Leitartikel: Sven Gächter

Ressentimental

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Franz Beckenbauer ist völlig zu Recht ein gefragter und hoch bezahlter Mann. Kein anderer bringt banale Einsichten so unprätentiös auf den Punkt: „Dritter ist besser als Vierter“, meinte er im Hinblick auf die Motivation der deutschen Nationalmannschaft für das kleine Finale gegen Portugal. Doch Beckenbauers Expertise reicht weit über die Kerndomäne Fußball hinaus. Dem Reizthema Patriotismus etwa nähert er sich mit der Nonchalance des vom Volk per Akklamation gekrönten Kaisers – standesgemäß in einem Hubschrauber, der ihn während der WM mehrmals quer durch ganz Deutschland flog. „Aus dieser Höhe ist jedes Detail genau zu erkennen. Ich kann mich gar nicht satt sehen. Wir leben in einem Paradies!“, schwärmte Beckenbauer buchstäblich von weit oben herab: „Alles sieht so sauber aus, die Dörfer, die Städte, die vielen roten Dächer. Aber auch die Felder. Sauber und ordentlich. Diese Ordnung fasziniert mich. Ich mag das genau so, wie es ist.“

Der Mann, der die Fußballweltmeisterschaft eigenhändig nach Deutschland geholt hatte, war offenbar schon zu entrückt, um zu bemerken, dass die penible Ordnung, die er so ergriffen pries, in den vergangenen Wochen auf den Kopf gestellt wurde. „Deutschland hatte die Welt zu Gast, und die Deutschen erkannten, dass sie selbst längst viel multikultureller und internationaler sind, als sie von sich und andere über sie annahmen“, schrieb der „Spiegel“ und scheute auch keineswegs das prekäre P-Wort: „Wenn schon Patriotismus, dann diesen!“

Es war sehr aufschlussreich, in den vergangenen Wochen die spezifisch österreichischen Ausformungen von Fußballbegeisterung zu beobachten. Das Anti-Piefke-Syndrom, bisher ein lager- und gesinnungsübergreifender Konsens, brach an allen Fronten auf. Leidenschaftliche Verächter des „Rumpel- und Gruselkicks“ bekannten zerknirscht, vom Spiel der deutschen Mannschaft geradezu hingerissen zu sein. Die wenigen Versprengten, die in Internet-Foren oder bei „public viewings“ unverdrossen ihrem tief sitzenden Hass auf die „Scheiß-Piefke“ frönten, wurden entweder streng zurechtgewiesen oder schlicht ignoriert.

Um Fußball ging es dabei immer weniger. Nach einhelliger Meinung ist es den WM-Gastgebern gelungen, das im kollektiven Bewusstsein abgespeicherte Bild vom gemeinen Teutonen so nachhaltig zu revidieren, dass die Deutschen sich mittlerweile sogar selbst gern mögen. Eine durchaus historische Leistung, mit der niemand ein ernsthaftes Problem haben kann – außer vielleicht die Österreicher. Sie stehen nun nämlich vor der Herausforderung, sich von einem geliebten Feindbild zu verabschieden.

Der österreichische Patriotismus war über Jahrzehnte hinweg zentral durch eine mehr oder minder rabiate Abgrenzung gegenüber allem Deutschen definiert. „Diese antideutschen Affekte“, schreibt Anton Pelinka in der aktuellen „Zeit“, „haben viel mit dem Bedürfnis des kleinen Bruders zu tun, der sich gegen den großen nicht aufzulehnen wagt“ – zumindest nicht offen, weshalb nur ein rettendes Ventil bleibt: das Ressentiment. Und im Ressentiment wider das Deutsche an sich mutierten hierzulande selbst gestandene Linke gern zu astreinen Rassisten. Wenn nun aber der große Bruder dem unsympathischen Klischee plötzlich nicht mehr entspricht, dann droht dem kleinen Bruder eine schwere Identitätskrise, weil er dazu gewungen wird, ein authentisches Selbstverständnis zu formulieren, das sich eben nicht in bewährten Abgrenzungsreflexen erschöpft.

Es ist nicht auszuschließen, dass der antideutsche Furor in Österreich bald wieder sein hässliches Haupt erheben wird. In zwei Jahren droht die Fußball-EM, und die Gastgeberländer Österreich und Schweiz (wo der Piefke zwar „Schwob“ – von „Schwabe“ – heißt, sonst aber traditionell einen ähnlich miserablen Ruf genießt) verzweifeln wohl jetzt schon daran, der fulminanten deutschen WM-Vorgabe jemals gerecht werden zu können. Die Schweiz hat allerdings einen unschätzbaren Startvorteil: Ihre Nationalmannschaft ist nicht nur automatisch für das Turnier qualifiziert, sondern im internationalen Vergleich auch satisfaktionsfähig, während das ÖFB-Team derzeit sogar himmelweit von jenem Niveau entfernt ist, das der deutschen Jammertruppe zu Beginn der Ära Klinsmann vor zwei Jahren attestiert wurde.

Österreich wird also nicht aufhören, sich an seinem großen Bruder zu reiben – jetzt erst recht nicht. Dass der Piefke in aller Welt plötzlich so gut dasteht, ist eine Schmach, die gesühnt werden muss: durch eine besonders penibel organisierte, multikulturelle, ausgelassene, kurz: rundum perfekte EM, die alles in den Schatten stellt, was die WM in Deutschland so unwiderstehlich gemacht hat. Für den Ernstfall müssten allerdings frühzeitig Sicherheitsvorkehrungen getroffen werden. Der Ernstfall heißt: Deutschland wird Europameister.