Opernhimmel, Ideologiehölle

Richard Wagner wurde vor 200 Jahren geboren

Debatte. Richard Wagners 200. Geburtstag

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Die Angaben schwanken. Die einen schreiben von 166 Zentimetern, andere von nur 152. Richard Wagner war, so viel steht fest, ein ziemlich kleiner Großer. Vielleicht erscheinen die Fotos, die von ihm existieren, auch deshalb so inszeniert: der flaumige Backenbart, der das kantige Gesicht rahmte, die charaktervolle Nase stets napoleonhaft visionär nach rechts gewandt, dazu die den Malerfürsten à la Makart abgeschaute Garderobe mit Samtjoppe und Barett. Oder der Blick fällt von oben herab auf Cosima von Bülow, geborene Liszt, Wagners zweite Ehefrau, die für die Fotografen neben ihm nur sitzen durfte, weil sie ihn sonst überragt hätte.

Abgesehen von seinem Schwiegervater Franz Liszt hat wohl kein Komponist sich so sehr verkleidet und damit zur Marke gemacht. Doch nicht nur die Ausbildung eines Images fasziniert uns bis heute an Richard Wagner, der am 22. Mai 1813, kurz vor den Wirren der Völkerschlacht, die seine Epoche politisch prägen sollte, in Leipzig geboren wurde. Der eher dilettantisch ausgebildete Wagner war kein Wunderkind. Anfangs lebte er oft bettelarm, trotzdem verschwenderisch - das Ende fand er als von seinem Monarchen ausgehaltenes, lila Seidenunterwäsche und teure Delikatessen bevorzugendes "Pumpgenie“ am 13. Februar 1883 auf einem noch heute als Reliquie gehüteten Sofa im venezianischen Palazzo Vendramin.

Noch immer überrascht Wagners unvermittelter Schritt von der hohl klingenden Grand Opéra "Rienzi“ (1842) zum romantisch tosenden, nur ein paar Monate später uraufgeführten (aber schon früher komponierten) "Fliegenden Holländer“. Mag das von ihm auch als Librettist kreierte tönende Gesamtkunstwerk nur 13 Opern, das zärtliche Siegfried-Idyll, die fünf Wesendonck-Lieder sowie ein paar vergessenswerte Jugend- und Gelegenheitsarbeiten umfassen - um Quantität geht es in der Kunst bekanntlich weniger.

Zudem hat Wagner so viel zu Papier gebracht und sich dabei ins Nähkästchen blicken lassen wie vor und nach ihm kein zweiter Tonsetzer: Essays und Pamphlete, Werbeschriften, diverse biografische Abrisse, Hellsichtiges, Visionäres und grauenvoll Abgefeimtes, wie das gleich zweimal aufgelegte "Judenthum in der Musik“.

"Erlösung durch Vernichtung"

1976, zum 100-jährigen Bayreuth-Jubiläum, erschienen die bis dahin verschlossenen Cosima-Tagebücher, in denen die hohe Frau vom Grünen Hügel als devote Chronistin und Antisemitin stets am Mund des Meisters klebt. Gleichzeitig tobte bis zum 100. Todestag 1983 der sehr öffentlich geführte Kampf um die Deutungshoheit des Wagner’schen Werks und Nachlebens. Erst dachten Nietzsche, Glasenapp, Chamberlain, Adorno und Thomas Mann darüber nach, dann Ernst Bloch und Hans Meyer, Hartmut Zelinsky: Unablässig wurde darüber diskutiert, ob Wagner sich politisch nicht unmöglich gemacht habe und ob die deutsche Geschichte durch Wagners Idee der "Erlösung durch Vernichtung“ nicht verheerend mitbeeinflusst worden sei. Die Besucher aber strömten weiter, unbeirrt, auf den Hügel und in die Opernhäuser.

"Wagner und kein Ende“
seufzte Martin Gregor-Dellin schon 1958 - und legte 1980 die bis heute gültige Biografie vor. Der Buchberg wächst seither weiter, während der Ausstoß der darbenden Plattenindustrie überschaubar geworden ist. Trotz allem schwillt der tönende Wagnerwahn: Nie wurde der Mann aus Leipzig so viel gespielt und gesungen wie heute, selbst das Stadttheater Meiningen hat schon den "Ring des Nibelungen“ an vier Tagen und mit zwei Orchestern gestemmt. An der Wiener Staatsoper läuft dieser Tage selbstverständlich die Tetralogie unter Leitung Franz Welser-Mösts, und auch im neuen Linzer Musiktheater wird im Herbst eine Neuinszenierung starten. Vorher noch dürfen sich die Salzburger Festspiele mit Stefan Herheims "Meistersinger“-Premiere als Gegen-Bayreuth fühlen.

Es ist alles zu Wagner gesagt.
Angeblich existiert nur über Jesus, Napoleon und Hitler mehr Gedrucktes. Doch um Wagner selbst, dessen Werk bis heute in Israel nicht öffentlich gespielt werden darf, hat sich ein Gruppenbild geformt, dessen Mitspieler ihn blind verehrten, tief hassten und doch unverdrossen weiter am Mythos strickten: die beiden Ehefrauen, die vielen Geliebten, die ehelichen und unehelichen Kinder mit dem schwulen Sohn Siegfried an der Spitze, dazu die vier Enkelkinder, die öffentlich zerstrittene jüngere Nachkommenschaft; dazu König Ludwig II. von Bayern, Friedrich Nietzsche, die devoten jüdischen und nichtjüdischen Mitarbeiter, der antisemitische Bayreuther Kreis und die echten Nazis mit Adolf "Onkel Wolf“ Hitler an der Spitze.

Der NS-Diktator hatte seit seinem Erweckungserlebnis "Rienzi“ 1905 auf einem Linzer Stehplatz Wagner verehrt. Die Komponisten-Schwiegertochter Winifred brachte Hitler das Schreibpapier für "Mein Kampf“ in die Landsberger Festungshaft. Als deutscher Kanzler sorgte er später dafür, dass die von den depressiven Nachwehen des Ersten Weltkriegs bedrohten Festspiele wirtschaftlich erstarkten. Selbst in den Kriegsjahren verfrachtete die Wehrmachtsorganisation "Kraft durch Freude“ Verwundete als Publikum nach Oberfranken.

Auf dem Grünen Hügel wagte Wagner Unerhörtes:
Er gründete sein eigenes Festival. Nirgendwo wird der Mythos so sehr gepflegt, aber nirgendwo klingen Wagners Opern auch dank der speziellen Akustik in Bayreuth so besonders. Der alljährliche Premierenabend am 25. Juli gehört zu den weltweit meistbeachteten Kulturereignissen im deutschsprachigen Raum. Schon 1876 reiste der deutsche Kaiser an, die Kanzler Kohl und Schröder glänzten demonstrativ durch Abwesenheit. Für Angela Merkel ist das Dabeisein eine Herzensangelegenheit. Fotos der Damentrias gehen regelmäßig um die Welt: Sie zeigen die Kanzlerin mit den beiden - nach schweren dynastischen Kämpfen als gegenwärtige Festivalchefinnen amtierenden - Urenkelinnen Eva Wagner-Pasquier und Katharina Wagner. Und die ausgebootete Cousine Nike, die ihren Platz in der Familienloge beansprucht, sorgt für öffentlichen Gegenwind. Auch wenn keiner weiß, ob die Wagners hier noch lange das Sagen haben werden.

Jedes Jahr wieder versucht man vom Grünen Hügel aus, der immer schwerer zu realisierenden Deutungshoheit gerecht zu werden. Stardirigent Christian Thielemann, Chef von Wagners "Wunderharfe“, der Dresdner Staatskapelle, erarbeitet sich gegenwärtig als Bayreuths Musikverantwortlicher im Abgrund des Orchestergraben die höheren Furtwängler-Weihen. Patrice Chéreau, Harry Kupfer, Heiner Müller, Christoph Schlingensief, Christoph Marthaler, Katharina Wagner selbst und zuletzt Sebastian Baumgarten verstörten szenisch, Stefan Herheim und Altmeister Hans Neuenfels wurden nach anfänglichen Protesten jüngst schon gefeiert.

Wagners Werk bleibt ein schwer fassbares, für Ekstase und Ablehnung sorgendes Gebräu aus Schopenhauer und Buddhismus, Feuerbach und Edda, griechischer Antike und nordischen Runen, wo die Frauen meist geopfert werden müssen - und es bleibt kontaminiert: Die Schautafeln, auf denen der Schicksale jüdischer Sänger in Bayreuth gedacht wird, stehen im Park ausgerechnet zwischen den Arno-Breker-Büsten von Richard und Cosima. Im Vorjahr musste nach der Generalprobe des "Fliegenden Holländers“ der Sänger der Titelrolle ausgetauscht werden, weil er Nazi-Tätowierungen am Körper trug.

Und eben wurde an der sonst so braven Deutschen Oper am Rhein in Düsseldorf ein neuer "Tannhäuser“ zum Menetekel. Regisseur Burkhard C. Kosminski sorgte mit SS-Schergen, Judenerschießungen und anderen groben Regietheater-Versatzstücken der als Aufreger wohlfeilen Art für Skandal und Randale. Wegen kreuzförmiger Gaskammern und einer Nazi-Venus, die sich an Hinrichtungen delektiert, ließ mehr als ein Dutzend traumatisierter Besucher ärztliche Notdienste anfordern. Die Schlagzeilen reichten bis nach Amerika und Israel. Intendant Christoph Meyer setzte die Inszenierung nach der tumultartigen Premiere feige ab.

Solches ist in Bayreuth, wo gerade der ergraute Berliner Volksbühnen-Chef Frank Castorf erstmals einen "Ring“ schmiedet, nicht zu erwarten. Dafür ist das Wagner-Museum in der Villa Wahnfried wegen Sanierung geschlossen - und das marode Bayreuther Festspielhaus eingerüstet. Das mag man als Zeichen deuten, wie man will.