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Schweden: Stockholm, 11. September

Stockholm, 11. September

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Es war ein öffentlicher Tod. Es war der Tod einer Frau, die tut, was ganz normale berufstätige Frauen an einem ganz normalen Herbstnachmittag tun: einkaufen in der Fußgängerzone, schnell mal ins Designer-Outlet zwischen zwei dienstlichen Terminen.

Und es war ein gespenstisches Déjà-vu: Nur ein paar hundert Meter von jenem Ort in Stockholm entfernt, an dem Außenministerin Anna Lindh am Mittwoch vergangener Woche niedergestochen wurde, starb am 28. Februar 1986 der damalige Premier Olof Palme einen ebenso öffentlichen Tod. Auch er ging damals einem normalen Zeitvertreib eines berufstätigen Mannes nach. Sein Mörder streckte ihn mit einer Magnum 357 nieder, als Palme sich eben mit seiner Frau Lisbet nach einem spontanen Kinobesuch auf den Heimweg machte.

Weder Palme noch Lindh hatten eine Entourage aus Leibwächtern, so wie alle skandinavischen Politiker darauf achten, mit dem Fahrrad ins Büro zu fahren, sich zur Stoßzeit in der U-Bahn sehen zu lassen und sich beim Gemüseeinkauf oder beim Skilanglauf so zu benehmen wie alle anderen Bürger auch – Angehörige der königlichen Familie eingeschlossen.

Diese Verhaltensweisen sind in Schweden durchaus mehr als eine bloße PR-Attitüde. Sie sind Illustration und Bekräftigung eines Selbstverständnisses, das identitätsstiftend ist und das die Schweden sicher macht, sich vom Rest der Welt grundsätzlich zu unterscheiden: das Prinzip Öffentlichkeit.
Dass ein Attentäter, nun schon zum zweiten Mal, eine Gesellschaft genau an diesem neuralgischen Punkt erwischen kann, tut ganz besonders weh. Der Mord an Lindh habe „die Gesellschaft verletzt, die wir aufgebaut haben und in der wir leben wollen“, sagte der sichtlich geschockte Regierungschef Goran Persson in seiner Fernsehansprache an die Nation am Abend des 11. September. „Das war ein Angriff auf unsere offene Gesellschaft und auf die Demokratie“, und die seien „einzigartig auf der Welt“.

Das stimmt natürlich nicht ganz. Aber alle hatten gern daran geglaubt.

So wie sich Österreich jahrzehntelang als „Insel der Seligen“ begriff, hängt auch Schweden dem Glauben an die eigene Ausnahmeexistenz nach. Es beschrieb sich selbst gern als „Volksheim“, in dem der Bürger mit Freude seine Steuern zahlt und der Staat dazu da ist, diesem Bürger zu Diensten zu sein. Nicht Fürsorge, sondern Öffentlichkeit war dabei der zentrale Begriff: Öffentlich sind die flächendeckenden Kinderkrippen und Altersheime, öffentlich die Akten von Gerichten, Ämtern und Behörden, in die jeder Bürger jederzeit Einsicht nehmen kann.

Offenheit. Seliges Schweden: ein Land, in dem der Stempel „vertraulich“ nur in Ausnahmefällen verwendet werden darf und ein Ministerium sich nicht als obrigkeitsstaatliches Labyrinth von Zuständigkeiten präsentiert, sondern als jederzeit zugängliche Servicestelle, Wickelräume und Behindertenaufzüge inklusive; ein Land, in dem kritische Berichte über die Regierungsarbeit nicht verschwiegen oder dementiert, sondern auf die eigene offizielle Regierungshomepage gestellt werden. Als Hort der Zivilisation hatte sich Schweden gern gesehen, nüchtern, rational, tolerant, unangekränkelt von Machtspielen, populistischen Verführungen, Allmachtsfantasien und deswegen immun gegen allerlei Arten bösartiger menschlicher Zerstörungskraft.
Doch dieses Selbstverständnis ist eine dünne Schicht, und die Messerstiche in der Stockholmer Innenstadt haben der Nation vor Augen geführt, wie verletzlich diese Schicht ist. Der König selbst sprach das aus: „Wann sehen wir endlich ein, dass wir hier oben nicht in einer geschützten Idylle leben?“, fragte, tief bestürzt, Carl XVI. Gustaf nach der Tat.

Damit legte der König den Finger auf einen wunden Punkt. Denn gerade in den letzten Jahren, zwischen dem EU-Beitritt 1995 und dem Euro-Referendum am vergangenen Sonntag, hatte sich Schweden an den Widersprüchen dieser Selbstidealisierung heftig abarbeiten müssen. Ist man wirklich so viel besser als alle anderen? Oder gäbe es auch etwas zu gewinnen, wenn Schweden dem Rest Europas ähnlicher würde?

Es waren zentrale Identitätsfragen wie diese, auf welche das Referendum hinauslief. Und immer wieder blitzte dabei die Ahnung auf, man betreibe bei der Beschwörung der schwedischen Werte ein bisschen Selbstbetrug. „Seit den siebziger Jahren ist die Auffassung übrig geblieben, dass Schweden ein viel besseres Sozialsystem hat als alle anderen“, brach etwa Stefan Fölster, Chefökonom vom Bund schwedischer Unternehmer, ein Tabu im öffentlichen Diskurs. „In Wirklichkeit sind Gesundheitsversorgung und Schulen schlechter als in Deutschland, Frankreich, den Niederlanden und Belgien.“ Auch der ehemalige konservative Regierungschef Carl Bildt meint, sein Land lebe in einem „Mythos, der im Kalten Krieg aufgebaut wurde“ und nicht der Realität entspreche.

Die Unsicherheit, wie weit man sich nun nach Europa vorwagen solle, zieht sich quer durch die Parteien und alle Bevölkerungsschichten. Nicht einmal die regierenden Sozialdemokraten konnten sich auf eine Abstimmungsempfehlung beim Euro-Referendum einigen. Da erschien es nur folgerichtig, dass sowohl Euro-Befürworter als auch Euro-Gegner für ihre öffentlichen Werbekampagnen zu gleichen Teilen aus der Staatskasse bedient wurden – mit insgesamt 13 Millionen Euro.

Modell. Bezeichnend, dass die Schweden bei einer so zentralen Identitätsfrage auch Nicht-Staatsbürger mitbestimmen ließen: Jeder Einwanderer, der sich schon drei Jahre im Land aufhält, war am Sonntag stimmberechtigt. Bezeichnend auch, dass beide Seiten mit demselben Argument für ihre Sache fochten: Oberstes Ziel sei es, das schwedische Modell, gleichbedeutend mit dem Wohlfahrtsstaat, zu erhalten. Das könne nur im Alleingang funktionieren, ohne Bevormundung durch das unsoziale, undemokratische, autoritäre Brüssel, meinten die Euro-Gegner. Der Druck des mehrheitlich konservativen Europa, warnten sie, werde „unseren schwedischen Wohlfahrtsstaat aushöhlen“, warnten sie.

Die Befürworter, allen voran Außenministerin Anna Lindh, glaubten genau das Gegenteil: Der Wohlfahrtsstaat sei genau dann gesichert, wenn man an der Eurozone und deren wirtschaftlichen Möglichkeiten teilnehme. „Nur wenn wir mit voller Kraft in Europa mitmachen, können wir auch etwas bewirken“, sagte Lindh. „Ich kann euch nicht versprechen, dass ihr durch den Euro mehr Geld in den Taschen haben werdet. Aber ich verspreche euch mehr wirtschaftliche Stabilität.“ Wenn man den Anschluss in die EU verpasse, werde Schweden kein Vorreiter mehr sein, sondern „ein B-Land in Europa“.

Auch bei der zweiten Säule der schwedischen Staatsideologie, der Neutralität, hatte die Außenministerin eine Wende vollzogen. Die baltischen Nachbarn werden Mitglieder der NATO, Finnland denkt ebenfalls über den Beitritt nach, und auch Schweden werde, bekräftigte Lindh, nicht abseits stehen, wenn ein europäisches Land angegriffen werde. Vor zwei Jahren strichen die Sozialdemokraten den Begriff der Neutralität aus ihrem Parteistatut. Schweden versteht sich nicht mehr als „neutral“, sondern als bündnisfrei.

Ist der schwedische Sonderweg also ohnehin längst nur noch eine rhetorische Girlande für Sonntagsreden? Ist das Land nicht längst Teil des europäischen Mainstreams? Nicht ganz. Einige Widerspenstigkeiten und Ungleichzeitigkeiten hat sich das Land bewahrt.

Der Glaube daran etwa, dass der Staat nur das Beste für seine Bürger will, ist ungebrochen wie sonst nirgendwo in Europa. „Bei uns gehen die Menschen davon aus, dass Politiker im Interesse der Allgemeinheit handeln“, meint Hans Söderström, Chef des Wirtschaftsforschungsinstituts SNS, wie fast alle hier. Ironischerweise wurde das gerade im Moment der tiefsten Krise deutlich, zu Beginn der neunziger Jahre. Im öffentlichen Haushalt klaffte damals ein riesiges Loch, die Sozialleistungen waren unfinanzierbar geworden, gleichzeitig stieg die Arbeitslosigkeit rasant. Während in den schwedischen Spitälern die Patienten Schlange standen und Kindergärten schließen mussten, war das „schwedische Modell“ der Häme aller europäischen Neokonservativen ausgeliefert.

Radikalkur. Die Reformkur fiel schmerzhaft aus: Arbeitslosen- und Krankengelder wurden gekürzt, Selbstbehalte beim Arztbesuch eingeführt, das Rentensystem umgestellt. Doch was die konservative Regierung 1993 begann, führte die sozialdemokratische Regierung weiter – im Einvernehmen mit den Gewerkschaften. Und während im übrigen Europa die Debatten über den Umbau des Sozialstaats erst begannen, war Schweden über das Gröbste schon hinweg. Heute steht das Land solide da: mit überdurchschnittlichem Wirtschaftswachstum, einer Arbeitslosenrate von lediglich vier Prozent und einem stabilen Haushaltsüberschuss. Das Wort „Sozialstaat“, anderswo in Europa längst zerzaust und ramponiert, erfreut sich in Schweden unbeschädigter Popularität.

Die Transformation war ohne Massenproteste, ohne Streiks gelungen – und ohne wichtige Prinzipien infrage zu stellen: Die Ausgaben für Forschung sind hoch geblieben, die Frauenerwerbsquote und die hohen Ausgaben für Entwicklungshilfe ebenso. Und während anderswo die konservative Wende Platz griff, in Dänemark und Norwegen die linken Regierungen die Macht abtreten mussten, fuhren die schwedischen Sozialdemokraten 2002 ihr bestes Wahlergebnis seit 1968 ein.

Damit war alles wieder im Lot, wie fast immer seit 1920: sozialdemokratische Politiker an der Macht und ungebrochene sozialdemokratische Hegemonie im Denken. Schweden sei der „einzige freiwillige und demokratische Einparteienstaat Westeuropas“, ätzt die konservative „Frankfurter Allgemeine Zeitung“.

Selbstverständlich haben die Schweden immer noch die weltweit höchste Steuerlast. Aber mit dem Versprechen von Steuersenkungen war hier nie eine Wahl zu gewinnen. Die Opposition hat genau das versucht – und ist abgestürzt.
Man kann daraus ablesen, dass das Vertrauen in die Verteilungsgerechtigkeit durch den Staat in Schweden noch intakt ist – genauso wie ein anderer Anachronismus: der Glaube an die Veränderbarkeit der Gesellschaft. Hartnäckig hält Schweden etwa an der Gewohnheit fest, die Hälfte der Regierungsämter, inklusive Verteidigungsministerium, mit Frauen zu besetzen, und seltsam dissonant zum Zeitgeist klingt die feministische Rhetorik mancher Politikerin. Das schwedische Gesetz zum Verbot der Prostitution, das Freiern mit Gefängnisstrafen droht, begründete Ministerin Margareta Winberg etwa so: „Prostitution ist Teil des patriarchalen Systems, eines ausbeuterischen Systems von Macht und Ohnmacht. Wir in Schweden sagen, dass dieses System gebrochen werden muss, auf allen Ebenen, weil wir eine egalitäre Gesellschaft wollen.“

Da schwingt Sendungsbewusstsein mit, ein wenig puritanische Moral, aber auch die feste Entschlossenheit, sich dem postmodernen Zynismus nicht zu beugen. Es lässt ahnen, dass in Schweden immer noch das Idealbild eines anständig geregelten, geheimnisfreien und normierten Zusammenlebens existiert, ein bisschen langweilig vielleicht, aber ohne bösartige Abgründe.

Geborgenheit. Schweden betrachte sich als „auserwählte Nation“, meint der Ökonom Klas Eklund, in der „ein Kompromiss zwischen Kommunismus und Kapitalismus möglich sei“. Und hatte der legendäre Ministerpräsident Tage Erlander nicht schon 1961 der europäischen Wirtschaftsgemeinschaft die kalte Schulter gezeigt, indem er empfahl: „Der Rest der Welt soll Schweden folgen, nicht umgekehrt“?

Vielleicht ist es kein Zufall, dass in Schweden nicht nur das Dynamit, sondern auch das Sicherheitszündholz erfunden wurde, der Reißverschluss und der 3-Punkt-Sicherheitsgurt, das Tetrapak, Ikea, Volvo und die Bevölkerungsstatistik. Auch mit Ordnung, Sicherheit und alltagspraktischen Dingen sind in einer globalisierten Welt gute Profite zu machen – so ähnlich lässt sich der „dritte Weg“, auf den Schweden stolz ist, ökonomisch umreißen.

„Geborgenheit“ war denn auch das wichtigste Schlagwort, mit dem Persson für die Sozialdemokraten seine letzte Wahl gewonnen hatte. Und „unwirklich“ nennt er nun das Attentat. „Es hat unser Vertrauen in die Gesellschaft verletzt.“
Dass es eine schwedische Wirklichkeit ist, die da eingedrungen ist, kann er nicht glauben. Obwohl das nun schon zum zweiten Mal passiert ist. „Wir müssen uns jetzt um jene Werte versammeln, für die Schweden steht“, tröstet er sein Volk.