Russland: Allein gegen den Kreml

Das Land verabschiedet sich von der Demokratie

Drucken

Schriftgröße

Die Fotos der Folteropfer sind unscharf, erkennbar aber ist: Blut und Qual. Die „Kadyrowzi“, die Milizen des tschetschenischen Führers Ramsan Kadyrow, fotografieren ihre Opfer mit den Kameras ihrer schicken Mobiltelefone auch gerne mal zum Spaß. Offiziell lässt sich der von Moskau eingesetzte Statthalter in Grosny bei der Eröffnung von Einkaufszentren und Spielplätzen als neuer Provinzimperator feiern. Die Wahrheit aber ist: Ramsan Kadyrow hat mit Zustimmung des Kremls in Tschetschenien ein Terrorregime aufgezogen.

Dies ist der Inhalt des letzten Artikels von Anna Politkowskaja, den die 48-jährige Journalistin der „Nowaja Gaseta“ nicht mehr zu Ende schreiben konnte (Auszüge auf Seite 67). Am 7. Oktober wurde sie im Lift ihres Wohnhauses in der Lesnaja-Straße 12/8 in Moskau erschossen. Am Dienstag vergangener Woche strömten 3000 Trauernde zu ihrem Begräbnis auf dem Trojekurowskoje-Friedhof. Präsident Wladimir Putin sagte am selben Tag beim Staatsbesuch in Dresden, ihr Tod sei „für Russland schädlicher, als ihre Artikel es jemals waren“.

Die unerbittliche Reporterin wurde allerdings bloß deshalb nur von einer winzigen Minderheit der Moskauer wahrgenommen, weil Putin die landesweiten Fernsehstationen und Zeitungen auf Kreml-Kurs gebracht hat. Politkowskaja, vor einigen Jahren noch fixe Teilnehmerin in allen TV-Talkshows, konnte zuletzt nur noch in der „Nowaja Gaseta“ oder im „Echo Moskaus“ zu Wort kommen. Nun ist diese einsame Stimme gänzlich zum Verstummen gebracht worden.

Gleichzeitig offenbart die Reaktion des offiziellen Russland, welch Geistes Kind die Führung des Landes ist. Einer Journalistin, die wegen ihrer Recherche und Texte umgebracht wurde, ins Grab nachzuhöhnen, wie unwichtig ihre Arbeit gewesen sei, zeigt, „wie abgebrüht, grausam und zynisch“ Putin sei, schrieb die russisch-amerikanische Journalistin Mascha Gessen am Donnerstag vergangener Woche in ihrer Kolumne in der „Moscow Times“.

Gleichgeschaltet. Es herrscht ein neuer Ton in Russland. Wladimir Putin hat im sechsten Jahr seiner Präsidentschaft alle Macht in seiner Hand vereint: Nicht nur die Medien, auch die Parteienlandschaft und die Gerichtsbarkeit sind gleichgeschaltet. Dank der enormen Öl- und Gasvorräte und der hohen Preise, die dafür heute auf dem Weltmarkt erzielt werden, kann der Präsident schalten und walten, wie er will. Die Staatskassen sind prall gefüllt – aber auch die Geldschränke derer, die sich mit Putins Entourage arrangiert haben. Vor Kritik seiner westlichen Kollegen, seiner Großkunden, muss er sich nicht fürchten. Russland nimmt in der Korruptionsstatistik jedes Jahr einen noch schlechteren Platz ein. 2005 rangierte das Land an 126. Stelle, gleichauf mit Niger, Albanien und Sierra Leone. Das stört Putin offenbar nicht. Selbstbewusst fordert der Präsident nun ein, was ein Land von seiner Größe und Macht verdient: Einfluss auf der außenpolitischen Bühne. Und in den Weltkonzernen.

Unverständlich scheinen dem Präsidenten die Vorbehalte gegen eine größere russische Beteiligung am deutsch-französischen Flugzeughersteller EADS zu sein. Mehr als die vereinbarten fünf Prozent seien nicht drin, teilte der Bayer Edmund Stoiber Mittwoch vergangener Woche dem Russen mit: „Es gibt Grenzen.“ Seit Moskau Anfang des Jahres der Ukraine und damit indirekt auch Westeuropa kurzfristig den Gashahn abgedreht hat, weiß man im Westen, wie prekär die Beziehungen mit Russland sind. Das ändert sich auch nicht, wenn Putin wie vorige Woche betont prodeutsch kaffeeschlürfend seiner KGB-Vergangenheit in einem tristen Dresdner Stehbeisel nachhängt (siehe Seite 68).

Leichter fällt es Putin, als außenpolitischer Spieler ernst genommen zu werden. Sein Ruf steigt so schnell, wie der Stern von US-Präsident George Bush sinkt. Dessen „Krieg gegen den Terrorismus“ zeitigt wenig Erfolge und schafft im Irak und Afghanistan große Probleme. Da kann Putin sogar auf internationalen Applaus hoffen, wenn er bei neuen Krisen eigene Wege geht. Ruft Bush nach Sanktionen gegen den Iran, bremst Putin. Schneidet Washington die neue Hamas-Regierung der Palästinenser, lädt Moskau sie gleich zum Quasistaatsbesuch ein.

Konkrete Ergebnisse kann der Kreml-Herr allerdings bisher nicht vorweisen: Der Iran lenkt nicht ein, die Hamas auch nicht. Dafür schlittert Russland soeben in einen ernstlichen Konflikt mit dem südlichen Nachbarn Georgien. Der pro-amerikanische Präsident Michail Saakaschwili möchte die seit 1992 abtrünnigen Teilrepubliken Abchasien und Südossetien wieder unter georgische Kontrolle holen. Am 22. November wird Südossetien in einem Referendum für den Verbund mit Russland stimmen. Russland spricht sich in diesem Fall vehement für das Selbstbestimmungsrecht der Lokalbevölkerung aus. „Ossetien ist zu sowjetischer Zeit geteilt worden. Ein Teil gehört nun zu Russland, der andere zu Georgien“, dozierte Putin im Interview mit der „Süddeutschen Zeitung“ vergangene Woche: „Dieses Volk ist so geteilt wie einst die Deutschen.“

Deportiert. Jeden Tag heizen die Regierungen in Moskau und Tiflis den Konflikt weiter an. Seit die Georgier vier russische „Spione“ verhafteten, straft Russland die Republik im Süden mit drakonischen Maßnahmen. Georgischen Restaurants in Moskau wird das Wasser abgedreht, illegale Arbeiter hat man deportiert, der Flugverkehr nach Tiflis wurde eingestellt. Weitere „Strafmaßnahmen“ sind zu erwarten. In manchen Schulen erstellen eifrige Beamte bereits Listen von Schülern, deren Namen typisch georgisch mit -schwili oder -dse enden. Für manche Beobachter lässt dieses Spiel mit dem Feuer nur eine Interpretation zu: Es wird innerhalb der nächsten sechs Monate Krieg zwischen den beiden Staaten geben.

Und innenpolitisch führt die schrittweise Abschaffung der demokratischen Institutionen langfristig nicht zu jener Ruhe und Stabilität, wie sie das Regime verspricht. Sie zieht im Gegenteil Mord und Totschlag nach sich. Wer den dürren Mann mit Baseballkappe auf Politkowskaja angesetzt hat, wird möglicherweise für immer ungeklärt bleiben. Der Fall mit der Aktenzahl 376196 liegt in den Händen von Russlands obersten Staatsanwälten Juri Tschaika und Viktor Grin. Sie haben zwar eine Untersuchung versprochen, doch das Vertrauen der Bevölkerung in die russische Gerichtsbarkeit ist spätestens seit dem Prozess gegen Michail Chodorkowski 2004 sehr gesunken. Den Multimilliardär mit oppositionellen Ansichten hatte man wegen Steuerbetrugs zu acht Jahren sibirischem Arbeitslager verurteilt.

Die Justiz ist ein Büttel der politischen Führung. Die Polizei arbeitet nur dann effizient, wenn es einen Befehl von oben gibt. 13 Aufdeckungsjournalisten wurden in den sechs Jahren von Putins bisheriger Regentschaft ermordet. 2004 wurde der Chef der russischen Ausgabe des US-Wirtschaftsmagazins „Forbes“, der amerikanische Journalist Paul Klebnikow, erschossen. Politkowskaja und zwei weitere getötete Kollegen arbeiteten für die „Nowaja Gaseta“. Die Methode ist fast immer die gleiche. Die Tatwaffe mit ausgefräster Seriennummer wird neben dem Opfer weggeworfen. Aufklärungsquote der Auftragsmorde: null von 13.

In jüngster Zeit häufen sich die Erschießungen auch in der Geschäftswelt wieder. Bisher letztes Opfer: Alexander Plochin, der 58-jährige Direktor einer Filiale der staatlichen Vneschtorgbank, wurde Dienstag vergangener Woche in seinem Hauseingang erschossen aufgefunden. Vor zwei Wochen wurde Enver Siganschin umgebracht, er war Chefingenieur einer Tochtergesellschaft des Ölkonzerns TNK-BP. Am 13. September war der Vizechef der Zentralbank, Andrej Koslow, Opfer eines Anschlags geworden. Auch in Koslows Fall – er war immerhin ein hochrangiger Beamter – sind die Chancen auf Aufklärung minimal.

Vergiftet. Die „Nowaja Gaseta“ hat daher lieber selbst ein Preisgeld von umgerechnet 700.000 Euro für Hinweise auf den Mörder ausgesetzt. Die Kollegen wollen auch Politkowskajas Arbeit fortsetzen. „Das versteht sich für uns von selbst“, sagt Watschislaw Ismailow, der Armeekorrespondent der Zeitung. Ob er nach Annas Tod nicht noch mehr Angst als vorher habe? „Ich war Kommandant in der russischen Armee, ich kämpfte in Afghanistan“, meint der rundliche Mann gelassen. „Wir haben in der Redaktion junge Frauen, die fürchten sich natürlich. Aber man darf die Angst nicht überhandnehmen lassen.“

Ähnlich hat sich Anna Politkowskaja in einem Gespräch mit profil geäußert, das am 14. März 2005 erschien (profil 11/05): „Ich habe mir einmal gesagt, dass es keinen Sinn hat, darüber nachzudenken, was passieren kann. Denn wenn ich das tue, dann kann ich nicht mehr arbeiten.“ Direkt nach einem profil-Interview am 2. September 2004 hatte Anna Politkowskaja einen anderen Anschlag auf ihr Leben überlebt. Ihr war auf dem Flug nach Nordossetien, wo sie das Geiseldrama in einer Schule in Beslan verfolgen wollte, vergifteter Tee serviert worden. Nach einer Woche Krankenhaus kehrte sie an ihren Arbeitsplatz zurück.

Nur einmal, zu Beginn des zweiten Tschetschenien-Krieges, hatte sie die Drohungen so ernst genommen, dass sie für einige Monate Zuflucht am Institut für die Wissenschaft vom Menschen in Wien nahm.

Fassungslos vor Trauer und Wut versammelten sich Moskaus Oppositionelle Dienstag vergangener Woche auf dem Trojekurowskoje-Friedhof im Südwesten Moskaus. Im offenen Sarg war die Leiche der Journalistin aufgebahrt, das Gesicht unter der Totenschminke noch bleicher als sonst. Auf die Stirn hatte man ihr der russisch-orthodoxen Tradition gemäß ein weißes Band mit einer Fürbitte gelegt. Berge von Blumen lagen um den Sarg. „Sie war für uns wie eine Heilige“, meint die Geigerin Ludmila: „Sie schien unverwundbar.“

Viele, die gedrängt um den Sarg standen und in kurzen, verzweifelten Reden von Anna Abschied nahmen, sind selbst in unmittelbarer Gefahr. Menschenrechts-Ombudsmann Wladimir Lukin erzählte, wie er vor drei Jahren bereits von Juri Stschekotschichin, dem Chefredakteur der „Nowaja Gaseta“, Abschied nehmen musste, der an einer allergischen Reaktion auf eine unbekannte Substanz gestorben war: „Und so reiht sich ein Abschied von einem der besten und talentiertesten Menschen an den nächsten.“

Auf nationalistischen Internet-Seiten verbreiten sich sprunghaft schwarze Listen von Oppositionellen, zu deren Ermordung aufgerufen wird. Nicht alle nehmen die faschistischen Mordfantasien ernst. Doch der Staat macht deutlich, auf wessen Seite er tendenziell steht: Die faschistische Website Russianwill.org wurde erst nach monatelangen Protesten abgedreht. Die Büros von Menschenrechtsorganisationen sperren die Behörden dagegen gerne und recht rasch unter fadenscheinigen Vorwänden zu.

Verurteilt. Der Russisch-tschetschenischen Freundschaftsgesellschaft, einem bei Bürgerrechtlern angesehenen Verein, wurde gerade vergangene Woche die Schließung angedroht. Seit April 2006 ist ein neues Gesetz in Kraft, das Nicht-Regierungsorganisationen unter strenge Regierungskontrolle stellt. Unter anderem besagt es, dass derartige Organisationen nicht von einer vorbestraften Person geführt werden dürfen. Da sonst nichts gegen die Freundschaftsgesellschaft vorlag, verurteilte ein Gericht deren Chef Stanislaw Dmitrijewski im Februar 2006 wegen „Aufhetzung zu Rassenhass“ zu zwei Jahren bedingt. Somit steht der Verein – ganz legal – vor dem Aus.

Die Opposition hat allen Grund zu trauern. Das Begräbnis von Anna Politkowskaja wurde zur Demonstration der totalen Ohnmacht der russischen Intelligenzija. Die weißen Bärte der alten Dissidenten leuchteten, legendären Bürgerrechtlerinnen flossen die Tränen unter den dicken Brillengläsern hervor. Einige von früher aus dem Fernsehen bekannte Gesichter fielen auf – Personen, die seit geraumer Zeit vom Bildschirm verschwunden sind, weil sie Auftrittsverbot haben. Auffällig auch, wie wenig junge Leute der Kreml-Kritikerin die letzte Ehre erwiesen.

Es fehlte noch jemand: ein prominenter Vertreter der Regierung. „Allein die Tatsache, dass bei ihrem Begräbnis kein hochrangiger Vertreter der Regierung anwesend war, spricht doch Bände“, schimpft Grigori Jawlinski im profil-Interview (siehe links). „Es ist ein Signal an die Bevölkerung: Haltet den Mund!“ Und es ist ein Zeichen, dass die Regierung sich entweder nicht oder zu sehr betroffen fühlt.

„Man will mich schlechtmachen!“, klagte Tschetscheniens starker Mann, Ramsan Kadyrow, in einem Interview mit der TV-Anstalt NTW vergangene Woche und wies jede Schuld weit von sich: „Ich töte keine Frauen, und ich habe nie Frauen getötet!“ Gegen solche und andere Behauptungen des korrupten Bandenführers hat Anna Politkowskaja zeit ihres Lebens angeschrieben. Am 11. September meinte sie: „In Tschetschenien prügeln die ‚Kadyrowzi‘ Männer und Frauen … und schneiden ihren Feinden die Kehlen durch.“

Autoritär. Die ohnmächtige Opposition am Friedhof war sich darin einig, dass es keine Rolle spielt, ob es nun jemand aus dem Umfeld von Kadyrow oder dem Kreml war, der die für die Politkowskaja bestimmten Kugeln gezahlt hat. „Die Regierung ist deswegen verantwortlich, weil sie die Atmosphäre geschaffen hat, die diesen Mord möglich gemacht hat“, meint der Journalist Alexander Minkin.

Alle Fäden laufen an einem Ort zusammen: im Kreml. Viele Beobachter sehen Präsident Putins selbstbewusstes Auftreten, seinen autoritären Regierungsstil und die jüngsten Vorfälle als Vorspiel für den Wahlkampf 2008. „Politkowskajas Mord ist ein Zeichen für den jetzt beginnenden Kampf um die Macht nach Putins Abgang“, kommentiert Nikolai Petrow vom Moskauer Carnegie-Zentrum in der Wirtschaftszeitung „Wedomosti“.

Dem stimmen durchaus auch jene zu, die Politkowskajas Tod eher mitleidslos verfolgt haben. In der schicken Sushi-Bar Dschingi in der Moskauer Innenstadt sitzt ein kleiner Oligarch beim Abendessen. „In den nächsten sechs Monaten wird das Morden zunehmen“, meint er, „die Mächtigen verlieren zunehmend die Scheu, und der Krieg um die Macht fordert eben Opfer.“ Dann schiebt er sich noch ein Stückchen Kobe-Rind in den Mund. Ihn als Russen bekümmere dies nicht, meint er mit einem kleinen ironischen Lächeln: „Ich bin hier nur auf Geschäftsreise.“

Von Tessa Szyszkowitz, Moskau