Russland-Wahl 2008: 'Der Zarewitsch'

Wird Medwedew aus Putins Schatten treten?

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Noch steht Wladimir Putin vor Dmitri Medwedew. Der scheidende Präsident trägt allerdings eine braune Lederjacke, so, als ginge er gleich fischen. Der Nachfolger dagegen präsentiert sich im schwarzen Mantel aus feinem Tuch und lächelt musterschülerhaft. Das haushohe Wahlplakat für die Präsidentenwahlen am 2. März hängt auf der Bauruine des Hotel Moskwa gleich gegenüber dem Kreml. Bild und Text lassen keine Fragen offen: „Gemeinsam gewinnen wir.“ Rufzeichen.

Das Volk hat verstanden. Der 42-jährige Vizepremier musste nie um seine Wahl fürchten. Gleichgeschaltete Medien und Russlands Wirtschaftsdaten verhalfen Putins Plan zur Durchsetzung: Die Fortsetzung seiner autoritären Herrschaft mit Medwedews jungenhaftem Antlitz ist – vorerst – gesichert. Der neue Präsident und der alte Präsident gedenken, erst einmal gemeinsam zu regieren. Der eine als Kreml-Herr, der andere als Premierminister; der Jüngere gibt den modern und liberal wirkenden Demokraten, der sich nach Europa wendet, der Ältere bedient Großmachtgelüste und Kalter-Krieg-Reflexe.So sehen Sieger aus. Doch wer ist Dmitri Medwedew? Oder genauer: Wofür wird er stehen, wenn er hinter Putins Schulter hervorgetreten ist?

Ein Mann, zwei Herzen
Der 42-jährige Jurist aus St. Petersburg fällt optisch nicht eben auf. Mit 162 Zentimetern ist er noch kleiner als sein ebenfalls kurzgewachsener Mentor. Auch ­seine Biografie ist nicht spektakulär. Das Kind von Universitätslehrern – Mutter Julia unterrichtete Literatur, Vater Anatoli Physik – war ein Bücherwurm, der am liebsten die „Sowjetische Enzyklopädie“ las. Gleichzeitig – oder als Ausgleich fürs angepasste Lesen – hörte der Junge Pink Floyd. Um „The Wall“ zu kaufen, sparte er jahrelang seine Rubel auf. Als Michail Gorbatschows Glasnost begann, war der Jusstudent 20 Jahre alt. Diese Dualität – russisches Bildungsbürgertum und westlicher Freiheitsdrang – prägt Medwedew bis heute. Nie hat man ihn so strahlen gesehen wie kürzlich am 11. Februar, als er gemeinsam mit Deep Purple für die Kameras posierte. Die britischen Altrocker hatte Medwedew extra zum 15-jährigen Jubiläum von Gazprom nach Moskau einfliegen lassen. „Smoke on the Water“ hallte durch die Kreml-Hallen. So feierte die russische Elite den Erfolg des staatlich kontrollierten Energieriesen, dessen Profit von 450 Millionen Euro im Jahr 1998 auf 17 Milliarden Euro im Jahr 2007 angestiegen ist.

Diesen Erfolg kann sich Rockfan Dmitri auf die Fahnen schreiben. Er ist seit 2000 Vorsitzender des Aufsichtsrats von Gazprom. Die Umstrukturierung des Konzerns trägt seine Handschrift: Einerseits hat er Gazprom wieder unter staatliche Kontrolle gebracht, andererseits hat er Ausländern den Zugang zu Gazprom-Aktien ermöglicht. Die Dualität seiner Kindheitsmuster grenzt heute allerdings an Schizophrenie. „Unsere Politik muss auf einem Prinzip basieren, das aus meiner Sicht das wichtigs­te in jedem modernen Staat ist, der einen hohen Lebensstandard anstrebt: dem Prinzip der Freiheit“, sagte er bei einer Grundsatzrede am 14. Februar in Krasnodar. Allen hoffnungsfrohen Demokraten schlug das Herz schneller, dem Redner selbst vielleicht auch.
Doch der Experte für Zivilrecht hat in seiner Eigenschaft als Gazprom-Aufsichtsratschef und Chef von Putins Kreml­büro (2003–2005) genau diese in den neunziger Jahren errungene Freiheit nach Strich und Faden verraten. Gazprom-Media fraß in den letzten vier Jahren unter anderen die vormals unabhängigen Fernsehsender NTW und TNT, die Zeitungen „Iswestija“, „Komsomolskaja Prawda“ und „Itogi“. Nicht nur die Medien, auch das Parlament und die Gerichte wurden unter Wladimir Putin gleichgeschaltet. Nur einmal hat Medwedew die Entdemokratisierung öffentlich kritisiert: Als Michail Chodorkowski im Oktober 2003 verhaftet wurde, protestierte Medwedew. Nicht gegen den Überfall auf den damals reichsten Mann Russlands und Chef des ­Yukos-Konzerns, sondern dagegen, dass die Aktien dieses erfolgreichen Unternehmens eingefroren worden waren, was zu einer ­Devaluierung von 30 Prozent führte.

Doppelherrschaft
Bisher hat Medwedew vornehmlich geschwiegen und war seinem Herrn ein loyaler und effizienter Diener. Seit 17 Jahren arbeiten Putin und Medwedew zusammen, zuerst in St. Petersburg als Vizebürgermeister und juristischer Berater, später im Kreml in Moskau als Präsident und Bürochef. Zwei Jahre lang arbeitete Medwedew als Erster Vizepremier an der Umsetzung der „nationalen Projekte“, die Wohnbau, Gesundheitswesen, Erziehung und Landwirtschaft verbessern sollen. Ab Mai 2008 ändert sich das Verhältnis nun grundsätzlich, zumindest auf dem Papier wird Medwedew erstmals Putins Chef. Die Kremlinologie geht in eine neue Phase: Wie gestalten die beiden ihre Doppelherrschaft? Wie lange kann das gut gehen? Und soll es das überhaupt? Putin selbst dachte vor der Presse öffentlich darüber nach, wie er den Rollentausch schaffen könnte: „Sein Bild werde ich mir jedenfalls nicht an die Wand hängen.“

„Medwedew ist Putin näher als seine Frau, die beiden haben sich in aller Freundschaft alles ausgemacht“, meint Oppositionspolitiker Wladimir Ryschkow im profil-Interview. Der Kreml-nahe Politologe Sergej Markow, der für seine Analysen im Dezember mit einem Duma-Mandat der Kreml-Partei „Geeintes Russland“ belohnt wurde, sieht Putin noch für eine Weile als „Schlüsselfigur“, meint aber: „Putin will nicht, dass Medwedew seine Marionette bleibt. Mehr noch: Es wäre in seinem Interesse, wenn der Nachfolger selbst zum nationalen Führer heranreift.“ Denn in Putins Russland geht es vornehmlich um eines: den Erhalt der Macht zwecks Erhalt der Pfründen. Um die Macht streiten heute in Moskau nicht verschiedene Parteien im Parlament, sondern etwa 15 einflussreiche Kreml-Clans und ihre verbündeten Oligarchen. Sie kämpfen verbissen um die beste Positionierung für die nächste Ära. Medwedew wird vornehmlich das tun müssen, was Putin bisher so gut gelungen ist: die verschiedenen Gruppen gegeneinander ausspielen und damit in Balance halten. Schafft er das, kann Putin sich aus der Politik zurückziehen.

KGB ade?
Höchste Sensibilität muss der neue Präsident gegenüber den Geheimdiensten aufbringen. Der ehemalige KGB-Offizier Putin holte Geheimdienstmänner und Petersburger Freunde an die Töpfe nach Moskau. Elitenforscherin Olga Kryschtanowskaja sagt: „Über zwei Drittel der öffentlichen Funktionen sind heute mit Geheimdienstleuten besetzt.“ Doch Putin wollte keine Alleinherrschaft des heute unter der Abkürzung FSB firmierenden Inlandsgeheimdienstes. Sonst hätte er Sergej Iwanow bestellt, den ehemaligen Verteidigungsminis­ter und Vizepremier, der lange Zeit als Nachfolger die besten Karten hatte. Medwedew stammt nicht aus dem KGB. Er signalisiert Distanz zu den so genannten „Silowiki“, den Vertretern der Machtministerien. Doch getreu der Putin’schen Balancepolitik werden die einflussreichen grauen Männer nicht von ihren lukrativen Posten verdrängt. Im Gegenzug sorgt der FSB für Ruhe, Ordnung und Überwachung im Land.

Oligarchen unter sich
Noch wichtiger für den Machterhalt sind die Putin-nahen Oligarchen. Die Kreml­propagandisten behaupten zwar stets, Putin habe die Macht der Oligarchen gebrochen, dies entspricht aber nicht den Tatsachen. Der bisherige Präsident entfernte nur jene Oligarchen vom Hof, die ihre eigenen Spielregeln aus den neunziger Jahren nicht mehr einhielten. Boris Beresow­ski, Wladimir Gussinski und Michail Chodorkowski hatten das Maß verloren und begonnen, eigenständig Politik zu machen. Einige der zentralen Mitglieder von Jelzins „Familie“ aus den neunziger Jahren haben die Putin-Ära dagegen unbeschadet überstanden. Mehr noch: Roman Abramowitsch, Michail Friedman oder Oleg Deripaska sind Putins und Medwedews Bündnispartner für die Zukunft. Die steinreichen Meisterstrategen arbeiten an der nächsten Phase des Masterplans der Kreml-Elite: an der Legalisierung ihres persönlichen Vermögens.

Ab in den Westen
Dafür brauchen die alten und neuen Oligarchen den Westen. Russland selbst ist ihnen viel zu unsicher. Dass die russische Wirtschaft auf tönernen Füßen steht, weiß die Elite am besten. Der Ölpreis muss nicht immer so hoch wie jetzt bleiben. Und das Notwendige und Nachhaltige wurde unterlassen. Die Infrastruktur wurde nicht saniert; die Inlandsproduktion nicht angekurbelt; man versäumte es, den Wohnbau und das Erziehungswesen zu modernisieren; die medizinische Versorgung wurde nicht dem 21. Jahrhundert angepasst.

In Russland entwickelt sich zwar ein Mittelstand von dynamischen postsow­jetischen Geschäftsleuten. Der Durchschnittslohn hat sich seit dem Jahr 2000 verfünffacht. Einzelhandel, Kleinunternehmer, aber auch die Joint Ventures der internationalen Großkonzerne blühen und gedeihen im ganzen Land. Dieser neue Mittelstand aber hat allen Grund, Angst davor zu haben, dass die Energiepreise einbrechen und der neue Wohlstand sich in Luft auflöst. Bereits jetzt liegt die Inflation bei zwölf Prozent. Deripaska und Co investieren vorsorglich im Westen. Medwedew als neuer Präsident wird dabei sehr hilfreich sein. Den hübschen Petersburger kann man sich ohne Weiteres in Kitzbühel beim lockeren Après-Ski vorstellen. Natürlich nicht nur eine Frage des Aussehens. Medwedew schlägt eben auch einen anderen Ton an als sein bisheriger Chef.

Im Kern unterscheiden sich Putin und Medwedew jedoch nicht. Auch Putin ist Europa wichtig. Gleichzeitig besteht er auf einer eigenständigen Großmachtpolitik. Die wird von Medwedew weitergeführt, wie er bei seinem Besuch in Serbien und Ungarn vergangene Woche klarstellte: „Für uns bleibt Serbien ein einheitlicher Staat“, richtete der angehende Präsident den Kosovaren aus. In Budapest verhandelte der Noch-Gazprom-Chef über eine Konkurrenzpipeline zum südeuropäischen Gasleitungsprojekt Nabucco, das Westeuropa weniger abhängig von den russischen Energielieferungen machen soll. Auch innenpolitisch folgen Zar und Zarewitsch dem autokratischen Weg. Das erfordert Putins Erbe. Die Kleptokratie kann nur ohne Kontrolle existieren. „Der Unterschied zwischen Putin und Medwedew ist kalkulierte Rhetorik“, analysiert der ehemalige Kreml-Spindoctor und heutige Hauptkritiker Stanislaw Belkowski. „Die gleiche Zeit hat, trotz des Altersunterschieds, Medwedew und Putin geprägt.“ Anfang der neunziger Jahre arbeiteten die beiden im Petersburger Rathaus. Dort lernten sie ihr Geschäft: „Sie sind fixe postsowjetische Geschäftsleute mit krimineller Energie.“

Ein neuer Zar
Putin hat Medwedew auserwählt, weil er ihm vertraut. Und nicht, weil er ihn für ein manipulierbares Weichei hält, wie ihm viele Beobachter unterstellen. Der bisherige Vizepremier, Gazprom-Vorstand und Kreml-Verwalter hat im Gegenteil hinter den Kulissen schon öfters bewiesen, dass er sich durchsetzen kann. So beförderte er regelmäßig seine Juris­tenfreunde aus Petersburger Studentenzeiten in wichtige Machtpositionen. 2004 setzte er Anton Iwanow als Präsident des Obersten Schiedsgerichts, das für Konflikte zwischen Firmen zuständig ist, durch, obwohl sämtliche Richter dagegen waren.
Noch heikler war die Hilfestellung für Konstantin Tschuitschenko. Der Jurist aus Petersburg vertritt seit 2004 die Gazprom-Bank im Management von Rosukrenergo. Als Russland der Ukraine Anfang Jänner 2006 kurzfristig den Gashahn zudrehte, weil die Ukraine die neuen Gaspreise nicht zahlen konnte, wurde die Firma eingeschaltet, um zentralasiatisches Billiggas, gemischt mit teurem russischem Gas nach Kiew zu liefern. Der Deal galt stets als intransparent, weil dabei der Mafiaboss Semjon Mogilevich Pate gestanden haben soll. Offiziell gehört Rosukrenergo zu 50 Prozent Gazprom, die andere Hälfte der Eigentümer wurde von der österreichischen Raiffeisenbank vertreten.

Am 24. Jänner 2008 wurde nun Mogilevich plötzlich in Moskau verhaftet. Daraufhin warf man, nach russisch-ukrainischen Verhandlungen, Rosukrenergo aus dem Geschäft. „Die Verhaftung war ein Signal an Medwedew, nicht zu vergessen, wem Putin und er die Herrschaft verdanken“, schrieb Julia Latynina in der „Nowaja Gaseta“. Vielleicht war es daher keine kaltblütige Lüge, sondern eher ein Hilfeschrei, als Medwedew am 14. Februar vor dem Wirtschaftsforum in Krasnodar rief: „Die Korruption ist ein Hauptproblem dieser Regierung. Eine der Prioritäten muss es sein, die Unabhängigkeit der Gerichte herzustellen.“

Das entmündigte Volk wagt freilich kaum zu hoffen, dass Medwedew sich vom Zarewitsch zum Zauberlehrling mausert, der an seinem Herrn vorbei Demokratie und Rechtsstaatlichkeit einführt. Der Kleinunternehmer Mischa Krim steht vor dem zentralen Wahlplakat am Roten Platz und meint resigniert: „Putin und Medwedew nebeneinander, das ist wie einst die Personalunion von Lenin und Stalin.“ Bevor er im Eingang zur U-Bahn verschwindet, zieht er fröstelnd die Schultern hoch.

Von Andrej Iwanowski und Tessa Szyszkowitz/Moskau