Bildungsängste

Warum das beste Schulsystem Gerechtigkeit nicht garantieren kann

Bildung. Warum das beste Schulsystem Gerechtigkeit nicht garantieren kann

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Karlheinz Töchterles Eintritt ins Gymnasium war ein Akt der Nachbarschaftshilfe. Eigentlich sollte der Sohn eines Schmieds aus Fulpmes im Stubaital auf die Hauptschule. Doch der Dorfarzt, in Sorge um seinen heimwehgeplagten Sohn, bat Töchterles Eltern, Karlheinz als moralischen Unterstützer ebenfalls ins Internat nach Hall zu schicken.

Die Anekdote steckt trotz ihrer Kürze voller Sujets, ohne die eine zünftige bildungspolitische Debatte hierzulande nicht auskommt: das Haller Gymnasium als Exklusivhort der Elite (die Bildungsforschung nennt es "soziale Selektivität“); der Startvorteil des Arztsohns ("primärer Schichteffekt“); die Benachteiligung von Karlheinz, der trotz guter Volksschulleistungen nicht fürs Gymnasium vorgesehen war ("sekundärer Schichteffekt“); die glückliche Fügung, doch auf eine höhere Schule zu gehen ("Überwindung sozialer Disparität“); die erfreuliche Erkenntnis, dass auch der Sohn eines Tiroler Schmieds Matura erlangen kann ("Bildungsmobilität“).

Dass aus dem Zufallsgymnasiasten später ein Professor, dann ein Rektor der Universität Innsbruck und im April 2011 schließlich ein Wissenschaftsminister wird, kann als gelungenes Beispiel für die "Ausschöpfung von Begabungsreserven“ durch das österreichische Schulsystem gewertet werden. In einem "Presse“-Kommentar Anfang Juni schrieb der Wissenschaftsminister, dem Gymnasium würde "nach einer bereits 200 Jahre andauernden Erfolgsgeschichte auch die Zukunft gehören“.

Claudia Schmieds Begabungsreserven wurden ebenfalls voll ausgeschöpft: Matura, Promotion an der Wirtschaftsuniversität, Bankkauffrau-Karriere bis in die Vorstandsetage, seit 2007 Unterrichtsministerin. Vor vier Jahren wertete Schmied die Hauptschule zur "Neuen Mittelschule“ (NMS) auf - mit dem Fernziel einer gemeinsame Schule aller Zehn- bis 14-Jährigen. Bis zum Schuljahr 2018/2019 sollen alle Hauptschulen auf das NMS-System umstellen. Ihre Präferenzen bei der Mittelallokation machte Schmied im Mai deutlich: "Ich investiere nicht in den Ausbau von AHS-Standorten.“ Die Gymnasien würden weiterhin so viel wie gewohnt erhalten, zusätzliche Gelder aber in die Neue Mittelschule fließen. Geht es nach Schmied, wäre Karlheinz Töchterles "Erfolgsgeschichte“ in ihrer jetzigen achtjährigen Langform Geschichte. Was gewiss Genugtuung in folgenden Organisationen auslösen würde: Aktion Kritischer Schüler (AKS), Verband Sozialistischer Studenten (VSStÖ), Kommunistischer Studentenverband (KSV), Bund Sozialdemokratischer Akademiker (BSA), Grüne und Alternative Studenten (GRAS).

Wäre die rot-grüne Bildungselite weniger affektanfällig, würde sie zumindest ansatzweise erwägen, ob nicht gerade aus linker Sicht einiges auch für die Erhaltung der AHS spricht, ob nicht gerade das Gymnasium in der Lage ist, gerechte Gleichheit zu schaffen.

Der slowenische Philosoph Slavoj Zizek, populärster marxistischer Denker der Gegenwart, mahnte in einem "Zeit“-Beitrag zum 300. Geburtstag von Rousseau, "sich den Egalitarismus nie wörtlich auf die Fahne zu schreiben“. Nietzsche und Freud hätten gelehrt, "dass eine als Gleichheit verstandene Gerechtigkeit auf Neid beruht“. Laut Zizek stütze sich "die Idee gleicher Gerechtigkeit, sofern sie von Neid lebt, auf eine Umkehrung: Ich bin bereit, darauf zu verzichten, damit andere es auch nicht haben können.“ Auf unsere Debatte umgelegt: Die heutigen VSStÖ- und GRAS-Funktionäre werden dereinst ihre Kinder auf die NMS mit der Gewissheit schicken, dass ihr Nachwuchs dort auf Söhne und Töchter jener Ex-Kollegen der bürgerlichen Aktionsgemeinschaft (AG) und der konservativen Jungen Europäischen Studenteninitiative (JES) trifft, mit denen sie früher in den Ausschüssen der Österreichischen Hochschülerschaft stritten. Derzeit ist es ja so, dass die Sprösslinge der roten und bürgerlichen Oberschicht in Wien zwar ebenfalls gemeinsam die Schulbank drücken, allerdings nicht in der NMS, sondern im Kollegium Kalksburg, bei den Piaristen, den Schotten oder im Theresianum. Die wahre soziale Selektion findet nicht zwischen Hauptschule und Gymnasium statt, sondern zwischen öffentlichen und privaten Schulen.

Das im Selbstverständnis egalitärste Land, Frankreich, führte im Jahre 1975 die Einheitsschule (collège unique) ein. Die Folge lässt sich im "Le Figaro“ nachlesen, der jährlich ein Ranking der besten französischen Schulen aufstellt. Auf den vordersten Plätzen liegen ausnahmslos Privatschulen. Und die paar öffentlichen Qualitätsschulen befinden sich in Nobelvierteln mit unerschwinglichen Mieten. In Österreich wäre es mit seinem bereits bestehenden Privatschul-Paralleluniversum nicht anders.

Wer auf der Website des von Claudia Schmied geschaffenen Bundesinstituts für Bildungsforschung (Bifie) nachsieht, wird Dutzende Studien zum Thema "Schulische Reproduktion von sozialer Ungleichheit“ finden. Überraschend ist weniger die Grundaussage als die Fülle der Belege. Es handelt sich offenbar um einen Schwerpunkt der heimischen Bildungsforschung. Weniger wissenschaftlich als politisch ist die Frage, was wir von der Schule wollen. Bifie-Chef Günter Haider definiert als "Aufgabe des Schulsystems“ unter anderem "die Sicherstellung von Gerechtigkeit und fairer Chancenzuweisung“. Mag es auch ein hehres Ziel sein: Gerechtigkeit als Maxime der Bildungspolitik wäre nur bei nach oben offenen Ressourcen möglich. Unter realistischen Annahmen wird die Schule niemals milieubedingte Benachteiligungen planieren. Wer daheim maximal im Panini-Album statt in Büchern blättert, wird es schwer aufs Gymnasium schaffen.

Die Behandlung dieses Missstands durch Abschaffung desselben scheitert aus linksliberaler Sicht am "schlichten Klassendünkel des Bildungsbürgertums“, das nicht wolle, "dass unsere Kinder mit lauter Türken und Proleten in die Schule gehen“. Man muss wie Barbara Coudenhove-Kalergi schon gräflicher Herkunft sein, um über die bösartigen Motive der Gymnasiumbefürworter-Bourgeoisie so gut Bescheid zu wissen. Wahr ist: Laut Bifie-Erhebungen ist Migrationshintergrund schon jetzt keine Barriere für den Eintritt ins Gymnasium.

Gerade für Zuwanderer ist die AHS wichtige Aufstiegshilfe. Wie sollte der Türkenbub - oder auch der Proletenspross - den Bildungsbürger-Nachwuchs abhängen, wenn der Ehrgeiz der einen im Vergleich zur Saturiertheit der anderen in der NMS nicht honoriert, sondern egalisiert wird? Ein geringeres allgemeines Leistungsniveau nützt den Alteingesessenen - ohne Gipfel kein Aufstieg.

Claudia Schmieds Prognose, die NMS würde insgesamt die Schulqualität erhöhen, ist angesichts leerer Staatskassen Utopie. Im Gegenteil: Das derzeitige überlegene Niveau der AHS-Unterstufe wäre nicht zu halten. Laut Bifie-Studie stützen die PISA-Ergebnisse "die Annahme, dass Schüler aus Familien mit vergleichbarem Bildungshintergrund in der AHS mehr Kompetenzen erwerben als in der ersten Leistungsgruppe der Hauptschule“. Im Blog des Wiener Statistikprofessors Erich Neuwirth ist nachzulesen, dass die Ergebnisse österreichischer Maturanten über jenen der PISA-siegreichen finnischen Gesamtschulabsolventen liegen. Die Gymnasien funktionieren, pädagogische Problemzonen sind bekanntermaßen die Hauptschulen in Großstädten. Gelingt Claudia Schmied dank des NMS-Programms deren Reanimation, verdient sie den imaginären Minister-Maria-Theresia-Orden für die größte Reformleistung seit Einführung der allgemeinen Schulpflicht.

Das Gymnasium in Langform sollte diese Reformbemühungen allerdings überstehen - mit dem Ziel, die talentiertesten 30 Prozent eines Jahrgangs aufzunehmen, unabhängig davon, ob sie Coudenhove-Kalergi, Maier-Bauer-Huber-Hofer oder Yüksel heißen. Erreicht die NMS nur halbwegs die Qualität wie ministerial versprochen, sollte der Wechsel ins Gymnasium zu jeder Zeit möglich sein. Zwei Drittel der Österreicher befürworten laut aktueller profil-Umfrage den Fortbestand der AHS in ihrer jetzigen Form. Und auch Marx meinte, bei der Entwicklung zur klassenlosen Gesellschaft sollten Errungenschaften der bürgerlichen beibehalten werden.

Das Gymnasium ist eine davon.