Bohumil Kecirs Schat- tenfigurenkabinett

Schattenfigurenkabinett

Die Existenz des Malers ist nicht nachweisbar

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Vom Geheimnis lebt die Kunst, von jenen letztlich unlösbaren Rätseln, die sie einem zumutet. Man kann es damit aber auch ein wenig übertreiben – zum Beispiel so: Ein von der Welt übersehener Maler, der nichts als seine Werke hinterlassen hat, soll posthum gewürdigt werden. Er hat eine Heimat (Böhmen), ein Geburtsdatum (3. Juli 1904) und, je nach Quelle, zwei Sterbetage (5. oder 11. August 1987). Eine Biografie nimmt Form an. Der Name des Künstlers: Bohumil Samuel Kecir. Als Geburtsort wird „Holouci“ genannt, später „Holuci (Böhmen)“, schließlich „Holice“.

Und schon gibt es ein Problem: Die ersten beiden Orte existieren auf keiner Karte dieser Welt, auch auf keiner tschechischen. Und Holice findet sich in Osteuropa zwar gleich mehrfach, aber keine dazu passende Kecir-Geburtsurkunde in den lokalen Ämtern. Auch alle weiteren Dokumente sind von zweifelhaftem Erkenntniswert: ein einziges Foto, das einen Buben mit erwachsener Frau an seiner Seite zeigt („mit Mutter um 1915“); das Foto einer Gedenktafel, von der niemand weiß, wo sie angebracht sein soll; eine Parte auf kopiertem Papier; vage Gutachten verschiedener Experten, die auf Nachfrage einschränken, widerrufen oder jedes weitere Gespräch verweigern.

Jene, die an der Legende Kecir festhalten, tendieren dazu, Decknamen zu benutzen – etwa das durchaus sprachschöpferische Pseudonym „Dr. Theodosieff-Maras“, das am Cover einer jüngst publizierten, deutsch-tschechischen Verteidigungsschrift namens „… und Kecir lebte doch!“ zu lesen steht: ein Neuzugang im Schattenfigurenkabinett der Causa Kecir.

1991 scheinen die ersten Arbeiten dieses Malers aufgetaucht zu sein, zunächst weitgehend unbemerkt. Privatsammler beginnen, die in Signalfarben gehaltenen, mit einfachen Formen besetzten spätfauvistischen Werke anzukaufen, dennoch dauert es volle zehn Jahre, ehe das erste Kecir-Bild in einem Auktionshaus unter den Hammer kommt. Angesichts seines sich stetig konsolidierenden Marktwerts gerät der Maler schließlich doch ins Visier der Medien.

Im April 2007 kommt es zum großen Knall: Der tschechische Privatsender Televize Nova bringt einen 20-minütigen Beitrag, eine Reportage von der völligen Spurlosigkeit des Malers Kecir, die Printmedien des Landes ziehen nach. Auch in deutsch- und englischsprachigen Medien wird die Affäre – meist kurz – vermeldet, die Berliner Tageszeitung „Die Welt“ titelt einen der wenigen längeren Artikel dazu mit „Der tschechische Maler, den es nie gab“.

Was darin unerwähnt bleibt, ist die große Menge an verfügbaren Kecir-Gemälden. Offenbar sind mehrere tausend Arbeiten in Umlauf. Die öffentliche Skepsis an der Existenz des Künstlers hat, von vereinzelten Panikreaktionen abgesehen, dem Umsatz kaum geschadet: Gleich nach der Sendung hätten bei ihm „15, 16 Leute angerufen, von denen sieben sofort Arbeiten dieses Malers kaufen wollten“, berichtet etwa der Kunsthändler Oldrich Bartonek in Olomouc, der seit Jahren Kecir-Werke im Angebot hat. Lukrativ ist der Handel trotz moderater Einzelpreise allemal: Nimmt man einen Durchschnittsverkaufswert von 2000 Euro für geschätzte 5000 Gemälde an, so ergibt sich die nicht mehr ganz so moderate Summe von zehn Millionen Euro. Diese Bilder wirkten „wie Drogen“, sagt Bartonek lächelnd: Erst wolle man eines, „dann drei, dann zehn“. Seine Geschäftspartner, der Sammler Navratil und der Maler Tatoun, bestätigen Bartoneks Befund lächelnd.

Vom Hörensagen. Eine Reise nach Tschechien ist indes nicht nötig, um die Sucht zu befriedigen. Wien ist, in mehrfacher Hinsicht, eine Hochburg des Kecir-Kults. Ein Dutzend Händler, deren Kecir-Bestände zum Teil beträchtlich sind, bietet die Ware zu soliden Preisen feil. Allein in der Dorotheergasse finden sich dazu gleich zwei Adressen. Der Kunsthändler Alfred Kohlhammer bietet derzeit zwei Gemälde des Künstlers an; jenes Bild, das die Auslage seines Geschäfts schmückt, ist um 6200 Euro zu haben. Auch ein paar Häuser weiter stehen Kecir-Werke bereit – und nicht nur das: Die Galerie Erich Tromayer ist eines der Hauptquartiere des Kecir-Mythos. Tromayer hat 2005 die erste Publikation zu diesem Maler verfasst: auf Basis vom Hörensagen – zwangsläufig, wie er meint (siehe Interview Seite 94). Sein sehr populäres Verständnis von Kunstgeschichte hat Professor Tromayer, seit 25 Jahren als gerichtlich beeideter Sachverständiger für österreichische Malerei des 19. und 20. Jahrhunderts tätig, hinlänglich bewiesen: Für die ORF-Sendung „Willkommen Österreich“ schätzte er noch vor wenigen Jahren in der Rubrik „Top oder Flop“ den Wert von Kunstgegenständen ein.

In Wien lebt auch Jordan Dimitrov, Sohn eines bulgarisch-griechischen Chirurgen, Allgemeinmediziner im Ruhestand: Er hält seit Jahren, nicht ganz uneigennützig, die Legende Kecir am Leben. Seine Mutter kaufte 1991 eine große Menge Kecir-Bilder ein, die Jordan später geerbt hat. Seit 1965 sammelt er „Ausgefallenes“, wie er meint – und schwärmt etwa von seinen Fotoplatten aus dem Jahr 1910, die Leo Tolstois Begräbnis zeigen. Unlängst habe er eine der Unterhosen Maria Theresias erstanden. Dieser Tage fantasiert er von einem Kecir-Museum, das er mit zwei weiteren Sammlern in einer restaurierten Kapelle eröffnen will.

Spekulation. Woher die Bilder stammen, darüber kann aber auch er nur spekulieren – eines steht für ihn jedoch fest: dass sie von Bohumil Samuel Kecir angefertigt wurden. Er habe zur Verteidigungsbroschüre „beigetragen“, sagt Dimitrov – und legt ein Papier auf den Tisch, das als Beweis fungieren soll. Es zeigt, ganz unten, sehr klein, eine Unterschrift in zartem Blau: „Kecir B.“ steht, neben vielen anderen Signaturen, auf dem Glückwunschschreiben an den Maler Otokar Nejedly aus dem Jahre 1939. Für grafologische Studien will Dimitrov sein Dokument, das er „aus einer guten Quelle“ habe, nicht aus der Hand geben („das bleibt in meinem Banksafe“), und auch seinen Kecir-Bestand mag er für Echtheitsbestimmungen keinem Experten überlassen. „Ich will nicht mehr“, lamentiert Dimitrov. „Seit Monaten höre ich nur noch: Kecir, Kecir! Die Angelegenheit interessiert mich nicht mehr. Für mich ist der Maler existent. Und die Bilder sind sehr gut. Sollen die Leute doch reden, was sie wollen.“

Er werde jedoch weitere Forschungen anstellen, „wenn es meine Gesundheit erlaubt“. Schon um die tschechische Fernsehreportage zu widerlegen: „In Prag scheinen sie was gegen uns zu haben. Aber wir werden TV Nova eine Millionenklage androhen, wenn sie nicht auch uns Kecir-Sammlern die Chance geben: Dann haben sie eine Schadenersatzklage am Hals.“

In einem anderen Papier, datiert mit 13. April 2007, bescheinigt das Wiener Bundesdenkmalamt (BDA) einem Kecir-Gemälde einen „jahrzehntelangen und nicht imitierbaren Alterungsprozess“. Auf Nachfrage schränkt Robert Linke vom BDA allerdings ein, dass er eine „Authentizitätsbestimmung oder Datierung mittels naturwissenschaftlicher Untersuchungsmethoden“ dezidiert abgelehnt habe. Da ihm Dimitrov nur ein einziges Bild vorgelegt habe, fehle ihm „die Materialbasis für vergleichende Untersuchungen am gesamten Œuvre des Künstlers“. Linke geht aufgrund dieser Alterungsspuren davon aus, dass das vorgelegte Bild „zumindest 20 Jahre alt“ sei, eine genaue und endgültige Zuordnung zum Künstler oder eine Datierung sei aber in Unkenntnis größerer Teile des Gesamtwerks „nicht seriös“. Dazu bräuchte er mindestens 20 „eindeutig zugeordnete“ Arbeiten dieses Malers.

Depression. Der Fall Kecir wirft anregende Fragen auf, etwa die, was Kunstsammler eigentlich kaufen: das Werk selbst oder die dazu gelieferte Künstlergeschichte? Und er stellt die Frage nach dem Wesen der Fälschung neu: Ist ein Kunstwerk schon „falsch“, wenn bloß die Biografie seines Schöpfers erfunden ist? Zweifellos üben die Details der illustren Karriere Kecirs ihren Reiz aus: Ein jüdischer Künstler, geboren 1904 an einem unbekannten Ort, gerät nach Studium und Bildungsreisen in lebensgefährliche Konflikte erst mit den Nationalsozialisten, dann auch mit den kommunistischen Machthabern, bis eine schwere Depression ihn in die Psychiatrie bringt, wo er, abgeschirmt vom Rest der Welt, seine letzten Jahrzehnte mit dem Malen von Bildern verbringt. Als er 1987 stirbt, ist er ein Unbekannter. Bis seine Bilder entdeckt, en gros verkauft werden – und sich zu leicht verkäuflichen Objekten entwickeln. Das klingt, man muss das sagen, wie gut erfunden.

Leider lassen sich die biografischen Eckdaten nicht einmal ansatzweise erhärten. In einem einzigen tschechischen Künstlerlexikon taucht Kecirs Name auf: In Prokop Tomans Buch finden sich, ohne Quellenangabe, 29 Zeilen, deren orthografische Fehler Tromayer in sein Buch übernommen hat. Die Ausgabe stammt von 1993. In früheren Auflagen fehlt Kecir. Auch ein sechs Jahre alter Brief der Prager Nationalgalerie an Dimitrov, in dem von einer Kecir-Ausstellung in Pilsen 1936 die Rede ist, lässt sich nicht verifizieren. Die Absenderin will trotz mehrfacher Aufforderung mit profil nicht sprechen. Eine Mitarbeiterin der Nationalgalerie kann darüber nur rätseln: Vielleicht habe die Kollegin „schlechte Erfahrungen mit Journalisten“ gemacht – oder sie meine, „mit dem Brief damals einen Fehler gemacht zu haben“.

An Thesen für die Unbeweisbarkeit der Existenz Kecirs mangelt es nicht: „Es könnte sein, dass das eine jüdische Sache war“, orakelt Dimitrov eher vage. „Vielleicht war er sehr reich, wer weiß?“ Dimitrov vermutet, „dass die Intrige gegen die Authentizität der Kecir-Bilder von Wien eher ausgeht als von Tschechien. Es gibt drei, vier Wiener Händler, die das stark betreiben. Aber auch in Tschechien scheint es irgendeine Kraft zu geben, die den Informationsfluss unterbindet.“

Verschlampt? Kecirs Werk, verhökert, verschlampt und verdrängt im spätkommunistischen Tschechien? Alle Dokumente, alle Ausreisedaten, Geburts- und Sterbeurkunden, die Spitalsaufenthalte, das Begräbnis – alle Aufzeichnungen lückenlos gelöscht? Welche Orwell’sche Staatsmacht wäre dazu in der Lage? „Dieses Werk wurde übersehen“, meint Kecir-Biograf Tromayer trotzig. „So etwas passiert ja immer wieder. Das hat bei Richard Gerstl angefangen, dessen Werk sie auf einen Dachboden gestellt haben, weil es nicht schön war.“

Die Parte Kecirs vom August 1987 verzeichnet drei Kinder: Keines von ihnen, wenn es sie geben sollte, hat sich je gemeldet – auch nicht nach einer landesweiten Skandalfernsehsendung. Dimitrovs Mutter, die 1991 in Prag jene erste große Tranche des Kecir-Bestandes von dem Fotografen Dalibor Kusak erworben hatte, starb 2006. Auch mit Kusak, der – laut Dimitrov – Kecir persönlich gekannt habe, ist keine Verbindung mehr aufzunehmen: Sein Verlag teilt lakonisch mit, dass Kusak leider tot sei – und Kontakt zu den Erben habe man nicht.

Wilde Theorien zur Kecir-Story kursieren derzeit zwischen Prag und Wien: dass ein Kunstgewerbler in Boskovice der Fälscher sei und so zum Schlossbesitzer avanciert sei; dass die Bilder von tschechischen Kunststudenten hergestellt worden seien und zur Wende mit einer simplen Unterschrift kunstmarkttauglich gemacht worden seien. Beweisen lässt sich das nicht.

Die Legende lebt: Im April 2007 hat der deutsche Kunststudent Michel Friedrich Becker, 26, ein neues Buch über Kecir verfasst. Den Umschlag ziert ein umstrittenes Selbstporträt des Künstlers von 1952: ausgezehrte Visage, durchgedrehter Blick. Die biografischen Details, die der Autor nennt, sind Übernahmen aus Tromayers Buch: So wird Behauptetes zur Fachliteratur. Eine Augenzeugin will Becker aber aufgetrieben haben: Er habe „mit einer älteren Frau telefoniert“, die erklärt habe, den Künstler einst gekannt zu haben, „weil er im Haus ihres Vaters, des Malers Vaclav Trefil, ein und aus ging“. Der Kecir-Story wolle sich Becker „zum Ende meines Studiums in Jena und danach intensiv weiter widmen“, denn er halte es für „ein Unding, einen Mann dieser Schaffenskraft unter den Tisch fallen zu lassen“.

Gute Preise. Der aktuelle Marktwert Kecirs scheint trotz allem stabil. In Chicago hat ein Händler vor ein paar Wochen erst ein Gemälde für 17.000 Dollar verkauft. Datenbanken listen knapp 100 zum Teil hochdotierte internationale Versteigerungsergebnisse für Kecir-Bilder seit November 2001 auf. Auch die Society zeigt sich fasziniert: Einer Kecir-Ausstellung des französisch-belgischen Galeristen René Claeys wohnte 2006 Fürst Albert von Monaco bei, der dem Vernehmen nach an Kecirs Kunst höchst interessiert sei. Und drei Bilder habe Bartonek, so berichtet er, an einen Minister der tschechischen Regierung verkauft.

Die Frage bleibt: Wie ist mit einem Künstler ohne Biografie zu verfahren? Sollen die Historiker sprechen oder die Werke für sich selbst? Ob Bohumil Samuel Kecir nun ein Fiktiver ist oder bloß ein spurlos Verschwundener: Er hat, wie es scheint, noch eine ganze Menge mitzuteilen.

Von Stefan Grissemann
Mitarbeit: Alex Halada,
Sebastian Pumberger