Georg Hoffmann-Ostenhof

Schlüsseljahr der Neuzeit

Schlüsseljahr der Neuzeit

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Am 17. Februar 1968 reiste eine kleine Gruppe von Mitgliedern des VSStÖ, der SPÖ-Studentenorganisation, nach Berlin, um an dem inzwischen legendär gewordenen Internationalen Vietnamkongress teilzunehmen. Ich war dabei. Der Kongress wurde zum Urerlebnis. Aus dem ruhigen konservativen Kleinstaat Österreich kommend, fühlte ich mich in dem mit 5000 Personen überfüllten und vibrierenden Hörsaal der Technischen Universität Berlin jäh in eine ganz andere Welt geworfen. In eine Welt, die, so schien es, sich in völligem Umbruch, im hoffnungsvollen Aufbruch zu neuen und schöneren Ufern befand. Linke Gruppen aus Deutschland, Frankreich, Italien, Holland waren die Veranstalter. Was Rang und Namen in der europäischen Intelligenz hatte, unterstützte den Kongress: so eminente Philosophen wie Jean-Paul Sartre, Ernst Bloch und Bertrand Russell und glamouröse Regisseure wie Michelangelo Antonioni und Georgio Strehler – um nur einige der sympathisierenden Promis zu nennen. Damals bereits zu Medienstars avancierte Führer der Studentenbewegung wie der brillante Daniel Cohn-Bendit, „Dany le Rouge“, aus Paris, Rudi Dutschke, der ernst-asketische Deutsche, und der elegante britisch-pakistanische Tariq Ali hielten feurige Reden, der damals meistgelesene marxistische Theoretiker, der Trotzkist Ernest Mandel, analysierte mit Verve den „Stand der Weltrevolution“. Grußbotschaften langten aus allen Weltgegenden ein: von der vietnamesischen Befreiungsbewegung, kurz Vietcong genannt, die gerade in der Tet-Offensive die Amerikaner, die weltweit mächtigste Militärmacht, attackierte; von Guerilla-Organisationen aus Lateinamerika, die gegen die dort herrschenden Militärdiktaturen kämpften; ein Telegramm der „Black Panther“, der radikalen Organisation der US-Schwarzen, wurde verlesen. Und in den Couloirs der TU diskutierte man die neuesten Entwicklungen des beginnenden „Prager Frühlings“ und der polnischen Studentenbe­wegung.
Es war ein magischer Moment: Fühlte man da nicht ganz hautnah Weltgeschichte? War man nicht Teil einer großen Umwälzung, einer globalen Bewegung? Ging der Hegel’sche Weltgeist nicht mitten durch einen durch?

Dieses starke subjektive Erleben hatte aber – trotz aller Überspitztheiten, Fehleinschätzungen, Verrücktheiten und Totalitarismen, die damals in den Diskursen auf dem Vietnamkongress und auch später im Jahr 1968 im Schwange waren – eine Entsprechung in der Realität. Das erste Mal gab es eine vollkommene Synchronisierung von Revolten auf der ganzen Welt. So schreibt der Philosoph Peter Sloterdijk jetzt im Rückblick, dass 1968, „vielleicht vom Jahr der Französischen Revolution abgesehen, das dichteste Jahr der Weltgeschichte gewesen ist. Deswegen ist es das Schlüsseljahr der neueren Zeit, weil wir es damals mit dem Ernstfall der Globalisierung zu tun bekommen haben.“ Da verdichtete sich tatsächlich viel. Drei Revolten kombinierten sich: Die antiautoritären Studenten- und Jugendbewegungen erschütterten in den entwickelten Industrienationen die etablierten Machtstrukturen. Intellektuelle und Studenten begannen in Osteuropa, die kommunistischen Diktaturen herauszufordern. Getragen von den Befreiungsbewegungen, wurde die Entkolonialisierung zu einem Prozess, in dem die „Verdammten dieser Erde“ (so der Titel des berühmt gewordenen Buches von Franz Fanon, einem karibisch-französischen Arzt) ein eigenes Selbstbewusstsein entwickelten und die hegemoniale Macht der Industriestaaten infrage stellten.

Heute wissen wir: Die einstigen Kolonien wurden unabhängig, oft führten Befreiungsbewegungen, einmal an der Macht, in neue Knechtschaft, und das Kräfteverhältnis zwischen Norden und Süden hat sich nicht grundlegend verändert. Der Widerstand gegen die östlichen Politbüros und die Moskowiter Tyrannei wurde noch 1968 niedergewalzt. Aber retrospektiv ist klar: In diesem Jahr erlebte der Kommunismus das frühe Vorspiel seines Untergangs. Und in den Ländern der Ersten Welt hat die Jugendrevolte nicht dem Kapitalismus das Sterbeglöckchen geläutet, wie damals vielfach geglaubt wurde, sondern erst die Voraussetzungen für eine grundlegende Modernisierung der kapitalistischen Gesellschaften gelegt und diese tief greifend liberalisiert. Ganz falsch lagen wir Jungen damals also nicht, als wir uns von der Weltgeschichte erfasst wähnten. Die globale Umwälzung lief in der Folge anders ab, als wir uns das vorgestellt hatten. Umwälzung war es aber doch. Wenn heute in der Jahrestags-Publizistik das österreichische 68er-Jahr ironisiert und teilweise kleingeschrieben wird, dann muss man sagen: Es stimmt, dass der Sturm der Veränderung in diesem Jahr nur als leichte Brise in der Alpenrepublik angekommen war. Dass es aber 1968 bei uns gemütlich zugegangen wäre, wie nun allgemein behauptet wird, entspricht nicht der Realität. Zu ungemütlich waren die durch und durch rückständigen und reaktionären Verhältnisse, gegen die wir damals anrannten. Und wenn man sich heute die politischen Verwerfungen in unserem Land ansieht, dann ist es nicht vermessen zu sagen: Ein bisschen mehr 1968 hätte uns Österreichern ganz gut getan.