Russland: Putin & die grauen Männer

Russland: Putin und die grauen Männer

Ex-Geheimdienstoffiziere bilden Putins neue Elite

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Die Versammelten dachten, der Präsident beliebe zu scherzen. Etwa 300 Generäle des KGB und seiner Nachfolgeorganisation FSB hatten sich im berüchtigten Geheimdienst-Hauptquartier, der Lubjanka im Zentrum Moskaus, zu einer Feierstunde eingefunden. An diesem dunklen Dezembertag im Jahre 1999 beging man den „Tag des Tschekisten“, gedacht wurde der Gründung der Tscheka, des sowjetischen Geheimdienstes. Wladimir Wladimirowitsch, gerade zum Regierungschef ernannt und einst selbst KGB-Offizier, eröffnete die Feier mit ein paar launigen Worten. „Befehl Nummer eins zur totalen Machtübernahme wurde ausgeführt: Eine Gruppe von FSB-Offizieren wurde erfolgreich in die Regierung eingeschleust.“

Im Frühsommer 2005 glaubt in Moskau niemand mehr, dass Putin damals in der Lubjanka bloß witzig sein wollte. Im sechsten Jahr seiner Herrschaft hat der Ex-Spion aus Petersburg seine Heimat zu einer, wie es die Elitenforscherin Olga Kryschtanowskaja (siehe Interview Seite 62) ausdrückt, „Militokratie“ umgebaut. Zwei Drittel seiner engen Mitarbeiter sind ruhende oder aktive FSB-Offiziere; zwei seiner Minister und vier Vizeminister stammen aus dem KGB; knapp die Hälfte der heutigen politischen Elite kommt aus dem Geheimdienst-Milieu. „Es gibt nur einen Kommandeur“, meint die Soziologin und blickt auf die kleine Putin-Büste, die auf der Fensterbank ihrer kleinen Wohnung steht: „Es gibt keine Gegenmeinung, keine öffentliche Debatte. Außerdem stehen die FSB-Offiziere außerhalb des Gesetzes.“

Putin und die grauen Männer haben soeben einen weiteren Etappensieg errungen. Die vor zwei Jahren in Angriff genommene Ausschaltung von Michail Chodorkowski ist mit dem Urteil zu neun Jahren „Lagerhaft unter normalen Bedingungen“ abgeschlossen worden.

Die Anwälte von Russlands einst reichstem Mann wollen zwar berufen. Der Ex-Oligarch hat sich außerdem mit einem Statement aus dem Gefängnis zu Wort gemeldet, in dem er sich ganz in Dostojewski-Tradition als Büßer gibt, der aus dem Gefängnis, von seinen Sünden gereinigt, in die Politik zurückkehren will. „Selbst wenn ich Jahre im Lager bleiben werde, empfinde ich doch große Erleichterung“, schreibt er. „Mein Schicksal hat nichts Fremdes, Versehentliches, es hat keine schwarzen Flecken mehr. Die Zukunft erstrahlt in hellen Farben, und die Luft des Russland von morgen ist rein.“ Aber Chodorkowskis Zukunft sieht keineswegs rosig aus.

Sollte es den Kreml-Herren gefallen, wird ihm auch noch wegen Geldwäsche der Prozess gemacht. In seiner ehemaligen Firma Yukos, die nach der Zwangsversteigerung des zentralen Ölfeldes Yugansk nur noch rudimentär weiterbesteht, sind viele Mitarbeiter wütend auf den Ex-Chef, sagt ein Insider: „Er ist so oft gewarnt worden, den Bogen nicht zu überspannen.“ Der smarte Oligarch habe sich für unverwundbar gehalten und Putin mit der Unterstützung von Oppositionsparteien provoziert. Sein Sturz bedeutet auch für viele seiner Angestellten den finanziellen Ruin.

Der stellvertretende Generalstaatsanwalt Wladimir Kolesnikow kündigte in einer Talkshow im Fernsehen weitere Anklagen gegen Yukos-Manager an: „Die haben alle blutige Hände.“ Den anderen Oligarchen stellte der bullige Kolesnikow auch eine Rute ins Fenster: „Ich kann Ihnen sagen, dies war nicht der letzte Prozess.“

Kein Mucks. Russlands Superreiche jedoch haben die Botschaft sowieso längst verstanden: Kein Mucks pro Chodorkowski und kontra Putin war in den vergangenen zwei Jahren vonseiten der noch in Russland verbliebenen Oligarchen zu hören. Dafür speien die Exil-Tycoons Gift und Galle. Chodorkowskis Partner Leonid Newslin in Israel behauptet in einem Interview im deutschen Magazin „Focus“, Putins derzeitiger Favorit unter den Oligarchen, Roman Abramowitsch, habe sich die Freundschaft des Kremls mit einem teuren Geschenk erkauft: 50 Millionen Dollar teuer sei die Yacht, die er seinem Präsidenten geschenkt haben soll: „Abramowitsch hat es mir selbst erzählt“, sagt Newslin.

Dennoch kann auch Abramowitsch sich der Gunst Putins nicht mehr sicher sein. Die Ära der unter Boris Jelzin in den neunziger Jahren reich gewordenen Oligarchen geht zu Ende. Boris Beresowski und Wladimir Gusinski wurden von Putin schon zu Beginn des Jahrzehnts ins Ausland vertrieben. Die verbliebenen Superreichen bringen ihre Schäfchen ins Trockene (siehe Kasten) und ziehen sich allmählich aus dem aktiven Geschäftsleben in Russland zurück.

Ihre Plätze – und ihre Pfründen – werden von einer neuen Oligarchie übernommen. Die so genannten „Silowiki“ stammen aus dem Machtapparat: aus dem Verteidigungs- und Innenministerium sowie den Sicherheitsdiensten. Viele sind Geheimdienstgenossen des Präsidenten aus Petersburger Tagen, als Putin dort stellvertretender Bürgermeister war. Heute sitzen sie bereits überall in den Chefetagen. „Der Prozess der Umverteilung des Staatsbesitzes an Putins Freunde ist unaufhaltsam“, befindet die Journalistin Julia Latynina vom unabhängigen Radiosender „Echo Moskaus“.

Unverhohlen wird innerhalb der präsidentiellen Entourage um lukrative Posten und Deals gestritten. Eine zentrale Rolle spielt dabei Igor Setschin, Putins stellvertretender Bürochef, der inoffiziell als Chef der Silowiki gilt. Sein Gegenspieler ist Dimitri Medwedew, Setschins Chef als Leiter der Kreml-Administration. Die beiden gerieten im Winter über die Frage aneinander, wer sich Yugansk, das wieder verstaatlichte Ölfeld von Yukos, unter den Nagel reißen dürfe. Den Zuschlag erhielt Rosneft, in dessen Vorstand Setschin sitzt. Gasprom, wo Medwedew Vorstandsdirektor ist, durfte Rosneft nicht, wie ursprünglich geplant, schlucken. Setschin hat diese Runde eindeutig gewonnen.

„Diese kolossale Umverteilung hat in den Regionen angefangen“, erklärt Wladimir Ryschkow, einer der letzten unabhängigen Demokraten in der Staatsduma, der aus der Provinz Altai stammt. „Ich habe Unterlagen, die besagen, dass erfolgreiche Geschäftsmänner erpresst und bedroht wurden – immer von der gleichen vertikalen Machtstruktur, die aus bürokratischen Sicherheitsleuten besteht. Die Leute beginnen, ihre Geschäfte hier zu verkaufen. Das Kapital fließt ab. Die Korruption ist immens, und allen Indikatoren zufolge wächst sie auch noch.“ Fazit, so Ryschkow: „Wir leben in einem korrupten, ineffektiven Reich.“

Flügelkämpfe. Zur Zeit orten die Kremlinologen bereits politische Flügelkämpfe innerhalb des Silowiki-Lagers. „Vor rund einem halben Jahr kam es zu einer überaus ernsten Spaltung. Zwischen den ,Petersburgern‘ und den ,Moskauern‘ ist eine ernsthafte Konfrontation im Gange“, meint Dmitri Oreschkin, Leiter des analytischen Zentrums Mercator. Die Moskauer Silowiki scheinen den oft als Putin-Nachfolger gehandelten Sergej Iwanow diskreditieren zu wollen – er ist derzeit Verteidigungsminister, war 1998 noch Vizechef des FSB und ist ebenfalls ein Freund Putins aus Petersburger Tagen. Kürzlich wurden kompromittierende Berichte über Missstände innerhalb von Iwanows Streitkräften an die Presse geleitet. Alexej Makarkin vom Zentrum für politische Technologien ist sich sicher: „Bei der Jagd auf Iwanow geht es eindeutig schon um die Nachfolgefrage.“

Auch ideologisch gibt es gewisse Unterschiede zwischen den Silowiki-Fraktionen. Die Petersburger gelten als vergleichsweise liberal. Ein einflussreicher westlicher Diplomat meint, nicht jeder KGB-Agent müsse unbedingt ein Reaktionär sein: „Schon zu kommunistischen Zeiten waren die Geheimdienstoffiziere nicht immer die Schlimmsten. Immerhin wurden für diese Karriere stets die Begabteren ausgesucht.“

Außerdem haben die Jahre des liberalen Aufbruchs während der Perestroika auch die Weltsicht der KGB-Offiziere geprägt. Das Misstrauen gegenüber dem Westen und seinen Werten – Demokratie und Menschenrechte – ist geblieben, ebenso das Vertrauen in die alten Seilschaften. Doch vom bankrotten kommunistischen Wirtschaftssystem haben sich die Silowiki verabschiedet. Ihnen schwebt eine vom Staat gelenkte Privatwirtschaft vor. Und der Staat, das sind sie. Wladimir Putin ist das beste Beispiel für dieses Denken.

Der kleinwüchsige Geheimdienstler mit dem strengen Seitenscheitel war Anfang der neunziger Jahre ein Zögling von Anatoli Sobtschak, dem charismatischen Star der Demokratiebewegung und Bürgermeister in Sankt Petersburg. Sobtschak versammelte eine bunte Mischung aus alter Nomenklatura und liberalen Politikern neuen Typs um sich. Auch wenn er selbst als Politiker letztlich scheiterte – er wurde 1996 abgewählt –, so ist sein damaliges Team praktisch ident mit Putins Männerbund im Kreml: Dimitri Medwedew, heute Putins Bürochef, war schon in Petersburg 1994 Berater des damaligen Vizebürgermeisters Putin; Igor Setschin, heute Vize-Bürochef im Kreml, beriet Sobtschak ab 1991 und diente seinem KGB-Freund Putin als Büroleiter; Alexei Kudrin, heute Finanzminister, war schon 1992 bis 1996 Chef des Finanzressorts in Petersburg; der heutige Wirtschaftsminister German Gref war 1992 bis 1997 in der Petersburger Eigentumsverwaltung tätig; in anderen leitenden Funktionen fanden sich damals Dimitri Kosak, heute Statthalter in Südrussland, Alexei Miller, jetzt Chef des staatlichen Megakonzerns Gasprom, Geheimdienstoffizier Wiktor Iwanow, heute Präsidentenberater im Kreml, und – Anatoli Tschubais, derzeit noch Chef der russischen Energieversorgungs-Firma RAO EES.

Sonderfall. Tschubais ist deshalb ein Sonderfall unter Putins Männern, weil er eigentlich nicht mehr zu dessen Günstlingen zählt. Als einer der Architekten der überhasteten Privatisierung des Staatseigentums in den neunziger Jahren half Tschubais bei der Schaffung der Oligarchenkaste mit. Später wechselte er in die aktive Politik und wurde Chef der liberalen Kleinpartei SPS. Bei den Duma-Wahlen 2003 flogen die Liberalen aus dem Parlament, Tschubais blieb sein Brotjob als Chef von RAO EES.

Putin hat seinen Stromchef immer noch nicht gefeuert, obwohl dieser für den flächendeckenden Stromausfall am 25. Mai in Moskau verantwortlich gemacht wurde und obwohl Tschubais als Einziger auf weiter Flur die Verhaftung Chodorkowskis lautstark kritisiert hatte. Elitenforscherin Olga Kryschtanowskaja glaubt, Tschubais sitze auf Putins KGB-Akt. In jedem Fall dürfte er zu viel über seine Petersburger Freunde wissen, als dass Putin ihn einfach absetzen könnte. Im Frühling wurde ein Attentat auf Tschubais verübt, das er dank gepanzerter Limousine überlebte.

Auch die anderen liberalen Politiker in Putins Männerriege haben bisher politisch überlebt, weil sie zu viel wissen oder weil der Präsident, so spekulieren die Kremlinologen, sich den Silowiki nicht ganz ausliefern will. Die Politik der Balance war in den ersten fünf Jahren der Macht sein Erfolgsrezept. Im Vergleich zu den wilden Jahren unter Boris Jelzin hat Putin relative Ruhe in seinem Reich hergestellt.

Gerade in ihrem ureigenen Beruf haben die Silowiki allerdings versagt: Die Sicherheitslage ist prekärer denn je. Der Krieg in Tschetschenien hat ein ungeahntes Ausmaß an Terroranschlägen über die russische Zivilbevölkerung gebracht. Die junge Journalistin Julia Jusik hat in ihrem Buch „Die Bräute Allahs“1) die Hintergründe des tschetschenischen Terrorismus ausgeforscht und klagt den FSB an: „Ich, eine 22-jährige Journalistin, habe in Tschetschenien erfahren, wo die Geiselnehmer ausgebildet wurden – und auch, wo, wie und von wem die nächsten ausgebildet werden. Ich weiß das – und die Geheimdienste wissen es nicht?“ Statt Russland zu schützen, vermutet die Autorin, halte man den Krieg im Kaukasus am Köcheln: „Ist dieser Krieg also doch noch für jemanden von Nutzen?“

Kritiker. Kritische Bücher wie Jusiks „Bräute“ werden, wenn überhaupt publiziert, oft nach kurzer Zeit wieder aus dem Verkehr gezogen. Auf Nachfrage, erzählt Jusik, habe sie selbst in einem Moskauer Buchgeschäft erfahren, „die oben hätten geraten, das Buch nicht mehr zu verkaufen“. So wird die Bevölkerung vor Regimekritik bewahrt. Vergangene Woche wurde bekannt, eine der letzten unabhängigen Tageszeitungen, die traditionsreiche „Iswestija“, bekomme mit dem staatseigenen Gasprom-Konzern einen neuen Besitzer.

Die weit gehend gleichgeschalteten Medien suggerieren der Bevölkerung, das Regime habe nur ihr Wohl im Auge. Dabei sei das Gegenteil der Fall, schreibt das Reporterehepaar Susan Glasser und Peter Baker von der „Washington Post“ in ihrem soeben in Amerika erschienenen Buch „Kremlin Rising“2): „Putins Russland kann als Studie dafür herhalten, wie man ein diktatorisches politisches System nicht reformieren und wie man einen Krieg gegen den Terror nicht führen sollte.“

Von Tessa Szyszkowitz/Moskau
Mitarbeit: Andrej Iwanowski