"Putin hat panische Angst"

Russland. Der ehemalige Regierungschef Michail Kasjanow über den Anfang vom Ende der Ära Putin

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Interview: Andrei Iwanowski/Moskau

profil: Tausende Moskauer demonstrieren seit Tagen gegen den Wahlbetrug bei der Duma-Wahl am 4. Dezember. US-Senator Michael McCain twitterte an Wladimir Putin: "Lieber Wlad, gratuliere zum Beginn des arabischen Frühlings in Moskau!“ Wird der Rote Platz bald in Tahrir-Platz umbenannt?
Kasjanow: Die Fernsehbilder aus Kairo haben die Russen natürlich beeindruckt. Außerdem erklärten 70 Prozent der Russen laut Umfragen vor den Wahlen, es gebe keine Partei auf dem Stimmzettel, für die sie stimmen würden. Unsere Parnas-Partei wurde auch nicht zugelassen. Die russischen Wähler fühlen sich betrogen, deshalb wird jetzt demonstriert. Die Kreml-Partei Geeintes Russland hat ihre Zweidrittelmehrheit in der Duma verloren, trotzdem stellen die Machthaber Putin und Medwedew den Stimmenverlust als "Sieg“ dar. Ich fürchte, sie werden die Proteste hart niederschlagen.

profil: Wladimir Putin ist auch deshalb in Russland so populär, weil er als starker Mann gilt, der dem Westen trotzt. Hätten prowestliche Parteien wie Parnas überhaupt genug Stimmen für einen Einzug in das Parlament bekommen?
Kasjanow: Niemand außer uns sagt heute deutlich, dass Russland ein Teil Europas ist. Die Werte der europäischen Zivilisation sind auch unsere Werte. Die EU ist unser natürlicher Partner. Der Kreml aber will die Bevölkerung wie zu Sowjetzeiten nur mit beschränkten Freiheiten und Rechten ausstatten. Deshalb hat Putin panische Angst vor Protesten. Eine Zivilgesellschaft, die ihr natürliches Recht auf Meinungsfreiheit einfordert - das kann er gar nicht brauchen.

profil: Sehen Sie Putins Comeback als Präsident im März gefährdet?
Kasjanow: Ein Politiker muss zu Manövern und Kompromissen fähig sein. Boris Jelzin stimmte nach dem Finanzkollaps im August 1998 für neun Monate einer Koalitionsregierung mit den Kommunisten zu. Putin ist aber kein richtiger Politiker, er war nie mit Konkurrenz konfrontiert. Er ist mit vollem Karacho in einen Tunnel gefahren, der keinen Ausgang hat. Spätestens in vier Jahren stößt er gegen die Wand. Sollten die Ölpreise abstürzen, dann noch früher. Es gibt kein Licht am Ende von Putins Tunnel.

profil: Wer könnte die Macht übernehmen?
Kasjanow: Putin und sein Gefolge geraten zunehmend in Isolation. Das Ziel der liberalen Opposition ist nicht ein Umsturz im Zuge eines "slawischen Frühlings“. Wir fordern legitime Strukturen, die Putins friedlichen Abgang ermöglichen.

profil: Ist eine Palastrevolution denkbar? Putin entließ Sie im Februar 2004, weil Sie angeblich mit Boris Nemzow ein Komplott gegen ihn geschmiedet hatten - in Lech am Arlberg.
Kasjanow: Wolfgang Schüssel hatte mich zu einem zehntägigen Skiurlaub eingeladen.

profil: Putin hatte Ihnen kurz davor noch Ski zum Geburtstag geschenkt.
Kasjanow: Wolfgang schenkte mir dann auch noch welche. Nemzow kam für anderthalb Tage nach. Als Premier hatte ich jede Menge Bodyguards um mich herum. Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass Nemzow und ich bei unseren stundenlangen Spaziergängen durch Lech abgehört wurden. Wir sprachen zwar nicht über ein Komplott, sehr wohl aber über politische Themen. Bei den Duma-Wahlen im Dezember 2003 hatte es erstmals massive Fälschungen gegeben.

profil: Fiel Ihnen dann ganz plötzlich auf, dass Putin doch kein Reformer werden wollte? Immerhin waren Sie vier Jahre lang sein Premierminister.
Kasjanow: Dreieinhalb Jahre lang glaubte ich, dass er die gleiche Entwicklung wie ich gemacht hatte. Ich wurde vom ehemaligen linientreuen Ökonomen in der sowjetischen Planungsbehörde Gosplan zum überzeugten Demokraten. Putin, der ehemalige KGB-Offizier, trug anfangs alle marktwirtschaftlichen Reformen mit. Ich war wohl zu leichtgläubig, um nicht zu sagen: naiv. Wir redeten damals aber recht offen und kritisierten ihn auch. Heute aber haben die Leute vor Putin viel zu viel Angst, um überhaupt über eine Nachfolge zu spekulieren.

profil: Irgendwann könnten die Menschen dieser Angst müde werden.
Kasjanow: Sobald sie sehen, dass sich die Stimmung ändert, laufen sie ihm weg. Dann fällt das ganze System auseinander. Erst einmal aber wird er im März 2012 Präsident und Medwedew Premierminister. 2013, denke ich, wird Putin eine neue Regierung ernennen und Medwedew wegloben. Medwedew hat dann wohl als Platzhalter ausgedient.

Michail Kasjanow, 54,
war von 2000 bis 2004 Premierminister unter Präsident Wladimir Putin. Heute gehört er zu dessen schärfsten Kritikern. Zusammen mit dem liberalen Oppositionspolitiker und ehemaligen Vizepremier Boris Nemzow gründete er 2011 die Partei Parnas (Partei der Volksfreiheit). Sie war zu den jüngsten Duma-Wahlen nicht zugelassen.