Russland

Russland: Die Stunde der Gespenster

Parlamentswahlen: die Stunde der Gespenster

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Der „Siebente Kontinent“ ist neuerdings gelb. Die russische Supermarktkette hat allen Kassiererinnen ein entenfarbenes T-Shirt und farblich darauf abgestimmte Kappen verpasst. Auf den Schirmmützen prangt ein Bär, das Wahrzeichen der Kreml-Partei „Geeintes Russland“. Unter dem Namensschild steht folgerichtig: „Ich bin für ein geeintes Russland.“

In Wahrheit sind die Frauen an der Kassa nicht unbedingt dieser Meinung. Der Besitzer der Supermärkte allerdings umso mehr: Wladimir Grusdjew ist Kandidat der Partei der Macht für die Parlamentswahlen am kommenden Sonntag. Bloß: Die originelle Wahlwerbung könnte nach hinten losgehen. Die Tageszeitung „Moscow Times“ hat unter den Werbeträgerinnen eine Umfrage gemacht. Die Antwort kam prompt und einhellig: „Jetzt, wo sie uns dieses Kostüm verpasst haben, geben wir denen unsere Stimme sicher nicht!“

Russland wählt wieder. 100 Millionen Wahlberechtigte dürfen am 7. Dezember unter 23 Parteilisten und Direktkandidaten die neue Zusammensetzung der Duma, des russischen Parlaments, bestimmen – für die junge Demokratie, die 1991 aus den Trümmern der Sowjetunion entstanden ist, ein an sich historisches Ereignis. Seit Tagen hält sich in Moskau allerdings hartnäckig ein Gerücht: Iwan Iwanowitsch könnte der heimliche Wahlsieger werden. Frustrierte Russen können auch eine Rubrik „Gegen alle“ ankreuzen, also einen virtuellen Protestkandidaten wählen, der im Volksmund „Iwan Iwanowitsch“ genannt wird. Gewinnt der Iwan die Stimmenmehrheit, sind die Wahlen ungültig.

Vorwahldepression. Nun sind die Russen aber keineswegs politikverdrossen im westeuropäischen Sinne. Vielmehr haben sie diesen geisterhaft stillen, lähmenden Wahlkampf satt. Nicht einmal der rechtsradikale Populist Wladimir Schirinowski macht noch von sich reden – es sei denn, er wird handgreiflich, wie vorige Woche nach einer Fernsehdebatte. Abseits von solch unterhaltenden Einlagen herrscht tiefe Vorwahldepression. „Alles, was spannend wäre, gefällt dem Präsidenten nicht und findet daher nicht statt“, analysiert Moskaus jüngste Skandalautorin Jelena Tregubowa im profil-Gespräch: „Die Zensur ist wieder eingeführt worden.“

Im Fernsehen, das entweder staatlich oder privat und Kreml-freundlich ist, gibt es jeden Abend immer wieder dieselben Ausschnitte aus Wladimir Putins Arbeitsalltag: Energisch schreitet er in einen Konferenzsaal, die Mitarbeiter in respektvollem Abstand, und gebietet mit einer etwas steifen, aber bestimmten Armbewegung den jeweiligen Sitzungsteilnehmern, Platz zu nehmen. Ohne Umschweife hebt der Präsident zu sprechen an. Je öfter dasselbe Bildmaterial zu verschiedenen Themen in einer einzigen Nachrichtensendung gezeigt wird, umso parodistischer wirkt die Szene.

Fassade. Oder umso gespenstischer. Denn der Präsident stellt sich erst im März der Wiederwahl. Der jetzige Urnengang wirkt wie der matte Versuch, eine parlamentarische Fassade zu wahren. „Ein Land, in dem es nur einen Politiker gibt, ist keine Demokratie“, unkt der ehemalige Jelzin-Berater Georgi Satarow. Bei den letzten Wahlen 1999 war die KP noch die größte Partei, dicht gefolgt vom „Geeinten Russland“. 2003 hat die Kreml-Partei in allen Umfragen die Führung übernommen und könnte bis zu 30 Prozent einstreichen. Diesen Erfolg wird sie allein demjenigen verdanken, der gar nicht kandidiert: Wladimir Putin. In einem TV-Spot denkt eine Babuschka scharf darüber nach, wen sie wählen könnte. Weil die Großmutter nur den Präsidenten mag, wählt sie eben den. „Zusammen mit dem Präsidenten – wählt ,Geeintes Russland‘!“ heißt der
Slogan.

Die ersten Listenplätze der Partei der Macht sind an Innenminister Boris Gryslow und an Moskaus Bürgermeister Juri Luschkow vergeben. Beide haben jedoch nicht vor, ihre einflussreichen Jobs gegen Duma-Sitze einzutauschen. Der Innenminister genießt dank seiner vielen Auftritte in Kinderheimen und Fabriken im Beisein einer Fernsehkamera eine gewisse Medienpräsenz. Zu den desolaten Zuständen in ebendiesen Kinderheimen und Fabriken aber lässt Gryslow sich nicht öffentlich befragen.

Die Opposition schäumt vor Wut. An wem soll Kommunisten-Chef und Hauptkonkurrent Gennadi Sjuganow sein Mütchen kühlen, wenn der Gegner bei den Parlamentswahlen nur in Gestalt des unangreifbar populären Präsidenten existiert? Wladimir Putins Beliebtheit – und damit die seiner Günstlingstruppe in der Duma – ist mit der zeitgerechten Verhaftung von Öltycoon Michail Chodorkowski Ende Oktober noch in die Höhe geschnellt. Bei einem Großteil der bettelarmen Russen sind die Superreichen verständlicherweise verhasst.

Es spricht geradezu für Sjuganow, den selbst ernannten Arbeiterführer, dass er sich für den unpopulären reichsten Gefangenen der Welt einsetzt: „Sobald Chodorkowski politische Ambitionen zeigte, hat er Schwierigkeiten bekommen“, erklärt der KP-Chef. Sjuganow bot der Presse vorige Woche aber noch eine andere, pikante Einsicht in die Logik der Oligarchen-Affäre: „Sollte Chodorkowskis Vermögen beschlagnahmt werden, dann werden sich die Machthaber dieses Kapital untereinander aufteilen.“

Im Gartenring. Mit solchen Sprüchen kann Sjuganow aber kaum Wähler keilen. Die meisten Russen lässt der Fall Chodorkowski kalt. „Das spielt sich doch alles innerhalb des Gartenringes ab“, sagt der Dolmetscher Sergej Tschernych: „Fern der russischen Realität.“ Der Gartenring umschließt die Innenstadt von Moskau, das reiche, schillernde Zentrum eines unterentwickelten, düsteren Riesenreiches. Dort, in den weiten Steppen Russlands, leben die Wähler der KPRF. Dort sind die Kommunisten die traditionelle Partei der sozialen Gerechtigkeit (siehe Reportage).

In Moskau dagegen ziehen die KPler auch junge Proteststimmen gegen das jetzige Establishment an. Bei der Premiere des US-Films „Matrix Revolution“ traten junge Kommunisten mit der Absicht, originell zu sein, in Bolschewiken-Mützen mit rotem Stern als „neue Revolutionäre“ auf. In einem Werbespot wird jungkommunistisch gerappt. Eine der wenigen witzigen Wahlveranstaltungen bestand in einer Bootsfahrt die Moskwa entlang bis vor den Kreml, wo ein symbolischer Schuss abgegeben wurde.

Die Assoziation mit der Oktoberrevolution 1917, als der Panzerkreuzer Aurora den Startschuss zum Sturm auf das Winterpalais gab, war dabei durchaus erwünscht. Die Kommunisten liegen mit ihrem Wahlaktionismus offenbar auf der richtigen Linie. Auf die Frage „Was würden Sie tun, wenn die Oktoberrevolution jetzt stattfände?“ antworteten in einer Umfrage satte 42 Prozent der Befragten, sie wären dafür. 27 Prozent würden abwarten, 16 Prozent emigrieren. Und nur zehn Prozent würden sich gegen die Bolschewiki zur Wehr setzen wollen. Die Mehrheit derer, die fürs Abwarten votierten, wählt am 7. Dezember Putins „Geeintes Russland“. Und jene, die sofort emigrieren würden, sind Stammwähler der wirtschaftsliberalen Kleinpartei SPS.

Den Liberalen steht der Sinn auch ohne Oktoberrevolution derzeit eher nach Auswandern. Ihr Verbleib in der Duma ist ungewiss. Noch knapper wird es für „Jabloko“-Parteichef Grigori Jawlinski. Russlands Vorzeige-Liberaler hat die politischen Avancen der SPS-Fraktion abgelehnt, eine gemeinsame Liste aufzustellen und damit den Einzug ins Parlament zu sichern. Jawlinskis Zögern war verständlich: Mit Anatoli Tschubais hat die SPS einen Frontmann gewählt, von dem nicht klar ist, ob er seiner Partei eher schadet oder nützt. Denn Tschubais hat die verunglückte Privatisierung in den neunziger Jahren als Wirtschaftsspezialist des Kreml und Vizepremier gemanagt und ist beim Volk verhasst.

Programmierter Sieg. In einer Test-Vorwahl in drei Industriestädten gab es nun knapp vor dem echten Urnengang ein böses Erwachen für die kleinen Liberalen. Danach schafft Jabloko nur knapp die 5-Prozent-Hürde für den Einzug ins Parlament. Die SPS bleibt mit 7,5 Prozent unter dem Ergebnis von 1999; damals bekam sie immerhin noch 8,3 Prozent. Die wahre Überraschung dieser vom Institut WZIOM durchgeführten Testwahl aber bergen die vorderen Plätze: Das „Geeinte Russland“ bekam 32,7 Prozent, die KPRF dagegen nur 14,3 Prozent.

Vielleicht aber sind Russlands Umfrageinstitute auch nur so korrupt wie der durchschnittliche Verkehrspolizist. Das Institut WZIOM war gerade rechtzeitig zur Wahl im September mit einem neuen Direktor versorgt worden. Manche Beobachter glauben nun, mit derartigen Umfragen solle eine groß angelegte Wahlfälschung vorbereitet werden.

Doch so leicht lassen sich die Widerspenstigen nicht zähmen. Der ehemalige Direktor von WZIOM, Juri Lewada, hat inzwischen ein neues Institut gegründet – WZIOM-A –, und die von ihm erhobenen Umfragewerte weichen von den anderen erstaunlich ab: Demnach kommt „Geeintes Russland“ auf 29 Prozent und die KP auf 23 Prozent.

Gegen alle. Die Drang der Wähler zur Urne hält sich wohl auch deshalb in Grenzen, weil die Parteien ideologisch so beliebig auftreten. Putins „Geeintes Russland“ hat ein Wahlplakat präsentiert, auf dem die Landkarte Russlands mit Fotos berühmter Russen gepflastert ist. In alphabetischer Abfolge: Neben dem Dissidenten Andrej Sacharow prangt der Diktator Josef Stalin, daneben der Direktor von Moskaus Künstlertheater, Konstantin Stanislawski.

Die Kommunisten agieren auch nicht sensibler: Nach dem Kolchosenkind Gennadi Sjuganow stehen auf der Kandidatenliste ein schon zu Sowjetzeiten erfolgreicher Geschäftsmann und an dritter Stelle ein landesweit bekannter Antisemit.

Der Mann wiederum, der im Machtapparat für Katastrophen zuständig ist, Sergej Schoigu, Minister für Extremsituationen, stellt dem wahlmüden Volk eine drastische Kur in Aussicht. Der Listendritte von „Geeintes Russland“ meint: „Leute, die dreimal nicht wählen gehen, sollten ausgebürgert werden.“
Ob deswegen mehr Wähler Iwan Iwanowitsch, den virtuellen Nicht-Kandidaten „Gegen alle“, ankreuzen, ist allerdings fraglich. Denn das aufmüpfige Meinungsforschungsinstitut WZIOM-A hat gerade ein gespenstisches Umfrageergebnis veröffentlicht. Auf die Frage, wer bei den TV-Debatten am besten abgeschnitten habe, nannte ein Gutteil der Befragten das „Geeinte Russland“. Putins Wahlverein hat die Fernsehdiskussionen boykottiert.