Rücktritt vom Fortschritt

Kino. Die ersten Spieltage der 64. Filmfestspiele in Cannes ließen trotz klingender Namen zu wünschen übrig

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Es mangelt Europas Regiestars derzeit merklich an Frechheit. Die ersten Spieltage des diesjährigen Filmfestivals in Cannes ließen daran keine Zweifel: Schon die Eröffnungsgala am Mittwoch vergangener Woche, die Woody Allens milde surrealistisches Lustspiel "Midnight in Paris“ zu bestreiten hatte, erwies sich als zwiespältige Veranstaltung. Einerseits sicherte sich Festivalchef Thierry Frémaux damit nicht nur ein bisschen gute Laune, sondern auch die ersehnte Präsenz des stets gern gesehenen Publikumslieblings; andererseits hatte Allens jüngste Routineproduktion neben einem grundsympathischen Hauptdarsteller (Owen Wilson) und einem offen touristischen Zugang zu seinem französischen Schauplatz nur eine einzige Idee zu bieten: Einem romantisch gestimmten Amerikaner in Paris bietet sich allnächtlich die Chance, in die goldenen zwanziger Jahre zurückzureisen, dort mit Idolen wie Scott Fitzgerald und Salvador Dalí zu plaudern und sich selbstverständlich auch zu verlieben.

Ebenfalls eine gewisse Arglosigkeit muss man Nanni Morettis Vatikan-Komödie "Habemus Papam“ attestieren, in der Michel Piccoli als soeben gewählter Papst aus schierer Panik vor der neuen Verantwortung die Flucht vor dem Amt ergreift und damit die versammelten Würdenträger in eine so tiefe Krise stürzt, dass sie sich genötigt sehen, psychoanalytische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Moretti gönnt sich als Autor, Regisseur und Darsteller den Spaß, den Vatikan zum Therapiezentrum und Sportcamp auszubauen, aber in der Freundlichkeit seines Zugangs zur Kirche schwingt wohl der Wunsch mit, das weite Feld der Nichtatheisten als potenzielle Zuschauer nicht gleich auszuschließen.

Die aktuelle Konsensstimmung dehnte sich schnell auch in die Nebenreihen aus. Mit "Restless“ gab schließlich sogar der große Gus Van Sant seinen Rücktritt von allen Hochämtern der künstlerischen Vision bekannt: Sein gelassen inszeniertes Liebesmärchen vom sterbenden Mädchen (Mia Wasikowska), das sich vom Krebs nicht die Lebenslust verderben lässt, sondern die verbleibenden Wochen lieber mit seinem Boyfriend genießt, zeugt von einer Realitätsverweigerung, die durch das Zartbitter-Aroma in allen Bildern und Geschichten eher noch verschärft wird. Wie Godard in den siebziger Jahren von den Arbeitern träumte, an die sich sein hyperintellektuelles Agitprop-Kino doch eigentlich richtete, so scheint Gus Van Sant inzwischen von einem Teenagerpublikum zu fantasieren, das seinerseits sehnsüchtig von der Liebe und dem Tod träumt. Mit "Restless“ wird er es so deutlich verfehlen wie einst schon Godard seine Fabrikarbeiter.

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Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.