formulare ein und fasste sie auf Listen zusammen. Name, Ersuchen, gewünschter Betrag. Und diese Listen wurden tatsächlich an Jassir Arafat weitergegeben, der die Anträge handschriftlich genehmigte, und zwar ausnahmslos alle. Der Präsident war höchstpersönlich damit befasst, über Beträge von ein paar hundert Dollar zu verfügen.

Mehr noch, als Arafat schwer erkrankte, blieben die Anträge liegen. Niemand außer dem Präsidenten hat die Befugnis, Auszahlungen zu ermächtigen. Arafat wollte das so. Er war „al Walid“, der Vater, der sich um sein Volk kümmerte. Jetzt ist der Vater tot, und er hat es in vielen Belangen verabsäumt, seine Kinder zur Mündigkeit zu erziehen.

Nationalbewusstsein. So absurd dieses Vater-Kinder-Verhältnis zuletzt erschienen war, so natürlich hatte es sich entwickelt. Arafat war tatsächlich zum Vater des palästinensischen Volkes geworden, indem er die heimatlosen Flüchtlinge, die nach dem Unabhängigkeitskrieg Israels und dem Sechstagekrieg von 1967 zwischen Ägypten, Gaza, dem Westjordanland, dem Libanon, Jordanien und in der Diaspora verstreut waren, zum Gegenstand seiner revolutionären Bewegung machte und als Volk adoptierte. Die Palästinenser waren geboren, und Arafat hatte sie zwar nicht erschaffen, aber ihr Nationalbewusstsein zur Welt gebracht.

Arafat und Palästina wurden zu Synonymen. Arafat verkörperte den Kampf für Selbstbestimmung und für einen Staat, Arafat war das Versprechen, dass der Kampf erfolgreich sein würde. Die bewaffnete Rebellion und das kompromisslose Ansinnen, Israel auszulöschen, waren ebenso untrennbar mit dem Namen Arafat verbunden wie später die Friedensverhandlungen und das Projekt der Zweistaatenlösung.

Es gibt eine Frage, die kaum ein Palästinenser beantworten kann: Wann haben Sie zum ersten Mal den Namen „Arafat“ gehört? Anan lächelt. Ebenso gut könnte man ihn fragen, wann er zum ersten Mal das Wort „Wasser“ gehört hat. Anan ist 28 und Polizist, Arafat hat sein Leben mitbestimmt, so wie keine palästinensische Biografie ohne Arafat auskommt.

Als Arafat das Friedensabkommen von Oslo unterzeichnete, schrieb sich Anan in eine Hotelfachschule ein. Palästina würde bald boomen, wie es aussah, und der sanfte, umgängliche junge Mann sah sich bereits, von Palästina-Touristen umgeben, an der Rezeption stehen. Bald zeichnete sich ein Debakel ab. Arafat scheiterte an den Israelis oder an sich selbst, darüber gehen die Meinungen auseinander, jedenfalls verdrängte die Gewalt die Friedenspläne, und in Anans Familie waren Opfer zu beklagen. Murat, ein Bruder Anans, wurde bei Zusammenstößen mit der israelischen Armee erschossen, ein anderer Bruder verlor ein Auge.

Anan selbst blieb der Gewalt und Arafats Partei, der Fatah, fern und hätte gern noch weiter studiert, aber daran war nicht mehr zu denken. Schließlich ergriff er die Chance auf einen Job und ließ sich zum Polizisten ausbilden; ein Beruf, der ihn nie interessiert hatte, aber Arafat lag der Aufbau eines großen und gleichzeitig in viele Gruppierungen zersplitterten Sicherheitsapparates am Herzen. Privat liest Polizist Anan Literatur über linke Revolutionäre und hat daheim ein Bild von Che Guevara hängen. Und Arafats Bild? „Das trage ich im Herzen“, sagt er.

Arafats Stellung als Übervater hat viele Palästinenser in die Schizophrenie getrieben. Sie haben dem Politiker Arafat längst die Gefolgschaft aufgekündigt, aber sie können sich emotional nicht von ihm lösen. Sich gegen Arafat zu stellen hieß, sich gegen das palästinensische Volk zu stellen, denn Arafat repräsentierte die Palästinenser in der Welt. Fragte man in den vergangenen Jahren Palästinenser, was sie von Arafat hielten, antworteten viele mit einem Seufzen: „Ach, Arafat!“

Ebenso wie Arafat das Leben der Palästinenser wesentlich bestimmte, erduldete er selbst beispielhaft deren Schicksal. Als Israel als Reaktion auf die im Herbst des Jahres 2000 begonnene, neue Intifada das Westjordanland militärisch besetzte und die Bevölkerung durch unzählige Checkpoints und immer wieder verhängte Ausgangssperren einschnürte, wurde Arafat zum prototypischen Gefangenen. Drei Jahre lang, bis zu seinem Ende, saß er in der Mukata in Ramallah fest. Arafat war zwar immer anwesend, immer in Ramallah, aber nie präsent. Die Palästinenser konnten sich langsam an ein Leben ohne Arafat gewöhnen.

Fatalismus. Die von Israel besetzten Palästinensergebiete bedürfen heute der Nothilfe der internationalen Gemeinschaft. Armut und Arbeitslosigkeit sind allgegenwärtig. Das Leben ist viel härter als in den wenigen Jahren des Friedens nach Oslo. Im vergangenen Oktober tötete die israelische Armee 165 Palästinenser, das ist die höchste Zahl seit der Radikalisierung des Konfliktes im Jahr 2002, aber kaum jemand hat international davon Notiz genommen. Arafat, das wussten die Palästinenser, konnte ihnen längst nicht mehr helfen.

Fadi Shaheen sitzt abends gern im Café al Arabi im Zentrum von Ramallah. Der 20 Jahre alte Student kommt aus einer wohlhabenden Familie, er studierte ein Jahr lang in Kanada Ingenieurwissenschaften. An diesem Abend, es ist Montag der vergangenen Woche, gilt Arafat bereits als so gut wie tot, aber im al Arabi spielen die Männer an allen Tischen Karten und rauchen Wasserpfeifen. Fadi sagt, dies sei keine emotionale Gleichgültigkeit, sondern Fatalismus: „Wir haben seit den israelischen Militärinterventionen im Jahr 2002 den Glauben an die Politik aufgegeben.“ Damals hätten die Palästinenser alles verloren. Und doch, sagt Fadi später, verberge sich hinter der Gelassenheit der Männer auch Angst vor der Zukunft. Arafat hatte viele Gesichter, aber man kannte sie alle. Was wird jetzt kommen?

„Die Revolution ist vorüber“, sagt Ruba Abu Roqtti, eine 28 Jahre alte Palästinenserin. In Arafats Person habe diese Ära bis zuletzt weitergelebt, doch ab sofort würde der Mythos durch demokratische Institutionen ersetzt, durch Herren in grauen Anzügen, deren Kompetenzen klar umrissen seien. Ruba verkehrt in den wenigen schicken Lokalen Ramallahs wie der Bar „Chez Vatche’s“, trägt Jeans und enge Blusen und wünscht sich ein Leben „wie in Brüssel“. Aber als im Fernsehen zum ersten Mal die Nachricht gesendet wurde, Arafat werde bald sterben, war sie traurig.

Für Bürger anerkannter Staaten mit richtigen Grenzen, Hauptstädten und Reisepässen ist es schwer vorstellbar, welche Bedeutung Symbole für die Palästinenser haben – und erst recht deren Verlust. Der Zustand der Mukata zeigt, wie weit das Palästina, das Arafat hinterlässt, von einem Staat entfernt ist. Zum Teil sind die Fassaden völlig zerbombt, eine Badewanne im ersten Stock steht völlig im Freien, eine Etage darüber ist eine Wäscheleine zwischen den Mauerresten gespannt. Tatsächlich wohnen in der Ruine noch die Kämpfer von Arafats Leibgarde „Force 17“.

Der große Platz innerhalb der Mukata, auf dem sich beim Begräbnis tausende von Menschen drängen, war bis vor kurzem noch von Autowracks und seltsamen Stelen übersät. Arafat hatte Blechfässer, aus denen Metallstangen ragten, mit Zement füllen und so aufstellen lassen, dass auf dem Platz kein israelischer Hubschrauber landen konnte. So wollte er verhindern, dass er entführt und deportiert wird.

Ein Schrei. Vergangenen Freitag, am frühen Nachmittag, landen hier zwei Hubschrauber mit dem Sarg des toten Palästinenserführers. Arafat ist via offizielle Trauerfeier in Kairo heimgekehrt. In diesem Moment wird für die Palästinenser der Tod ihres Präsidenten und Vaters wahr. Die Menge gerät außer sich. Der Sarg, eingehüllt in die palästinensische Flagge, wird aus dem Hubschrauber gereicht, ein Schrei geht durch die Massen.

Nichts konnte die Palästinenser auf diesen Moment vorbereiten. Im Sarg liegt der Vater, der Held, der Mann, der die Rechte erkämpft hat, die den Palästinensern zuerkannt, aber noch nicht verwirklicht wurden. Das Volk zollt Arafat auf beeindruckende Weise Respekt. Nicht durch zeremonienhaftes Benehmen, sondern durch überschwängliches Chaos, das beweist, wie sehr die Palästinenser mit ihrem toten Präsidenten verbunden sind. „Arafat hätte dieses Begräbnis geliebt“, kommentiert die palästinensische Abgeordnete Hanan Ashrawi auf CNN.

Arafat konnte den Palästinensern keinen Staat vermachen, aber er hinterlässt ein palästinensisches Volk.