Tempo 160

Schneller in den Stau

Schneller in den Stau

Drucken

Schriftgröße

Der Industrielle Alban Sonderegger* fährt gerne schnell. Läge das Tempolimit etwas höher, dann würde er sich an die Vorschriften halten, beteuert er. Doch Tempo 130 auf der dreispurigen Südautobahn ist ihm einfach zu langsam. Wenn der gebürtige Schweizer in seinem 340 PS starken BMW Cabrio jeden Morgen mit 160 km/h Richtung Wiener Neustadt zu seinem Unternehmen düst, dann sind Verkehrsstrafen einkalkuliert. "Die 100 Euro alle paar Monate sind schon drin", meint Sonderegger und empfindet dabei die Strafe weder pädagogisch sinnvoll noch sozial gerecht.

Straffrei rasen. In seiner Schweizer Heimat ist ihm nämlich die Lust aufs Schnellfahren vergangen, seit er dort vor drei Jahren in eine Radarfalle geriet. Damals zahlte er 40.000 Franken (rund 22.000 Euro) Bußgeld - bei den Eidgenossen sind die Strafen einkommensabhängig gestaffelt. "Wenn man sich anschaut, dass in Österreich die Raser meist BMW- und Mercedes- Lenker, also Wohlhabende, sind, dann wird man diese Leute mit Strafsätzen von 30 oder 50 Euro wohl kaum zu mehr Disziplin bringen", sagt Sonderegger selbstkritisch.

Den Vorschlag des steirischen ÖVPKlubobmanns Christopher Drexler, das Tempolimit auf 160 km/h anzuheben, hält der Unternehmer für "grundvernünftig".
Doch die vom 32-jährigen Politiker entfachte Tempodebatte spaltet das Land. Laut einer im Auftrag von profil vom Meinungsforschungsinstitut market durchgeführten Umfrage unterstützen 36 Prozent der Befragten eine Anhebung der Höchstgeschwindigkeit auf Autobahnen auf 160 km/h. 61 Prozent lehnen dies strikt ab. Besonders deutlich ist die Mehrheit der Gegner eines höheren Tempolimits unter den Frauen, die zu zwei Dritteln bei der geltenden Regelung bleiben wollen. Demgegenüber befürwortet fast die Hälfte der befragten Männer Tempo 160.

"Ich will mit Macho-Raserei nichts zu tun haben", beteuert Drexler, der seine Initiative nach Medienberichten, dass auf italienischen Autobahnen bald Tempo 150 auf der linken Spur gelten werde, gestartet hat. "Ich wollte nur einen Beitrag zu mehr Ehrlichkeit in der Tempodebatte leisten. Man sollte die Realität legalisieren. Denn wer wie ich viel auf der Autobahn unterwegs ist, weiß, dass schon jetzt sehr viele Autofahrer schneller als die erlaubten 130 km/h unterwegs sind."

Drexler kämpft gegen die "starre bestehende Temporegelung". "Bei schlechten Straßenverhältnissen sollte das Tempolimit auf 100 km/h gesenkt werden. Bei guten Bedingungen sollten dafür auf gut ausgebauten Strecken 160 km/h erlaubt sein."
Wer dann noch schneller fährt, sollte aber - empfiehlt Drexler - strenger als jetzt bestraft werden.

Unterstützung erntete Drexler für seinen Vorstoß - ebenso wie Kritik - von höchst unterschiedlichen Interessenvertretern und Politikern. Steirische ÖVP-Abgeordnete wollen im Herbst im Nationalrat eine Debatte über eine Anhebung des Tempolimits starten. Verkehrsminister Hubert Gorbach fand Drexlers Vorstoß zunächst "interessant", kann sich aber Tempo 160 nur unter mehreren Auflagen auf bestimmten Strecken vorstellen.

Flexibles System. Unterstützung für Drexler signalisierte SPÖ-Verkehrssprecher Kurt Eder. Er ist dafür, auf dreispurigen Strecken 150 km/h zu erlauben. Im Gegenzug sollte aber "die Toleranzgrenze nach oben von zehn auf fünf Prozent gesenkt werden". Das heißt, wer schneller als 157 km/h unterwegs ist, sollte bestraft werden. Da derzeit Geschwindigkeitsübertretungen bis zu zehn Prozent, auf Autobahnen also bis zu maximal 143 km/h, nicht geahndet werden, gehe es in der Praxis lediglich um eine Anhebung der Höchstgeschwindigkeit um zwölf bis 13 km/h. "Ich bin für eine flexible Regelung", meint Eder. "Durch Verkehrsleitsysteme kann man bei Unfällen oder Regen das Tempo sofort drosseln."

Vom Kuratorium für Verkehrssicherheit wird eine Anhebung der Höchstgeschwindigkeit vehement abgelehnt. Bei einem Drittel der 43.000 Unfälle im vergangenen Jahr sei zu hohes Tempo die Ursache gewesen. Zwar ereigneten sich auf den Autobahnen nur knapp sechs Prozent aller Verkehrsunfälle. Allerdings passieren dort 13 Prozent aller tödlichen Verkehrsunfälle im Straßenverkehr. Ökologen warnten, dass Lärm und Abgase mit dem höheren Tempo ansteigen würden.

Auch der den Grünen nahe stehende Verkehrsclub Österreich agitiert gegen eine Lizenz zum Rasen. "Auf Österreichs Straßen sterben doppelt so viele Menschen wie in Schweden oder der Schweiz", argumentiert Wolfgang Rauh vom VCÖ-Forschungsinstitut. Tempolimits Menschenleben gefährdet, wenig vorhanden." Ursachen dafür seien "mangelnde Kontrollen und die im EUVergleich niedrigen Strafen", so Rauh.

Wer mit 160 km/h statt erlaubter 130 unterwegs ist, kommt in der Regel mit Organmandaten unter 40 Euro davon. Erst wer mehr als 50 km/h über dem erlaubten Limit liegt, ist seinen Führerschein für einige Wochen los. Insgesamt wurden im Vorjahr auf heimischen Autobahnen von Schnellfahrern 35 Millionen Euro an Geldbußen kassiert.

Ein Beispiel für straffreies und sogar behördlich genehmigtes Schnellfahren sorgte im vergangenen Mai für Wirbel. Mitten im oberösterreichischen Wahlkampf wurde bekannt, dass Autohändler für so genannte "Testfahrten" seit Jahren eine Lizenz zum Rasen besitzen.

Teststrecken. Der zuständige SP-Verkehrslandesrat Erich Haider beteuerte, davon nichts gewusst zu haben, und zog die Notbremse: Generelle Ausnahmegenehmigungen für Testlenker werde es in Oberösterreich "nie mehr" geben. Dass sich sein Parteikollege, Verkehrssprecher Kurt Eder, zuletzt auf die Seite der Befürworter von Tempo 150 geschlagen hat, begeistert den Oberösterreicher daher wenig: "Da bin ich klar dagegen."

SPÖ-Verkehrssprecher Eder schlägt unbeirrt Teststrecken zum straflosen Schnellfahren für alle vor. Bereits im Frühjahr 2004 sollten auf der Westautobahn probeweise dreispurig ausgebaute Strecken wie jene bei Amstetten für Tempo 150 freigegeben werden.

Bei der bundeseigenen Asfinag, die Autobahnen baut und unterhält, lehnt man eine Erhöhung des Tempolimits nicht grundsätzlich ab. "Durch den guten Ausbau ei- ner Vielzahl von Autobahnabschnitten hat die Asfinag die grundsätzliche Möglichkeit geschaffen, auch schneller als die gesetzlich vorgegebenen 130 km/h zu fahren", betont Vorstandsdirektor Franz Lückler. Doch höheres Tempo sei kontraproduktiv zu den im Bau befindlichen Verkehrsbeeinflussungsanlagen, würde mehr Investitionen in den Lärmschutz bedeuten und "automatisch die Verkehrssicherheit verringern".

Freie Fahrt. ARBÖ-Sprecherin Lydia Ninz betont, dass fast die Hälfte der 2436 Unfälle auf heimischen Autobahnen im Vorjahr durch Auffahren entstanden. "Mangelnder Abstand ist also Hauptunfallursache auf unseren Autobahnen. Es ist klar, dass bei einer Anhebung des Tempolimits auf 160 km/h solche Unfälle zunehmen werden." ÖAMTC-Experten argumentieren dagegen ähnlich wie der deutsche Autofahrerklub ADAC, der seit Jahren mit der Parole "Freie Fahrt für freie Bürger" gegen ein generelles Tempolimit auf deutschen Autobahnen kämpft.

Moderne Pkws würden höhere Geschwindigkeiten in bestimmten Fahrtsituationen problemlos erlauben. So hat sich der Bremsweg eines Personenkraftwagens durch technische Verbesserungen bei Bremsen (etwa ABS), Fahrwerk und Reifen gegenüber Fahrzeugen vor 20 Jahren deutlich verringert (siehe Kasten Seite 34). ARBÖ-Techniker Erhard Lenz berechnet den Anhalteweg (Reaktionszeit und Bremsweg) bei 150 km/h aber immer noch mit 40 bis 50 Meter über jenem einer Notbremsung bei 130 km/h.

Experten warnen zudem, dass höhere Fahrgeschwindigkeiten mehr Staus verursachen können. Die Kettenreaktion läuft so ab: Ein 160 km/h fahrendes Auto bremst hinter einem 100 km/h schnellen Fahrzeug auf der Überholspur auf etwa 95 km/h ab, das folgende Fahrzeug auf 90 km/h und so weiter. In Deutschland wird dieses Phänomen "Stau aus dem Nichts" genannt. Wären alle auf der Überholspur mit 100 km/h unterwegs, würden solche Staus erst gar nicht entstehen, meint Gerd Lottsiepen, der verkehrspolitische Sprecher des den deutschen Grünen nahe stehenden Verkehrsclubs Deutschland (Motto: "Clever, ökologisch, mobil"). "Dass Deutschland als einziges Land in Europa keine Höchstgeschwindigkeit eingeführt hat, hängt mit einem Tabu zusammen", meint Lottsiepen. "Sogar die Grünen trauen sich nicht mehr, das Tempolimit zu fordern, seit Kanzler Gerhard Schröder die Debatte für beendet erklärt hat."

Im Namen des Verkehrsclubs Deutschland fordert Lottsiepen daher flehentlich: "Bitte, liebe Österreicher, bleibt bei eurem Tempolimit! Sonst sinken unsere Chancen, doch noch eine Höchstgeschwindigkeit einzuführen."

Deutschland hat bisher alle Versuche vereitelt, in der EU ein einheitliches Tempolimit vorzuschreiben. "Derzeit ist weder eine Harmonisierung der Höchstgeschwindigkeit noch eine Angleichung der Strafen für Schnellfahren geplant", betont der in der EU-Kommission für Verkehrssicherheit zuständige Abteilungsleiter Dimitrios Theologitis. Die EU wolle aber die Zahl der Verkehrstoten (EU-weit 40.000 im Jahr 2002) innerhalb von zehn Jahren halbieren. Geplant seien auch einheitliche Kontrollen, vor allem im Güterverkehr.

Drängeln nimmt zu. Eindeutig zugenommen haben in Deutschland Unfälle durch dichtes Auffahren ("Drängeln"). Auch in Österreich häufen sich solche Unfälle durch rücksichtsloses Heranbrausen. In Oberösterreich ergaben im letzten halben Jahr auf der Westautobahn durchgeführte Untersuchungen, dass ein Drittel der Autofahrer zu geringen Abstand einhält. Der für Verkehr zuständige Landesrat Erich Haider: "Da fahren die Menschen mit einem Sicherheitsabstand von 0,15 Sekunden - dabei wären zwei Sekunden die Faustregel."

Einer, der täglich mit Unfallopfern zu tun hat, verfolgt den Streit über die Höchstgeschwindigkeit gelassen: Harald Herz, Primarius am Wiener Lorenz-Böhler- Krankenhaus, ist "nicht prinzipiell" gegen eine Anhebung der erlaubten Geschwindigkeit. "Einen Frontalaufprall überlebe ich nicht, egal ob mit ungebremsten 130 oder 160 km/h."

Die Schwere der Verletzungen habe wegen der sicherheitstechnischen Verbesserungen deutlich abgenommen. Auch die medizinische Hilfe sei deutlich umfangreicher. "Nur eines hat sich nicht verbessert: der Körper an sich. Er ist eben nur für eine Geschwindigkeit von 4,5 km/h gebaut."