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Russland: Die Geister, die er rief

Die Geister, die er rief

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Er sah aus wie immer. Der Scheitel war streng gezogen, das Gesicht drückte keinerlei Emotion aus. Die Losung, die der Präsident ausgab, lag ganz auf dieser Linie: „Es gibt keinen Anlass zur exzessiven Euphorie“, teilte Wladimir Putin seinen engsten Mitstreitern nach erfolgreich geschlagener Schlacht mit: „Ich bin nicht sicher, dass der Kreml die Wahlergebnisse zu seinem Vorteil nützen können wird.“

Selbst für russische Verhältnisse war die Reaktion des Präsidenten erstaunlich melancholisch. Hatte Putin bei den Parlamentswahlen am 7. Dezember doch einen triumphalen Sieg errungen. Eine bequeme Zweidrittelmehrheit, über die sein Wahlverein „Geeintes Russland“ gemeinsam mit den verbündeten Parteien in der neu gewählten Duma nun verfügt, garantiert dem Kreml-Herrn ungehindertes Regieren und eine reibungslose Wiederwahl am 14. März.

Der Grund für Putins gedämpfte Stimmung dürfte auch kaum der blutige Bombenanschlag einer vermutlich tschetschenischen Selbstmordattentäterin in der Moskauer Innenstadt gewesen sein. Die Explosion vor den Toren des Kreml am Dienstagvormittag sorgte nur kurz für Aufmerksamkeit in Russlands Machtzentrum. Auch die Versuche der Kommunisten, auf Wahlfälschung zu klagen, dürften den Präsidenten nicht sonderlich beunruhigen.
Viel mehr scheint ihm auf den Magen geschlagen zu haben, dass die Strategie der Kreml-Führung fast zu gut funktioniert hat: Die vom Kreml geschaffenen Parteineugründungen wie „Heimat“ und „Volkspartei“ haben die liberale Opposition vernichtet und die Kommunistische Partei arg dezimiert. Plötzlich steht der Präsident ohne Opposition da, aber mit neuen Freunden, die ihm lästiger werden könnten als die bisherigen Feinde: Sergej Glasjew und Dimitri Rogosin, die jungen Chefs der „Heimat“-Partei, die auf Anhieb die viertgrößte Fraktion in der Duma wurde, drohen außer Kontrolle zu geraten. Sie schüren den chauvinistischen, antireformerischen Volkszorn und könnten Putin damit in Probleme bringen, meint der Kreml-Experte und Politologe Georgi Satarow: „Wenn die neuen Politstars nationalistische Parolen rufen, gibt es im Parlament niemanden mehr, der widerspricht. Das muss der Präsident ab jetzt selber machen. Es wird für Putin schwieriger, den ausgleichenden Landesvater zu spielen.“

Schlimmer noch. Die Volkshelden Glasjew und Rogosin reklamieren für sich nun mehr als eine bloße Statistenrolle. „Jetzt sind wir dran“, meinte der 41-jährige Ökonom Glasjew am Tag nach den Wahlen. Der 39-jährige ehemalige kommunistische Jugendfunktionär Dimitri Rogosin sagte sich gleich vom Kreml los: „Lasst uns mit dem Mythos aufräumen, ‚Heimat‘ sei eine Kreml-Kreatur. Wäre dies der Fall, hätten wir 20 Prozent der Stimmen bekommen.“ Es ist kein Geheimnis, dass Rogosin gerne Außenminister werden würde und dass Glasjew zum Posten des Premierministers in der neuen Regierung nicht Nein sagen würde.

Populisten. Erst im September hatten die Kreml-Strategen die Schaffung der „Heimat“-Partei empfohlen. Um den Kommunisten zu schaden, wurde dem KP-nahen Glasjew und Putins Kaliningrad-Beauftragten Rogosin nahe gelegt, die neue Partei zu gründen. Die beiden Männer brachten alle Voraussetzungen mit, dem nicht gerade charismatischen KP-Chef Gennadi Sjuganow Wähler abzujagen.
„Wir sind keine Faschisten, wir sind linksorientierte Intellektuelle“, argumentiert Dimitri Rogosin zwar. Doch in der Wahlkampagne propagierten die beiden neuen Volkshelden Populistisches: So wurden Überlegungen angestellt, die Privatisierungen der neunziger Jahre, die zur Schaffung der Oligarchenkaste führten, rückgängig zu machen. Der liberale Politiker Anatoli Tschubais, Chef der staatlichen Stromgesellschaft, sei „zu vernichten“, lautete eine Forderung. Die abtrünnigen georgischen Provinzen Abchasien und Südossetien könnte Russland als unabhängig anerkennen, wurde verlautbart.

Die Wiederauferstehung des russischen Imperiums ist auch für Natalia Narotschnitzkaja, die Chefideologin von „Heimat“, das zentrale Thema: „Die nationale Katastrophe ist die seit 200 Jahren andauernde Orientierung nach Westen“, meint sie in ihrem Buch „Russland und die Russen in der Weltgeschichte“. Von der Industrialisierung im 19. Jahrhundert angefangen über die Revolution der Bolschewiki und die Dissidenten der Sowjet-Ära bis zu Gorbatschow seien alle zu sehr vom Westen beeinflusst gewesen. „Noch nie in diesen 200 Jahren klaffte aber zwischen den Interessen des Landes und der kleinen prowestlichen Elite so eine Kluft wie heute“, schreibt die Doktorin der Geschichte.

Wes Geistes Kind die von ihm geschaffenen Parteien sind, muss Putin beunruhigen. Der Ex-KGB-Mann aus Sankt Petersburg regiert autoritär, sein Wirtschaftskonzept ist jedoch liberal und seine Außenpolitik deutlich prowestlich. „Putin wäre es lieber gewesen, ‚Heimat‘ hätte der KP genau 4,9 Prozent der Stimmen abgejagt und wäre an der 5-Prozent-Hürde gescheitert“, meint der Politologe Nikolai Petrow vom Carnegie-Institut.

Braves Volk. Wie kampflos sich das autoritätsgläubige Volk der gleichgeschalteten Fernsehpropaganda ergab und brav die Kreuze bei jenen Parteien machte, die monatelang auf allen Kanälen heftigst beworben worden waren, erstaunt nicht nur liberale Kommentatoren. Putin selbst hatte in den letzten Tagen vor der Wahl versucht, das Ruder noch einmal herumzureißen, und sich öffentlich mit liberalen Kandidaten gezeigt, weil die aktuellen Umfragedaten das drohende Ende jeglicher Opposition bereits erahnen ließen.

Am Freitag vor der Wahl noch rasch ein demonstratives Treffen mit Anatoli Tschubais. Der Ko-Vorsitzende der liberalen „Union der Rechtskräfte“ hatte sich zuvor zwar Putins Zorn zugezogen, weil er die Verhaftung des Öltycoons Michail Chodorkowski scharf kritisiert hatte. Ganz verzichten wollte Putin auf den Reformmanager und dessen Partei aber offensichtlich doch nicht. Also diskutierte der Präsident medienwirksam mit Tschubais in dessen Funktion als Chef der staatlichen Stromgesellschaft die Vorbereitungen für den russischen Winter.

Ähnlich geht es dem Präsidenten mit Russlands Paradeliberalen Grigori Jawlinski. Als Feigenblatt für Putins „gelenkte Demokratie“ und als intellektueller Reformer in einer an hellen Köpfen eher armen Duma war der Ökonom dem Kreml durchaus nützlich. Der Fall Chodorkowski hatte die liberalen Parteichefs mitten im Wahlkampf in eine missliche Lage gebracht. Aus Überzeugung und aus demokratiepolitischen Gründen mussten sie die Kreml-Attacke auf den politisch ambitionierten Chef und Hauptaktionär des Ölkonzerns Yukos kritisieren. Bei den Wählern kam dies aber erwartbarerweise nicht sonderlich gut an. Der Milliardär und Ölmagnat ist beim großteils bettelarmen Volk nicht sonderlich beliebt. Dass sich Tschubais für einen Wahlspot auch noch im Privatjet mit Kollegen plaudernd über den Wolken filmen ließ, besiegelte sein politisches Schicksal. Die Wähler schickten die Liberalen in die Wüste.

Gegenkandidatensuche. Aus dieser könnte sie Putin allerdings auch wieder herausführen. Als Gegengewicht zu den neonationalistischen Betonköpfen in der Duma könnte der Kreml-Chef eine eher reformorientierte Regierung installieren, vermuten manche Beobachter. Dort wäre dann durchaus auch Verwendung für derzeit joblose Politiker wie Grigori Jawlinski. Die Regierungsbildung wird aber erst für die Wochen nach Putins Wiederwahl zum Präsidenten Mitte März erwartet.
Damit dieser Urnengang einen spannenden Touch bekommt und auch im Westen als demokratisch anerkannt wird, scheint Putin zu planen, außerdem einen präsentablen Gegenkandidaten antreten zu lassen. Wladimir Schirinowski, Ultranationalist und Chef der Liberaldemokratischen Partei, der seine Kandidatur bereits bekannt gegeben hat, ist für diese Rolle jedenfalls nicht geeignet. Deshalb wird jetzt der Duma-Routinier Wladimir Ryschkow als liberaler Gegenkandidat propagiert. Der reformorientierte Historiker aus Sibirien hat soeben als unabhängiger Kandidat bei den Parlamentswahlen ein Direktmandat erzielt. Ob Ryschkow gegebenenfalls auf die Unterstützung des Paradeliberalen Grigori Jawlinski zählen wird können, bezweifeln viele Beobachter freilich.

Ryschkow selbst sagte in einer TV-Debatte Mittwoch vergangener Woche, er habe „noch keine Verhandlungen mit dem Kreml geführt“ und plane erst einmal, die versprengten liberalen Direktmandatare in der Duma um sich zu scharen, um ein parlamentarisches Bündnis mit dem Namen „Union der demokratischen Kräfte“ zu gründen und solcherart Fraktionsstärke zu erlangen. Durchaus möglich, dass der Kreml einige Abgeordnete dezent ermuntert, sich dem Bündnis anzuschließen, damit dieses auf die zur Erlangung des Fraktionsstatus nötigen 35 Mandate kommt.
„Demokratiepolitisch ist diese Entwicklung höchst bedenklich“, befindet Russland-Experte Michael McFaul vom Moskauer Carnegie-Institut: „Nicht die Parteien und das Parlament bestimmen die Regierung. Der Staat, in diesem Fall der Präsident, schafft sich die Parteien und die Regierung, die er wünscht.“ Das Volk schlucke diese autoritäre Entwicklung vor allem deshalb ohne Widerspruch, weil es sich von fairen Wahlen wenig verspreche, so McFaul. „Es ist bequemer, die Verantwortung einem Mann zu überlassen, der eine gewisse Stabilität garantiert.“

Dieses Phänomen ist nicht nur bei den russischen Wählern zu beobachten. Auch die westlichen Regierungen reagieren ähnlich auf Wladimir Putin und seinen autoritären Regierungsstil. Er führt zwar einen blutigen Feldzug gegen die aufständischen Tschetschenen und springt mit demokratischen Prinzipien eher eigenwillig um, erscheint dem Westen aber in der momentanen politischen Gemengelage Russlands ein Garant für Kontinuität zu sein. Die „National-Sozialisten“, wie die „Heimat“-Chefs genannt werden, sind genauso wenig salonfähig wie der sich ständig prügelnde Rechtsextremist Wladimir Schirinowski oder der Held der stalinistischen Pensionisten, KP-Chef Gennadi Sjuganow.

Putin forever. Als Teil seiner Beschwichtigungsstrategie nach dem übergroßen Wahlerfolg dürfen überdies Putins Bemerkungen zur Verfassungsdebatte verstanden werden: „Es ist höchste Zeit, das Gerede über konstitutionelle Änderungen zu beenden“, meinte der Präsident anlässlich des zehnten Geburtstages der postsowjetischen Verfassung am 12. Dezember. Da Putin nach den Duma-Wahlen über eine komfortable Zweidrittelmehrheit verfügt, könnte er sich ohne gröbere Probleme eine dritte Amtszeit als Präsident hineinschreiben lassen.

Mit diesem diktatorischen Projekt wird er sich aber Zeit lassen, glaubt Kreml-Beobachter Wladimir Pribylowski: „Wenn überhaupt, dann wird Putin dies knapp vor den Präsidentenwahlen 2008 betreiben.“ Noch hat er ja erst seine zweite Amtszeit, über die am 14. März abgestimmt wird, vor sich.

Und vielleicht wird von Washington über Warschau bis Wladiwostock Erleichterung herrschen, wenn sich Putin entschließen sollte, noch ein drittes Mal zu kandidieren. „Wenn die Alternative Sergej Glasjew oder Dimitri Rogosin heißt“, sinniert der Politologe Nikolai Petrow, „dann werden wir unter Umständen froh sein, wenn Putin uns nicht verlässt.“