Schmachten in den Tiroler Alpen

Schmachten im Gebirge

Indien hat Tirol für seine Filmindustrie entdeckt

Drucken

Schriftgröße

Zwei Spuren im Schnee. Auf der Ehrenbachhöhe, 1800 Meter über dem Meer, glänzt der Firn im kräftigen Licht der Frühjahrssonne. Wenn nur die eiskalten Böen nicht wären. Unsicher balanciert ein dunkelhäutiges Paar, Halt aneinander suchend, den flachen Skihang hinunter. Die beiden würden sich hier in den Kitzbühler Alpen wohl auch aneinander klammern, wenn sie nicht vor allem eines darzustellen hätten: unsterblich verliebt zu sein.

Sindhu Tolani trägt Turnschuhe und ist in einen reichlich schmuckverzierten hellgrünen Sari mit ärmel- und bauchfreiem Oberteil gehüllt; zwischen ihren Augen blitzt ein linsengroßer Edelstein. Die Gänsehaut an ihren bronzenen Schultern ist nicht zu übersehen. Aus dem tiefen Ausschnitt von Nandamuri Kalyanrams psychedelisch gemustertem Seidenhemd in Brauntönen wuchert üppig das Brusthaar. Er hat sein Sakko lässig über die Schultern geworfen und gibt zähnebleckend, was auch sonst seine Profession ist: den Helden.
Die beiden sind „Hero“ und „Heroine“ des actionbetonten indischen Kinofilms „Athanokkade“ („Der einzig Wahre“), für den in Tirol gerade die so genannten Traumsequenzen gedreht werden. Diese Szenen, von denen es in jedem Film mindestens fünf gibt, besser aber noch ein paar mehr, sind ein Phänomen der Traumfabrik Bollywood. Küsse sind in Indien auf der Leinwand tabu, Darstellungen fortgeschrittener körperlicher Liebe erst recht. Deshalb reckt in manchen Filmen ein eigens dafür abgestellter Assistent einen Zweig ins Bild und verdeckt so die sich nähernden Lippen. Meist aber entschwinden die Darsteller für ein paar Minuten einfach aus der Realität. Dann singen und tanzen sie vor exotischen Kulissen, die möglichst wenig mit der Handlung zu tun haben sollen, und „drücken auf diese Art ihre Liebe aus“, wie Jungstar Kalyanram durch den Schnee stapfend erklärt. Nach erfolgreicher musikalischer Triebsublimierung kehrt das Pärchen wieder in den indischen Plot zurück. „Die Leute wollen diese Ablenkungen und die tollen Locations“, betont der Held, „deshalb singen wir überall.“ Und im Nachsatz, ganz höflicher Gast im Land: „Besonders gerne in Österreich. Ihr habt ja so viele Christbäume hier.“

Winterfest. Regisseur Surendar Reddy lässt unterdessen den Blick über die Berge schweifen. „Super“, sagt er halblaut, „fantastisch, außerordentlich.“ In der Talstation hat Reddy, wie auch der Rest der 17-köpfigen Film-Crew, die großteils in T-Shirt und Sandalen angerückt ist, Winterjacke, Handschuhe und festes Schuhwerk ausgefasst. Die Kleidung stammt aus dem Fundus von Wolfgang Weinzierl, die er bei winterlichen Dreharbeiten stets in seinem geräumigen Kofferraum mitführt. Der österreichische Betreuer des Teams findet zwar, „die Inder sind irrsinnig hart im Nehmen“, aber Risiko wollte er doch keines eingehen. Ein verschnupfter Held, eine fiebernde Hauptdarstellerin, gar ein bettlägriger Regisseur? Bei knapp bemessenen sieben Tagen Aufenthalt ist das nicht drin.
Weinzierl ist ein groß gewachsener Mann Anfang fünfzig, der sein rotblondes Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden hat. Seit vielen Jahren arbeitet der Kärntner in der Filmbranche. Vor einiger Zeit hat er sich auf indische Teams spezialisiert. Der Markt wächst – und Drehen mit den Indern ist eine der letzten großen Herausforderungen in der Branche, allerdings nichts für blutige Anfänger und Freunde schnell verdienten Geldes. „Inder sind das Schwierigste“, sagt Weinzierl, während er die Crew-Mitglieder im Auge behält. „Drehbücher gibt es so gut wie nie, so genannte Tages-Dispos nur selten. Und ständig fällt ihnen im letzten Moment irgendetwas Unmögliches ein“, seufzt Weinzierl. Gerade musste er Kalyanram freundlich erklären, dass eine Einstellung mit den ohrenbetäubend lauten Ski-Doos, die über die Pisten rasen, wohl nicht spontan zu drehen sei. Versicherung und so. Dann hetzt er schon einem vom Wind davongeblasenen Plastikbecher nach, den der Requisiteur achtlos fallen gelassen hat. „Da musst du aufpassen wie der Luchs“, grinst er.

Abends sitzen die Inder dann im Keller ihres Hotels in St. Johann neben kaputten Kegelbahnen und essen mit den Fingern Hühnercurry, Reis und Joghurt von Papptellern. In Kühltaschen und leeren Marmeladebechern hat Weinzierl die Verpflegung von einem indischen Wirt in Innsbruck geholt. Zu Mittag hatte man indisches Catering auf die Ehrenbachhöhe kommen lassen; das ist der Deal. Inder essen fast nur indisch, auch im Ausland.
Den täglichen weiten Weg in die Landeshauptstadt kann sich Weinzierl erst sparen, als er vorschlägt, doch auch einmal zu McDonald’s zu gehen. Die Inder in der Kegelbar blicken einander kurz an, dann sagt der Kameramann mit dem Tonfall des ersten Offiziers der Bounty: „Okay, ab morgen jeden Abend McDonald’s.“ Weinzierl atmet auf und geht ab. Nach zwei Minuten ist er wieder da und knallt eine komplette Garnitur Bettwäsche auf den Tisch: „100 Euro. Sie wollen 100 Euro. Schaut euch das an.“ Auf dem weißen Leinen prangen Bügelflecken in mehreren Braunschattierungen. Der Requisiteur hat Kalyanrams Garderobe auf dem Bett geglättet. Zu heiß.

Missgeschicke. Nicht zum ersten Mal muss der österreichische Betreuer ein kleines Missgeschick ausbügeln. Einmal hat einer seiner Schützlinge mit dem Vorhang die Schuhe geputzt, ein anderes Mal fehlte ein Stück aus dem Teppichboden. Jemand brauchte Schuheinlagen. Und obwohl er sagt, er könne in manche Hotels in Tirol nicht mehr gehen, nimmt er den Indern das alles nicht übel. Weinzierl kennt das riesige Land wie seine Westentasche, hat dort sogar Yoga studiert und weiß, dass niemand wegen ein paar Tagen in Europa kulturelle Eigenheiten an der Passkontrolle abgibt. In gewisser Weise fühlt er sich als Mediator zwischen zwei völlig verschiedenen Welten. „Ich habe einen Spezialauftrag. Die Filmleute müssen sich wohl fühlen, und die Hotels dürfen nicht versaut werden. Weil nett ist der Inder ja. Man muss ihn nur erziehen.“

Bollywood-Dreharbeiten sind ein Segen für Tourismus-Manager. Die indische Filmindustrie lässt es sich einiges kosten, Traumsequenzen vor atemberaubenden Berglandschaften zu drehen. In Kaschmir ist das wegen der politischen Konflikte seit vielen Jahren nicht mehr möglich. Als gute Ausweichmöglichkeiten gelten Neuseeland, Kanada, die USA, die Schweiz – und seit einigen Jahren spielt auch Österreich ganz vorn mit, weil das Land über steile Berge und tiefe Seen verfügt und somit kompatibel ist mit der Symbolik der Baghavad Gita, eines der wichtigsten Offenbarungstexte des Hinduismus. Indische Filme sind stets Abwandlungen der Mythen um Gott Krishna. Und indische Touristen wandeln eben gern auf den Spuren der beinah gottgleich verehrten Superstars.
Man kann es auch so formulieren: Weil Küssen im indischen Kino verboten ist, kommen immer mehr Touristen nach Österreich.
1998 fing alles an. Damals wurde die Firma Cine Tirol gegründet, und ihre erste Tätigkeit bestand darin, österreichische Botschafter im Ausland brieflich dazu zu motivieren, das Bundesland als Filmkulisse anzupreisen. „Wir haben mit vielen positiven Reaktionen gerechnet“, sagt Cine-Tirol-Chef Johannes Köck, „mit solchen aus Indien aber nicht.“ Der damalige Botschafter auf dem Subkontinent, mit einer indischen Schauspielerin und Tänzerin verheiratet, prophezeite Tirol „eine glorreiche Zukunft mit indischen Filmproduktionen“. Die Tiroler Szenerien in den indischen Kinos schlugen sich bald auf die Fremdenverkehrsstatistik nieder. Von 2000 bis 2004 verdoppelte sich die Zahl der Nächtigungen indischer Gäste um 100 Prozent auf 19.000.

Einer der prominentesten Beherberger ist Balthasar Hauser, Chef des Stanglwirts in Going. Den Wellnessbereich seines Hotels hat er als Symbiose aus Tiroler Holz und Stein und knalligen indischen Farben gestalten lassen; eine Inderin praktiziert dort Ayurveda. Nur beim Essen, sagt Hauser, „müssen wir uns noch besser einstellen“. Die Beliebtheit bei indischen Gästen hat er ebenfalls Bollywood zu verdanken. Mehrmals wurde schon in seinem Anwesen gedreht: „Dabei haben sie alles gefilmt, jedes Pferd und jede Kuh im Stall.“ Die reichen Inder, sagt er, seien hervorragende Gäste: „Man muss nur schauen, dass es nicht zu viel wird, damit sich andere Gäste nicht gestört fühlen.“ Aber von den ansehnlichen Frauen, die beim Stanglwirt mit Sari im Whirlpool sitzen, fühlt sich niemand belästigt. „Ein wunderschönes Bild“, sagt Hauser, und es klingt, als schildere er eine Traumsequenz im Nassbereich.

Buhlen um Bollywood. Kaum bemerkt von der Öffentlichkeit, kamen in den vergangenen sieben Jahren 45 Filmteams nach Tirol, um Geschmachte im Gebirge auf Zelluloid zu bannen. Die Heldenpärchen tanzten vor dem Goldenen Dachl, in der Swarovski-Kristallwelt bei Wattens und auf dem Hauptplatz von Hall; sie froren bei minus 14 Grad in den Gondeln der Fleckalmbahn und beschworen ihre Liebe im Stift Stams.

Als Bundespräsident Heinz Fischer im Jänner das Milliardenvolk besuchte, gerieten die Bemühungen, Österreich als Bollywood-Kulisse zu verkaufen, erstmals in die Schlagzeilen. Die mitgereisten Landeshauptleute Herwig van Staa aus Tirol und Gabi Burgstaller aus Salzburg trafen Produzenten, Ausstatter und Filmjournalisten. Das Potenzial ist tatsächlich gewaltig: Laut einer Studie können sich etwa 25 Millionen Inder teure Fernreisen leisten; die Zahl der Auslandsaufenthalte steigt seit 2000 jährlich um 20 Prozent.

Seit einigen Jahren arbeitet Johannes Köck von der Cine Tirol mit dem ehemaligen Fluglinienangestellten Mohan Narayan aus der südindischen Filmmetropole Hyderabad zusammen, wo als Tollywood bekanntes Telugu-Kino produziert wird; auch Kalyanram und Sindhu sind in Tirol streng genommen Tollywood-Helden. Köcks Mann in Indien nennt sich selbst „Goodwill Mohan“, wählt Locations in aller Welt aus – und verfolgt als Production-Designer für Telugu-Filme derzeit eine besondere Mission: Er will Österreich als Bollywood-Hot-Spot etablieren. Als er Bundespräsident Fischer in Hyderabad davon erzählte, habe ihm dieser auf die Schulter geklopft und gesagt: „Good man, very good man.“

Noch bis vor Kurzem galt die Postkartenwelt der Innerschweiz bei indischen Produzenten als unschlagbar. Bereits in den sechziger Jahren reisten erste Teams nach Luzern, Interlaken, Engelberg und zum Jungfraunjoch. Nachdem sie mit ihren Arbeitsmethoden einige lokale Betreuer verschlissen hatten, stießen sie Anfang der Achtziger auf den Busunternehmer Jakob Tritten. Dieser hatte die nötige Geduld und genügend Weitblick. Tritten checkte alles – von Drehgenehmigungen bis zu Helikoptern. Zwischendurch beschwichtigte er Bauern, deren Felder zertrampelt worden waren, mit ein paar Scheinen aus den Koffern der indischen Produzenten, denn es ist üblich, das gesamte Auslandsbudget in bar mitzuschleppen.
Bollywood lohnte ihm all das reichlich. Trittens Firma wuchs zu einem auf Indien spezialisierten Reiseunternehmen heran, er spielte kleine Nebenrollen und gelangte auf indische Filmplakate, was ihn sogar in Bombay prominent machte. „Morgens schalte ich jeweils mein Gehirn aus“, antwortete er einmal auf die Frage, wie er als Schweizer mit diesem Chaos umgehen könne. Ende 2003 starb Tritten plötzlich – bei Dreharbeiten zu einem indischen Film. Niemand in der winzigen Branche derer, die Nerven genug für die Betreuung einer Bollywood-Produktion haben, sagt es laut. Aber sein Herztod wird hinter vorgehaltener Hand durchaus mit den Herausforderungen seiner Tätigkeit in Zusammenhang gebracht.

Konkurrenz. Mehr als 200.000 indische Nächtigungen zählte die Schweiz Anfang des 21. Jahrhunderts. Doch neuerdings gibt es leichte Rückgänge. Und das hat auch mit Bollywood zu tun. Filmstar Kalyanram weiß auch, warum: „Die Schweiz ist durch, man hat sie schon zu oft gesehen.“ Auch Cyril Jost von der Film Location Schweiz räumt ein, dass der Höhepunkt der indischen Drehaufenthalte in der Schweiz – in den besten Zeiten wurde für bis zu 60 Filme pro Jahr gefilmt – vorerst überschritten sei: „Die Zahl der geeigneten Länder ist größer geworden. Und Österreich ist sicher eine Konkurrenz.“

In Tirol ist ein neuer Drehtag angebrochen. Ein Bus karrt die Gruppe zum tief verschneiten Kitzbühler Golfplatz, rundherum nur Berge, kahle Bäume und die zarten Kuppen des Parcours. Die Inder sind begeistert. „Sie lieben solche Locations“, hat Weinzierl herausgefunden, „wo sie die Kameras einfach nur 360 Grad schwenken müssen und immer einen guten Hintergrund haben.“ Jetzt hat er sie für eine Weile beschäftigt. Weinzierl packt einen Klappsessel aus dem Kofferraum und setzt sich gleich neben dem Wagen in die Sonne. „Inder sind das Schwierigste“, sagt er nicht zum ersten Mal und nickt verständnisvoll mit dem Kopf. Dann zündet er sich eine Zigarette an. Vom Golfplatz her hallt mit schepperndem Klang der Sitarsound of Music. Ein Traum.

Von Klaus Kamolz