Saudi-Arabien: Die Lunte am Benzinfass

Jetzt destabilisiert al-Qa’ida das Königreich

Drucken

Schriftgröße

Die Nachricht kam nicht gerade unerwartet, aber als sie eintraf, jagte sie dennoch Schockwellen durch die Welt. Und sie kam auf mittlerweile schon grausig gewohnte Weise, Freitag vergangener Woche, knapp vor acht Uhr abends. Da stellten die Djihad-Killer, die sich „al-Q’aida auf der arabischen Insel“ nennen, drei Bilder auf ihre Homepage, die den Betrachter den Atem stocken lassen: Darauf ist der blutige Torso von Paul Johnson zu sehen, der abgetrennte Kopf liegt auf seinem Rücken. Der Mord als maximal-makabre Schock-Inszenierung, wie schon bei der Enthauptung des Journalisten Daniel Pearl in Pakistan und des Technikers Nick Berg im Irak.

Sechs Tage davor hatten die Anhänger Osama Bin Ladens den 49-jährigen Amerikaner Johnson, der als Ingenieur beim US-Rüstungskonzern Lockheed Martin arbeitete, in Riad entführt. Sie forderten die Freilassung aller in saudischen Gefängnissen inhaftierten Djihadisten binnen dreier Tage, andernfalls würde „der Ungläubige“ exekutiert. Die Drohung wurde verwirklicht, bevor das Ultimatum verstrichen war.

Es war der jüngste brutale Höhepunkt einer Terroroffensive, die Saudi-Arabien seit Ende April in Atem hält. Erst wurde ein Gebäude des Innenministeriums in Riad von al-Qa’ida-Kämpfern in die Luft gejagt, dann starben sechs westliche Ölarbeiter und ein Saudi bei einem Anschlag in der Hafenstadt Janbu. Kurz darauf traf es einen Deutschen, der für eine saudische Fluggesellschaft arbeitete.

Ende Mai stürmte ein al-Qa’ida-Kommando eine Wohnanlage in der Ölmetropole Khobar, insgesamt kamen 22 Menschen ums Leben. Brutal schnitten die Terroristen neun Ausländern die Kehlen durch. Als Nächstes wurde ein Kamerateam der britischen BBC angegriffen – ein irischer Kameramann kam ums Leben. Nur zwei Tage später wurde ein Amerikaner vor seinem Wohnhaus mit neun Schüssen in den Kopf regelrecht hingerichtet. Vorvergangenes Wochenende schließlich töteten Terroristen einen Amerikaner und entführten den nun ermordeten Paul Johnson.

Kleinere Feuergefechte sind ohnedies fast an der Tagesordnung.

Die Destabilisierung Saudi-Arabiens – für den Westen das Alptraum-Szenario schlechthin. Schon wird gefragt, was denn eigentlich passieren würde, wenn es den offensichtlich gut organisierten Terroris-ten gelänge, die Nervenzentren der saudi-arabischen Ölindustrie zu zerstören, Ölverlade-Terminals wie Ras Tanura am Persischen Golf? Ein Weltwirtschaftsschock wäre womöglich die Folge, mit Ölpreisen von gut 100 Dollar pro Barrel genanntes Fass zu 158,97 Litern (siehe auch Rohöl-Story).

So grausig es klingt: Wieder einmal erweist sich al-Qa’ida als Organisation mit „schneller Lernfähigkeit“, konstatiert Herfried Münckler, Sicherheitsexperte an der Berliner Humboldt-Universität. Die Terrorzellen hätten erkannt, wie effektiv Aktionen sind, „die auf die hochgradig verletzliche wirtschaftliche Struktur des Westens und auf die Psychologie westlicher Wirtschaftsakteure zielen“. Zeitgleich mit ihrer Terroroffensive in Saudi-Arabien haben sich die al-Q’aida-Leute im Irak auf Anschläge auf die ohnehin kaum betriebsfähige Förder-Infrastruktur und Öl-Pipelines verlegt. Zudem zeigt die immer dichtere Abfolge der Anschläge in Saudi-Arabien, dass sich die Untergrundkämpfer fast ungehindert im Land bewegen können. Sowohl bei dem Anschlag auf das Gebäude des Innenministeriums in Riad wie auch bei jenem auf die Wohnsiedlung in Khobar hatten die Angreifer offenbar Helfer aufseiten der Nationalgarde, die Anschläge eigentlich verhindern sollten.

Westler in Angst. So herrscht derweil regelrechte Panik unter den rund 80.000 westlichen Ausländern, ohne die es kaum möglich wäre, die saudische Ölindustrie funktionstüchtig zu halten. „Man geht möglichst selten auf die Straße“, berichtet ein deutscher Geschäftsmann, der seit zwei Jahren in Riad lebt, gegenüber profil. Zunehmend breite sich „eine Bunkermentalität“ aus. Westler fühlten sich auf der Straße nahezu wie Freiwild. Und auch in den mit Panzerwägen bewehrten Wohnanlagen ist das Gefühl von Sicherheit verflogen – denn was helfen die schwer bewaffneten Nationalgardisten, wenn die womöglich mit den Terroristen unter einer Decke stecken? Schon verlegen westliche Unternehmen, wie etwa die deutsche Lufthansa, ihre Büros von Riad nach Dubai. Dass noch keine massiveren Abwanderungsbewegungen zu beobachten sind, hängt womöglich nur mit den nahen Sommerferien zusammen. Da sind die westlichen Spezialisten traditionell auf Heimaturlaub, und in der Ausländer-Community nimmt man an, „dass sich viele von ihnen in dieser Zeit um einen neuen Job umsehen“, so der deutsche Geschäftsmann.

Das saudische Königtum und die regierenden Prinzen sehen sich praktisch einem Guerillakrieg der al-Qa’ida gegenüber. Doch die nun dramatisch verschärfte Bedrohung ist auch das Resultat einer paradoxen, grotesken Symbiose. Das saudische Königshaus verordnet dem Land selbst ein rigides islamisches System im Alltag, in dem jede Form von Freizügigkeit und alle weltlichen Freuden verpönt sind. Frauen genießen noch immer keine Rechte, dürfen ohne Begleitung eines männlichen Verwandten ersten Grades keine größeren Einkäufe erledigen, und das islamische Recht, die Scharia, wird in besonders harter Form exekutiert. Zudem hängt das Königshaus Saud einer militant-puritanischen Lehre des Islam an, die es über die ganze Welt zu verbreiten versucht.

Diese Lehre – Wahabismus genannt – geht auf den Sektengründer Muhammad Ibn Abd al-Wahab zurück, einen Prediger, der Ende des 17. Jahrhunderts die Rückkehr zum „echten Islam“ anmahnte, zum asketischen Ideal des Propheten Mohammeds. Aus Wahabs Lehre wäre aber nicht viel geworden, hätte er sich nicht mit einem lokalen arabischen Wüstenkrieger zusammengetan, mit Mohammed Ibn Saud – dem Stammvater des saudi-arabischen Königreiches. Der Beduinenführer und dessen Nachfahren haben sich nach und nach die Herrschaft über weite Teile der arabischen Halbinsel zusammenerobert. Die Abfolge von Feldzügen kulminierte in der Übernahme der Kontrolle über die heiligsten Stätten des Islam – Mekka und Medina – und 1932 in der Proklamation des Königreiches Saudi-Arabien. Derweil blieb der Wahabismus die Privatideologie des Hauses Saud. Und mit dem Ölreichtum des Herrscherhauses wurde der Wahabismus mächtig, auch wenn in die nomadische Wüstengesellschaft, die noch vor zwei Generationen mit Dattelplantagen sowie durch die Abgaben der Mekka-Pilger ihren Lebensunterhalt erwirtschaftete, in wenigen Jahrzehnten eine Modernitätskulisse mit Wolkenkratzern und glitzernden Shopping-Malls gebaut wurde.

Die Wahabiten predigen zwar nicht Terror, doch anders als in säkularen arabischen Autokratien wie Ägypten, Syrien, Algerien oder dem Irak wurden die militanten Anhänger des Djihad, des heiligen Krieges, nicht unterdrückt, sondern umhätschelt, solange sie die Legitimität des Hauses Saud nicht infrage stellten – und das Establishment selbst ist bis in höchste Ränge von Djihadisten infiltriert. Osama Bin Laden, Spross einer einflussreichen und überaus wohlhabenden saudischen Unternehmerfamilie, wurde mit reichlichem Budget für den Krieg gegen die Sowjets in Afghanistan ausgestattet. Djihad-Fanatiker, die in ihren Heimatländern verfolgt wurden, erhielten in Saudi-Arabien Exil und hohe Posten als Imame oder Universitätsprofessoren – so etwa Mohammed Qutb, der Bruder des ägyptischen Moslembruders Sayyed Qutb, der als ideologischer Begründer des militanten Djihad-Islamismus gilt. Und von Afghanistan über Pakistan, die Philippinen bis nach Bosnien und Deutschland werden Madrassen, Koranschulen, in denen ein besonders engstirniger Islam gelehrt wird, mit saudischem Ölgeld bestens dotiert.

Gehätschelte Djihadisten. Den Westen, die USA voran, hat das nicht gestört, solange die Saudis Verbündete im Kalten Krieg und gute Geschäftsfreunde waren – dass die Familie Saud und die Familie Bush beste Geschäftsbeziehungen pflegen und Prinz Bandar, der saudische Botschafter in Washington, ein einflussreicher Konfident der US-Regierung ist, gab wilden Verschwörungstheorien Nahrung. Die dubiose Ölmonarchie kam erst ins Gerede, als sich nach dem 11. September herausstellte, dass bis zuletzt saudisches Geld in die Taschen von al-Qa’ida geflossen ist – Berichten zufolge bis zu 500 Millionen Dollar allein in den neunziger Jahren – und dass 15 der 19 Attentäter des 11. September aus Saudi-Arabien stammten. Erst in jüngster Zeit sehen sich westliche Sicherheitsbehörden genauer an, wen sie da bisher ungestört ließen. Und stoßen auf Brutstätten eines aggressiven Islam, wie die König-Fahd-Akademie in Bonn.

Eine fatale Koinzidenz von Macht, Öl und Sektiererei, die der Princeton-Professor Bernard Lewis, der Doyen der westlichen Islamwissenschaft, mit einem drastischen Vergleich beschreibt: „Stellen Sie sich vor, der Ku-Klux-Klan hätte die Kontrolle über den Bundesstaat Texas erlangt. Und er hätte die gesamten Einnahmen aus dem Ölgeschäft zur Verfügung, um weltweit seine Interpretation des Christentums zu verbreiten.“ Selbst dann hätte man nur eine ungefähre Vorstellung von der Macht der Wahabiten, denn Ku-Klux-Klan-Schulen müssten im Westen mit weltlichen Schulen konkurrieren – was die saudisch finanzierten Madrassen angesichts maroder Schulsysteme in vielen moslemischen Staaten nicht müssen. Dort sind sie oft die einzigen verfügbaren Bildungseinrichtungen.

Die saudischen Ölprinzen haben die Kraft, deren sie nun nicht mehr Herr werden, bis in allerjüngste Zeit selbst genährt. Die Existenz einer funktionsfähigen al-Qa’ida-Struktur in Saudi-Arabien führen westliche Geheimdienste auch auf den Umstand zurück, dass das Königreich noch nach dem Afghanistankrieg vor zwei Jahren den saudistämmigen Gotteskriegern aus Osama Bin Ladens Camps stillschweigend die Rückkehr nach Hause erlaubte – und diese „arabischen Afghanen“ ungeschoren ließ, weil sie wegen ihres todesmutigen Kampfes für den Islam hohes Prestige genießen. Während ägyptische oder algerische Gotteskrieger in die unwegsamen Gebiete Pakistans flohen oder zum nächsten Djihad-Schauplatz – dem Irak – weiterzogen, durften saudische al-Qa’ida-Leute auf privaten Landbesitzungen bis vergangenes Frühjahr offenbar ungestört Trainingslager unterhalten. Videos von den Kursen haben die Terroristen jedenfalls ins Internet gestellt.

Schutzgeld. Halb aus ideologischer Nähe, halb aus Furcht haben die saudischen Herrscher die Djihadisten gewähren lassen und ihnen finanziell unter die Arme gegriffen. Je reicher und – in den Augen vieler Saudis – korrupter die Ölprinzen wurden, umso angebrachter schien es den Angehörigen dieser superreichen Öl-Elite, sich durch Spenden an fundamentalistische „Wohltätigkeitsvereine“ als gute Muslime zu präsentieren. Die Abgabe eines Teils des eigenen Reichtums an andere ist eine traditionelle Pflicht der Muslime, Zakat genannt. Der deutsch-syrische Islamwissenschafter Bassam Tibi hält die großzügigen saudischen Zahlungen an extremistische Stiftungen deshalb für eine Form von Schutzgeld – um die Radikalen ruhig zu stellen, die der saudischen Führung vor allem verübeln, dass sie seit dem Golfkrieg 1991 US-Truppen Aufenthaltsrecht auf heiliger arabischer Erde einräumt.

War dies tatsächlich das Kalkül der saudischen Herrscherfamilie – aufgegangen ist es nicht. Lange geduldet, fühlen sich die Djihadisten nun stark genug, das Haus Saud direkt herauszufordern. Man werde die „Juden, Amerikaner und Kreuzfahrer“ töten, wo immer man sie treffe, verkündete Abdulasis al-Mukrin, der als Djihad-Legionär schon in Algerien, Bosnien und Somalia kämpfte und nun jene Gruppe anführt, die sich „al-Qa’ida auf der arabischen Insel“ nennt. Freitagnacht gab es wenigstens die erste Erfolgsmeldung der saudischen Sicherheitsbehörden: Al-Mukrin soll bei einem Schusswechsel getötet worden sein.