Kalter Friede: Putin spielt Supermacht

Russland: Kalter Friede

Zwischen Moskau und d. Westen herrscht Eiszeit

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Am Anfang hängt Leo Trotzki. Etwas weiter den Gang entlang Wjatscheslaw Molotow. Dann kommt Andrej Gromyko. Am Ende der langen Reihe von Außenministern der Sowjetunion ist die Tür zu Sergej Lawrows Büro. Der heutige russische Außenminister residiert immer noch in dem von Stalin erbauten Hochhaus am Gartenring. Auf die Supermachtaura des gewaltigen Baus im Zuckerbäckerstil wollte auch das postkommunistische Russland nicht verzichten.

Lawrow selbst aber ist ein Stilbruch. Kein Homo sovieticus in Kleidung und Habitus, bemüht sich Russlands Chefdiplomat, der den größten Teil seiner Karriere in New York zubrachte, auch inhaltlich um größtmögliche Distanz zu seinen Vorgängern im Couloir. Sein Land sei nicht verantwortlich für die neue Eiszeit zwischen Russland und dem Westen, sagt Lawrow (siehe Interview Seite 111). Und als müsse er sich selbst überzeugen: „Ich spreche nicht von Kaltem Krieg.“

Andere schon. Die unabhängige russische Tageszeitung „Kommersant“ zum Beispiel. Auch die britische „Financial Times“ beklagt, dass „16 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer die Mentalität des Kalten Krieges sich wieder Bahn bricht“. Die Krisenstimmung erscheint nicht nur herbeigeredet. In den vergangenen Wochen flogen zwischen den USA und Russland die Fetzen. Ausgerechnet vom litauischen Vilnius aus schimpfte US-Vizepräsident Dick Cheney gen Moskau: Russland setze Öl und Gas „als Mittel der Einschüchterung und Erpressung ein“, er geißelte den zusehends autokratischen Kurs des Kremls und den radikalen Abbau der demokratischen Freiheiten.

Den russischen Medien fiel dazu Sir Winston Churchills Fulton-Rede ein. Genau vor 60 Jahren hatte der britische Staatsmann das Bild vom „Eisernen Vorhang“, der quer durch Europa gezogen werde, geprägt. Der russische Präsident Wladimir Putin holte in seiner Jahresbotschaft an die Föderation am 10. Mai zum Gegenschlag aus: „Genosse Wolf frisst, was er will, und hört auf niemanden“, bellte er, zwar ohne Namen zu nennen, aber unmissverständlich in Richtung Washington.

Aus Putins Sicht ist der Zeitpunkt für diese Verbalschlacht denkbar ungünstig. Der G8-Gipfel in Sankt Petersburg am 15. Juli sollte der Höhepunkt der internationalen Akzeptanz des neuen Russland werden. Nicht nur darf der ehemalige Geheimagent des KGB mit den Vertretern der sieben größten demokratischen Industrienationen am Tisch sitzen. Er hat dieses Jahr sogar die Präsidentschaft in diesem erlauchten Kreis inne.

Neue Rolle. Ein flaues Gefühl hatten viele bereits, als Russland 1998 zum achten Partner der G7 ernannt wurde. Der Westen wollte den ehemaligen Erzfeind im Übergang zu Marktwirtschaft und Demokratie unterstützen und einbinden, auch wenn Russland nicht alle Kriterien für die Mitgliedschaft erfüllte. Wegen der autoritären Entwicklung Russlands hat sich dieses flaue Gefühl inzwischen zu einem Magengeschwür ausgewachsen. „Wenn die G8 ein Club der führenden Wirtschaftsmächte sind, warum gehören dann China und Indien nicht dazu?“, fragt der Moskauer Politologe Boris Makarenko. „Und wenn das ein Club der führenden Demokratien ist, was hat Russland dann dort zu suchen?“

Sein Tischkärtchen verdient Russland nur noch, weil das Land über die größten Gasreserven der Welt verfügt und schon fast so viel Öl wie der Marktführer Saudi-Arabien exportiert. Das schwarze Gold ist die Grundlage für das neue Selbstbewusstsein der russischen Führung. Die ehemalige Supermacht sucht eine neue Rolle in der Welt.

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion hatte Boris Jelzins Regierung zunächst einmal einen Kurs der Verwestlichung eingeschlagen. Partnerschaft mit Washington, aber auch mit den europäischen Mächten lautete die Maxime. Rigoros trimmte Jelzin die frühere marxistisch-leninistische Supermacht auf Marktwirtschaft und Demokratie. Zwar gab es auch Krisen zwischen den neuen Partnern: den Krieg Russlands gegen die Separatisten in Tschetschenien oder die Parteinahme Moskaus für Serbien am Balkan. Doch die Richtung stimmte.

Der Höhepunkt der russisch-amerikanischen Freundschaft fiel in den Beginn der Ära Wladimir Putin. Bei seinem Amtsantritt zur Jahrtausendwende wurde der Petersburger als prononciert russischer Westler gefeiert. Nach den Anschlägen am 11. September 2001 passierte in Moskau etwas bis dato Unerhörtes: Die Russen, jahrzehntelang zum Antiamerikanismus erzogen, gingen aus Solidarität mit den USA auf die Straße. In Afghanistan kämpften russische und amerikanische Soldaten dann Seite an Seite gegen die Taliban.

Doch von da an ging es bergab. Putin verweigerte US-Präsident George Bush die Gefolgschaft im Feldzug gegen Saddam Hussein im Frühling 2003. Im Herbst desselben Jahres ließ der Kreml-Herr seinen persönlichen und politischen Konkurrenten Michail Chodorkowski auf einem Flugfeld in Sibirien verhaften. Der reichste Mann Russlands hatte es gewagt, Putin herauszufordern. In Russland finanzierte er liberale Oppositionsparteien. Seinem Ölkonzern Yukos verpasste er ein transparentes Image. Und auf dem internationalen Parkett machte der Geschäftsmann eine provokant gute Figur.

Fassade. Putin schlug mit der Ausschaltung Chodorkowskis zwei Fliegen mit einer Klappe. Er wurde einen Konkurrenten los. Gleichzeitig verschaffte sich der Staat – sprich: Putins Entourage – die Kontrolle über einen Teil der russischen Ressourcen. Yukos wurde zerschlagen und das größte Stück einem staatsnahen Konzern zugeschanzt. „Der Fall Chodorkowski stellte den Wendepunkt dar“, analysiert Mascha Lipmann vom Carnegie-Zentrum in Moskau. Danach wurde der Wettbewerb in allen Bereichen sukzessive abgeschafft. Das Parlament, die Judikatur, die Medien, die Oligarchen und mehr und mehr auch wieder die Ressourcen des Landes sind unter Kontrolle des Kremls: „Die Institutionen der russischen Demokratie sind nur noch Fassade“, sagt Lipmann.

Putins zusehends autoritärer Kurs schlug sich auch in der Außenpolitik nieder. Mit unverhohlenem Widerwillen verfolgte Moskau die demokratischen Revolutionen in Tiflis und Kiew. Der Versuch, die Hinwendung Georgiens und der Ukraine zum Westen zu hintertreiben, scheiterte kläglich. Der Kampf zwischen Moskau und Washington um die Vorherrschaft am Rande des russischen Reiches verschärfte sich.

Zur Jahreswende 2006 sank die Temperatur in den west-östlichen Beziehungen auf den Nullpunkt. Bei der Neuregelung der Gaspreise mit der Ukraine passierte dem Kreml ein Missgeschick. Da Präsident Viktor Juschtschenko zwar mit dem Westen liebäugelte, aber weiterhin „brüderliche“ Preise für das Gas aus dem Osten zahlen wollte, drehte Moskau dem abtrünnigen Nachbarn kurzerhand den Gashahn zu. Auch in Europa sank daraufhin der Druck in den Gasleitungen.

Mit vereinten Kräften wurde zwar rasch ein Kompromiss für die Ukraine gefunden, und die Krise war beigelegt, bevor die Österreicher in ihren Wohnzimmern an den Heizkörpern festfroren. Doch das nach dem Ende der Sowjetunion überwunden geglaubte Misstrauen zwischen dem Westen und Russland war plötzlich wieder da.

Druckmittel. Die russische Regierung wird nicht müde zu erklären, dass sie Öl und Gas nicht als politische Druckmittel einzusetzen gedenke. Europa und Amerika schenken diesen Beteuerungen jedoch keinen Glauben. Auch Putins Versuch, mit dem Motto seiner G8-Präsidentschaft – „Energiesicherheit“ – neues Vertrauen zu erwerben, wurde bisher nicht von Erfolg gekrönt.

Verschärft wird die Krise in den west-östlichen Beziehungen durch den Wechsel des Personals in den europäischen Staatskanzleien. Auf die gewichtige Fürsprache von Gerhard Schröder und Silvio Berlusconi kann Putin nicht mehr bauen. Der deutsche Busenfreund hatte ihm seinerzeit noch attestiert, ein „lupenreiner Demokrat“ zu sein. Beim italienischen Freund konnte Putin sich in der sardinischen Luxusvilla von den Strapazen des autoritären Regierens erholen, ohne unangenehme Fragen nach Menschenrechten gewärtigen zu müssen.

Da zunehmend isoliert, wird Putins Bedürfnis nach einer eigenen Rolle in der Weltpolitik immer dringlicher, zumal die Russen den Eindruck haben, ihre Solidarität mit Amerika nach 9/11 sei nicht honoriert worden. „Russland will nicht mehr die Statistenrolle in den weltpolitischen Dramen der Amerikaner spielen“, sagt die Politologin Mascha Lipmann. „Die Russen signalisieren außerdem: Ihr müsst uns akzeptieren, wie wir sind, mit unserer Interpretation von Marktwirtschaft und Demokratie.“

Das Ziel der neuen russischen Supermachtpolitik scheint selbst dem Kreml noch nicht klar zu sein. Doch eine eigenständige Linie zeichnet sich durchaus ab. Während die Bush-Administration gern schon morgen gegen Teheran, wenn schon nicht mit militärischen Mitteln, so doch mit Sanktionen losschlagen würde, zeigt sich Moskau widerspenstig. Sanktionen werden strikt abgelehnt, Verhandlungen sollen die Lösung bringen.

Auch im Nahen Osten geht Russland eigene Wege. Zuerst lud Putin die neue Hamas-Führung zu Gesprächen nach Moskau ein. USA und EU schneiden die islamistische Palästinenserregierung bis heute. Die Hilfsgelder der EU liegen derzeit auf Eis. Zehn Millionen Dollar Notstandshilfe schickte Moskau dagegen bereits in die Palästinensergebiete. Sie wurden allerdings nicht an die Hamas, sondern an Präsident Mahmoud Abbas überwiesen, ein Relikt der Fatah-Ära.

Geht es im Nahen Osten noch primär um diplomatisches Muskelspiel, so spielt sich am Rande des russischen Reiches ein veritabler Machtkampf zwischen den alten und neuen Supermächten ab. Russland hat zwar die erste Runde in der Schlacht um Georgien und die Ukraine verloren. Diese Schmach soll sich jedoch nicht wiederholen. Den usbekischen Präsidenten Islam Karimow hat Putin schon dazu gebracht, die amerikanischen Soldaten des Landes zu verweisen. Der US-Stützpunkt in Karschi-Chanabad wurde im November 2005 aufgelöst.

Es scheint plötzlich sehr lange her zu sein, dass Putin den US-Stützpunkten in Zentralasien seinen Segen erteilte. Dabei präsentierten Bush und Putin sich vor vier Jahren noch als „strategische Partner“, die gemeinsam in Afghanistan den internationalen Terrorismus bekämpften. Nun kämpft man um Einfluss in Kirgisien, Kasachstan und Aserbaidschan. Dass die dortigen Präsidenten ihre Oppositionen schamlos unterdrücken und sich bereichern, scheint weder Putin noch Bush zu stören.

Aufrüstung. Der russische Präsident legte in seiner Rede zur Nation am 10. Mai seine inhaltlichen Schwerpunkte unmissverständlich klar: Künftig soll viel Geld für Aufrüstung und Kinderkriegen ausgegeben werden. Die Präsidentschaft Russlands in der prestigeträchtigen G8 dagegen erwähnte Putin nicht einmal. „Mehr Gewehre, mehr Babys – eine Rede wie aus den dreißiger Jahren“, meint Russlandexperte Anders Aslund vom Institut für Internationale Wirtschaft in einem Interview. Die russische Tageszeitung „Wedomosti“ fürchtet bereits, dass „der Kalte Krieg nach dem G8-Gipfel in Petersburg am 15. Juli erst so richtig losgehen wird“.

Wladimir Putins Popularität bei den Untertanen würde dies nicht schaden. Im Gegenteil. Nach Umfragen sind die Russen mit allem, was der Präsident tut, unzufrieden: Soziales, Wirtschaft, Sicherheit – nichts läuft so, wie es soll. Bis auf eines. Putins neue Außenpolitik kommt an, sagt Politologin Mascha Lipman. „Die Russen haben das Gefühl: Jetzt sind wir wieder wer!“

Von Georg Hoffmann-Ostenhof, Andrej Iwanowski und Tessa Szyszkowitz/Moskau