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Russland: Lachen oder weinen?

Lachen oder weinen?

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Moskau hatte was zu lachen. Da sei einer, dem russischen Klischee entsprechend, auf eine ausgedehnte Sauftour gegangen, spöttelten nüchterne Kommentatoren. Der liberale Präsidentschaftskandidat Iwan Rybkin war am Dienstag vergangener Woche, mit dunklen Sonnenbrillen angetan, überraschend wieder in Moskau aufgetaucht. Er habe sich in Kiew „von den Strapazen des Wahlkampfes erholen“ wollen. Rybkin schien also doch nicht von dunklen Mächten entführt worden zu sein, wie man fünf Tage lang befürchtet hatte. Rybkins Frau Albina schimpfte: „Armes Russland, das von solchen Männern regiert wird!“ Ein politischer Gegner nannte die Affäre „clownesk“. Der Politologe Boris Makarenko erklärte süffisant: „Das ist kein Fall für eine politische Analyse, da müssen andere Experten her.“

So schnell geht das in Moskau. Zuerst ist jeder bereit zu glauben, ein liberaler Präsidentschaftskandidat könnte mitten im Wahlkampf vom Geheimdienst oder von innerparteilichen Gegnern entführt oder gar ermordet worden sein. Die Reflexe des Homo sovieticus, jahrzehntelang zu tiefem Misstrauen gegenüber dem Staat und dessen Repräsentanten erzogen, funktionieren noch. Da sich im postsowjetischen Russland umtriebige Geheimdienstler und mafiose Geschäftsleute um die Macht streiten, befürchten die meisten Beobachter immer gleich das Schlimmste.

Doch kaum war Rybkin wieder aufgetaucht, kicherte das politische Establishment über die mysteriöse Spritztour nach Kiew. Tiefe Erleichterung, dass in Russland eben doch (noch) nicht alles möglich ist, erfasste auch die Intelligenzija. „Der Geheimdienst FSB wäre doch blöd, einen derart unwichtigen Kritiker unter solchen Mühen zum Schweigen zu bringen“, meint etwa Psychologieprofessor Alexander Asmolow (siehe Interview).

Nur wenige jedoch fragen sich, warum ein seriöser Präsidentschaftskandidat statt zu seiner ersten Pressekonferenz auf Sauftour gehen soll. Iwan Rybkin, unter Boris Jelzin Chef des Sicherheitsrates und Sprecher der Duma, des russischen Unterhauses, ist bisher nicht durch Ausschweifungen aufgefallen. Eher hat er sich mit betont kritischen Bemerkungen über Präsident Wladimir Putin und dessen Freunde mächtige Feinde geschaffen. Als Rybkin am Mittwoch der Vorwoche in Moskaus letztem frechem Radiosender, „Das Echo Moskaus“, ein Interview gab, in dem er vor allem wirres Zeug redete, wurde selbst Spöttern etwas mulmig zumute. „Zuerst haben alle gelacht“, schreibt die investigative Journalistin Anna Politkowskaja in der „Nowaja Gazeta“, „aber dann wollte man weinen vor Angst.“

Misstrauen. Die Affäre Rybkin platzte in eine für die Moskauer ohnehin schwere Woche. Der verheerende Bombenanschlag in der Metro am 6. Februar hat die Bevölkerung verunsichert. Zu den Begräbnissen im dichten Schneetreiben pilgerten vorige Woche tausende. In den Krankenhäusern liegen – und sterben – immer noch Verwundete. In den Theatern standen die Besucher zu einer Trauerminute für die Opfer still. In der Metro selbst drängen sich die Moskauer, wie immer während der Stoßzeit, mit niedergeschlagenen Augen in gesteckt vollen Waggons. Die Sicherheitskräfte stehen jeweils zu zweit untätig an den U-Bahn-Eingängen. Bei acht Millionen Metrofahrern täglich, die in dicken Wintermänteln und mit schweren Taschen bepackt durch die Gänge schlurfen, ist an Sicherheit nicht ernsthaft zu denken. Dafür häufen sich die rassistischen Übergriffe gegen Kaukasier.

Vom Bombenterror verunsichert, fragt sich so mancher Russe inzwischen, ob nun auch der Staatsterror wieder sein Haupt hebt. Wirkt Rybkin wirklich deshalb so derangiert, weil er zu viel getrunken hat? Oder wurde er vielleicht unter Drogen gesetzt? War er tatsächlich in Kiew unter falschem Namen im Hotel „Ukraina“, wo ihn allerdings niemand gesehen hat, oder doch in den Händen mysteriöser Erpresser irgendwo bei Moskau? Vom Verschwinden aus seiner Wohnung Donnerstagabend vorvergangener Woche bis zu seiner Wiederkehr fünf Tage später am Flughafen in Moskau hat Rybkin buchstäblich keine Spuren hinterlassen. Seine Verwandten jedenfalls erklärten laut Exiloligarch Boris Beresowski, sie hätten keineswegs ihren Iwan Petrowitsch zurückbekommen – der Mann sei nicht wiederzuerkennen.

Die Journalistin Anna Politkowskaja und die unabhängige Präsidentschaftskandidatin Irina Chakamada vermuten, jemand habe Rybkin einer Drogenkur unterzogen. Der Politiker sollte möglicherweise als unglaubwürdiger, verantwortungsloser Stammler vorgeführt werden. „Wenn ich von Anfang an gesagt hätte, was ich Ihnen jetzt sage, dann hätten wir dieses Gespräch vielleicht nie führen können“, formulierte Rybkin etwa gegenüber „Echo Moskaus“. Kann der Kreml-Kritiker sich vielleicht nur nicht entscheiden, ob er klar sagen soll, was mit ihm passiert ist? „Entweder er hat eine Spritze bekommen, oder er muss aus dem Rennen aussteigen“, sagte Chakamada am Mittwoch im Fernsehen über ihren liberalen Konkurrenten.

Tags darauf hatte der Kandidat darüber bereits entschieden: „Ich mache weiter!“, sagte er in London, wo er seinen Mentor und Financier Boris Beresowski über die Vorfälle persönlich informierte. Für den Ausgang der Präsidentenwahlen am 14. März ist es allerdings gleichgültig, ob er im Rennen bleibt oder nicht. Der Kandidat des „Liberalen Russland“ kommt in Umfragen auf knapp ein Prozent, seine Partei hat bei den Duma-Wahlen im Dezember den Sprung über die Fünfprozenthürde nicht geschafft. Außerdem wollen rund 70 Prozent der Russen Präsident Putin ohnehin eine zweite Amtszeit verschaffen. Der Rest ist Kosmetik.

Neben Rybkin treten noch fünf weitere Kandidaten gegen Putin an. Sergej Mironow, der Vorsitzende des Föderationsrates, des Oberhauses des russischen Parlaments, hat freilich deutlich gesagt, er trete nicht gegen Putin, sondern als Unterstützer des Präsidenten an. Daneben gibt es einen Kandidaten der Kommunisten, Nikolai Charitonow, der das Monument von Felix Dscherschinski, dem gefürchteten Gründer des sowjetischen Geheimdienstes, auf dem Lubjanka-Platz wieder errichten möchte. Mit Oleg Malyschkin tritt ein Ex-Leibwächter des rechtsextremen Politrabauken Wladimir Schirinowski an. Unabhängig von ihren Parteien müssen sich die Liberale Irina Chakamada und Sergej Glasjew schlagen. Chakamadas Partei „Union der Rechtskräfte“ unterstützt mehrheitlich Putin. Und Wirtschaftsexperte Glasjew hat sich mit seiner nationalistischen Partei „Heimat“, die zu den Wahlsiegern der Duma-Wahlen zählte, bereits überworfen. Ein paar Prozentpunkte für seine mehr skurrilen als gefährlichen Gegenkandidaten kämen Wladimir Putin durchaus entgegen, würden sie doch seine Behauptung stützen, Russland sei eine Demokratie.

Macht und Angst. Wenn jemand Rybkin tatsächlich loswerden wollte, dann jedenfalls Rybkin den Kritiker und nicht Rybkin den Kandidaten. Denn Rybkin hatte erst drei Tage vor seinem Verschwinden in der Tageszeitung „Kommersant“ in einem offenen Brief harsche Kritik an Putin geübt und ihm vorgeworfen, „Russlands mächtigster Oligarch“ zu sein und seine Macht auf Furcht zu bauen. Der Präsident stürze Russland in die Dunkelheit zurück. Rybkin nannte auch die Namen von einigen Putin-Günstlingen unter den mächtigen Geschäftsleuten in Russland, etwa die Brüder Michail und Juri Kowaltschuk, Gennadi Timtschenko oder den Fußballklub-Aufkäufer Roman Abramowitsch.

Hat Rybkin mit der Nennung von Namen vielleicht eine Grenze überschritten? Putin als „mächtigsten Oligarchen“ zu bezeichnen ärgert die Kreml-Strategen ganz besonders. Schließlich hat man Putin das Image verpasst, gegen genau diese „Räuber des Staatseigentums“ hart durchzugreifen. Seit der Verhaftung von Öl-Tycoon Michail Chodorkowski im vergangenen Oktober sind Putins Popularitätswerte noch höher als vorher. Man muss Rybkins Behauptung, Putin selbst bereichere sich am Volkseigentum, nicht vorbehaltlos unterschreiben. „Er könnte aber“, meint Anna Politkowskaja, „einen wunden Punkt getroffen haben.“

Verschwörung. Der Präsident wird trotzdem in jedem Fall wiedergewählt. Dabei hat er die beiden größten Probleme des Landes nicht auch nur annähernd unter Kontrolle gebracht. Die meisten Russen kämpfen um ihr finanzielles Überleben, der Kapitalismus ist vor allem für die Alten eher Fluch als Segen. Und der Krieg im Kaukasus geht nicht nur weit entfernt im Süden weiter, die tschetschenischen Selbstmordanschläge terrorisieren nun auch die Hauptstadt. Doch kaum jemand scheint dies Putin übel zu nehmen. „Die Präsidentschaft ist heute die einzige Staatsinstitution, der das Volk vertraut“, analysiert der Kreml-nahe Politstratege Gleb Pawlowski. „Geht dieses Vertrauen verloren, droht dem Land Chaos.“

Wohl auch deshalb hätten viele Russen über das Schicksal von Iwan Rybkin lieber gelacht als geweint. Die brisante Frage ist nämlich nicht, ob Rybkin eingeschüchtert wurde oder nicht, sondern, wenn ja, wer dahinter stecken würde. Die wenigsten wollen den Gedanken weiterführen, aber Irina Chakamada beschleicht schon länger das Gefühl, dass „wir alle zum Spielzeug im Verschwörungssystem geworden sind“.

Iwan Rybkin beendete seinen offenen Brief in „Kommersant“ drei Tage vor seinem Verschwinden mit den prophetischen Worten: „Wir sollten vor niemandem Angst haben. Diejenigen, die uns dazu zwingen, sind Verbrecher.“ Deutlicher wird nur die mutigste russische Journalistin, Anna Politkowskaja: „Wer dahinter steckt? Der, der es am meisten braucht. Höchstpersönlich.“