Schweinegrippe: Pure Hysterie, wie üblich

Schweinegrippe: Pure Hysterie, wie üblich - Ein Wunder, was wir alles überlebt haben

Ein Wunder, was wir alles überlebt haben

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Von Robert Buchacher

Irgendetwas stimmte nicht. Dem Virologen Norbert Nowotny von der Veterinärmedizinischen Universität in Wien kamen die Zahlen aus Mexiko von Anfang an merkwürdig vor. Schon Anfang vergangener Woche sagte Nowotny gegenüber profil: „Wenn dort 150 Menschen an der Schweinegrippe gestorben sind, dann muss die Verbreitung der Krankheit um das Zehnfache höher sein als kolportiert, es muss also nicht 1500 Infizierte geben, sondern wahrscheinlich 15.000.“

Vergangenen Mittwoch berichtete dann „Spiegel Online“ unter der Titelzeile „Erste Zweifel an Gefährlichkeit der Schweinegrippe“ über des Rätsels Lösung: Es gebe in Mexiko aufgrund der dort grassierenden Schweinegrippe nicht 159 Tote, wie ursprünglich berichtet, sondern ganze sieben bestätigte Fälle. „Die Krankheit sei damit womöglich nicht gefährlicher als eine normale Grippe, sagen Experten – geben aber keine Entwarnung“, schrieb der Onlinedienst des Hamburger Nachrichtenmagazins. Prompt zogen sich die Schlagzeilen vom „Killervirus“ von den meisten Titelseiten zurück. War alles bloß schamlose Übertreibung und die Schweine- oder jetzt „Neue Grippe“ am Ende nur ein weiteres Glied in einer langen Kette von Katastrophenmeldungen, welche die Menschheit auf wundersame Weise allesamt überlebt hat?

Im Augenblick sieht es danach aus. Aber Entwarnung will auch Nowotny nicht geben. Vor allem deshalb, weil der bisherige Verlauf der Schweinegrippe zeige, „dass das Virus zwar nicht allzu aggressiv, aber hochansteckend ist und sich rasant über viele Länder der Welt verbreitet“. Das war auch der Grund, warum die Weltgesundheitsorganisation in Genf im Lauf der Vorwoche sukzessive die Pandemie-Warnstufe erhöhte, in der Nacht zum Donnerstag auf Stufe fünf einer sechsteiligen Skala. Das bedeutet, dass die Behörden in den Mitgliedsländern alles tun müssen, um die weitere Ausbreitung der Krankheit zu verhindern, und dass die darauf spezialisierten Pharmaunternehmen wie Baxter oder Novartis mit der Impfstoffproduktion beginnen.

Bis ein wirksames Vakzin zur Verfügung steht, vergehen aber zwei bis drei Monate. In der Zwischenzeit müssen die Gesundheitsbehörden danach trachten, Reisende mit verdächtigen Symptomen sofort zu isolieren, bis eine Abklärung des Krankheitsbilds vorliegt. Auf den Flughäfen Tokio-Narita und Seoul wurden sogar Wärmebildkameras eingesetzt, um Incoming-Reisende mit erhöhter Temperatur sofort beiseite zu holen und sie ärztlich zu untersuchen.

In den hochentwickelten Ländern mit funktionierendem Gesundheitssystem ist die von der Neuen Grippe ausgehende Gefahr freilich gering. Denn das so genannte A(H1N1)-Virus spricht sehr gut auf die massenhaft verfügbaren Influenzamedikamente Tamiflu und Relenza an. Die einzige österreichische Patientin, bei welcher der Er­reger bis Donnerstag der Vorwoche nachgewiesen wurde, ist eine 28-jährige Studentin aus Linz, die mit Grippesymptomen von einer Mexikoreise heimgekehrt war. Sie wurde mit 40 Grad Fieber ins Kaiser-Franz-Joseph-Spital in Wien-Favoriten eingeliefert, wo sie bereits nach zwei Tagen fieber- und weit­gehend symptomfrei war.

Dilemma. „Die kann eigentlich schon nach Hause gehen, wird aber aus öffentlichen Gründen noch kaserniert“, sagte am vergangenen Dienstag der Leiter der Infektionsabteilung im Wiener AKH, Wolfgang Graninger, am „Runden Tisch“ des ORF im Anschluss an die „ZiB2“. Was sind öffentliche Gründe? Das Dilemma der Mediziner und Gesundheitsstrategen ist, dass jede Verharmlosung in der Öffentlichkeit zur Nachlässigkeit in der Bevölkerung führt. Viele Menschen würden etwaige Grippesymptome nicht mehr wirklich ernst nehmen und daher nicht zum Arzt gehen. Dann könnten aber den Behörden die wenigen wirklich am neuen Grippetyp erkrankten Personen durch die Lappen gehen. Eine unkontrollierte Ausbreitung der Krankheit wäre die Folge.

Keiner der von profil befragten Experten hält die Neue Grippe für besonders gefährlich oder fürchtet sich persönlich vor einer Ansteckung. Als verantwortungsvolle Ärzte und Wissenschafter sagen sie aber: „Wir müssen vorsichtig sein.“ Denn das Einzige, was sie wirklich fürchten, ist eine längerfristige Geschichte: Gelingt es nicht, die Verbreitung des Virus durch weltweite Maßnahmen einzudämmen, dann bestehe, so sagen sie, die Gefahr, dass sich das Virus mit dem Vogelgrippevirus H5N1 vermischt und tatsächlich zu jenem Supervirus wird, vor dem Wissenschafter schon seit vielen Jahren warnen.

Das hatten manche von ihnen bei der Vogelgrippe auch schon gesagt. Tatkräftig unterstützt von den Medien, schürten sie im Jahr 2005 die Angst vor einer weltweiten Pandemie mit Millionen Toten (profil 49/05). Die Vogelgrippe rücke rasant auf Mitteleuropa vor, die Gefahr, dass sich das tierische in ein humanes Grippevirus verwandle, stünde praktisch vor der Tür. Katastrophenpläne mit Massengräbern für tausende Tote wurden erstellt, Regierungen orderten tonnenweise antivirale Grippemittel, Atemschutzmasken wurden millionenfach eingelagert. Das hat den Vorteil, dass wir jetzt für den Fall der Fälle gerüstet sind. Aber auch die Chancen, dass wir wieder darauf sitzen bleiben, sind noch intakt.

Wer erinnert sich noch an SARS? Das Schwere Akute Respiratorische Syndrom (Severe Acute Respiratory Syndrome) war eine Infektion der Atemwege, die erstmals im November 2002 in der chinesischen Provinz Guangdong auftrat und im Dezember 2003 mit dem letzten in Taiwan registrierten Krankheitsfall wieder verschwand. Laut dem Hamburger Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin entsprach das klinische Bild einer atypischen Lungenentzündung. Der Erreger war ein bis zum Ausbruch der Epidemie unbekanntes Coronavirus, das mittlerweile als SARS-assoziiertes Coronavirus (SARS-CoV) bezeichnet wird. Der Schwerpunkt der Erkrankung lag eindeutig in China und Hongkong, wo mehr als 80 Prozent der registrierten Fälle auftraten. Ein einziger in Österreich registrierter Verdachtsfall entpuppte sich als normale Grippe. Weltweit starben von 8422 Infizierten 916 Menschen an der Krankheit, bedeutend weniger, als alljährlich in Österreich an der normalen Grippe sterben.

Die wenigen in Europa aufgetretenen Krankheitsfälle, die allesamt mit Heilung endeten, reichten aber aus, um in der Bevölkerung Ängste vor dem fremden Keim zu erzeugen, „die mit jedem Tag spürbarer wurden“, wie profil in Ausgabe Nr. 19/03 schrieb. „Gebannt und mit nie gekannter Akribie protokollierten die Medien jeden neuen Verdachtsfall. Kaum ein Tag, an dem nicht irgendwo eine Reporterschar ein fieberndes Kind auf dem Weg ins Krankenhaus eskortierte.“ Die Folge der Hysterie war ein ökonomisches Desaster. Airlines mussten mangels reisewilliger Passagiere Fernostflüge streichen, der Tourismus lag darnieder. Allein im ersten Halbjahr verursachte die Epidemie nach Schätzungen der Weltbank Schäden von rund 15 Milliarden Dollar.

Religiöse Züge. Auffallend ist, dass seit mehr als drei Jahrzehnten eine Angst die andere ablöst, was der in Wien lebende deutsche Zukunftsforscher Matthias Horx so interpretiert: „Noch nie waren wir so wohlständig, so sicher, so wenig von Kriegen betroffen wie heute. Aber gerade deshalb entwickelt unser ‚Angst-Immunsystem‘ eine Überreaktion. Wir werden sozusagen zukunftsallergisch.“

Den Anfang machte der Club of Rome, der im Jahr 1972 mit seinem Report „Die Grenzen des Wachstums“ Wasser auf die Mühlen der 68er-Generation goss: Das Öl und viele andere Rohstoffe gingen zur Neige, so hieß es, die Ausplünderung des Planeten werde in einer baldigen Katastrophe enden. Der Appell „Kehrt um!“ hatte nachgerade religiöse Züge. Zu dieser Zeit war übrigens noch nicht von der Erderwärmung die Rede, sondern von der drohenden Erdabkühlung, weshalb die Sowjets allen Ernstes überlegten, die unendlichen sibirischen Schneeflächen aus der Luft mit Kohlenstaub zu bestreuen, um den Abkühleffekt durch die Reflexion des Sonnenlichts ins All zu verringern.

Dann kam das Waldsterben, zuvorderst ein Phänomen der „deutschen Angst“, wie die Amerikaner sagen. Die Franzosen, denen deutsche Ängste und Übertreibungen immer schon suspekt waren, prägten den spöttischen Begriff „le Waldsterben“. Schon im Jahr 1981 hatte nämlich der Göttinger Bodenforscher Bernhard Ulrich erklärt: „Die ersten Wälder werden schon in fünf Jahren sterben.“ Sie seien nicht mehr zu retten. Ein Horrorbericht über den Zustand des deutschen Walds jagte den anderen, das Fernsehen zeigte wiederholt Bilder von den immer gleichen, stark geschädigten Waldflecken im Harz oder im Erzgebirge.

Tatsächlich gab es viele geschädigte Bäume, auch in Österreich. Verursacher war der „saure Regen“, dessen Schwefelgehalt weniger aus dem Verkehr, sondern aus den Abgasen von Kohlekraftwerken und Industrie stammten, vielfach auch weiträumig verfrachtet aus Ostblockländern wie Polen, DDR, Tschechoslowakei oder Jugoslawien. Der langjährige Vorstand des Instituts für Waldbau an der Wiener Universität für Bodenkultur, Hannes Mayer, ein unermüdlicher Kämpfer für den Wald, rief lauthals in die Fernsehkameras: „Dieser Baum stirbt!“

Vielleicht ist es solchen Mahnern zu danken, dass sie – auch durch Lukrieren von Millionen an Forschungsgeldern – den österreichischen Wald gerettet haben. Heute wächst dort weit mehr Holz nach, als aus ihm entnommen wird. Und für Deutschland zog im Dezember 2004 das Hamburger Wochenblatt „Die Zeit“ unter dem Titel „Chronik einer Panik“ Bilanz: „Ein Vierteljahrhundert Waldsterben – oder wie ein deutscher Mythos entstand, sich verfestigte und allmählich zerbröckelt“.

Kaum hatte sich die mediale Aufregung über das Waldsterben einigermaßen gelegt, wurden ab Anfang der neunziger Jahre die Ozonwerte zum neuen Schreckgespenst erkoren. Vor allem Kinder sollten bei Schönwetter den Aufenthalt im Freien meiden, das aggressive Gas könne ihre Lungen schädigen, hieß es. Daraufhin, so erinnerte sich Helmut Löffler, damals Leiter der Umweltschutzabteilung der Stadt Wien, sei eine Schar protestierender Mütter mit Kleinkindern in seinem Büro erschienen: „Die haben eine Zigarette nach der anderen geraucht und sich dann übers Ozon aufgeregt“, so Löffler.

Etwa zur gleichen Zeit wurden aus Großbritannien immer mehr Fälle des Rinderwahns BSE gemeldet, Beginn der bisher wohl schwersten Krise der Landwirtschaft. Vor allem in Großbritannien wurden zigtausende Rinder notgeschlachtet und verbrannt, aber die befürchteten Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit durch den Verzehr BSE-verseuchter Fleischprodukte waren weit übertrieben. Manche Experten sprachen von bis zu 180.000 Todesopfern. Bisher sind es knapp über 200.

Anthraxhysterie. Gleich nach 9/11 herrscht noch im September 2001 „Biowaffenalarm“. Von unbekannten Absendern wurden Briefe mit Milzbrandsporen an hohe Politiker und bekannte Medienleute in den USA verschickt, fünf Menschen starben. Der Verdacht auf einen Zusammenhang mit den Terroranschlägen vom 11. September ließ sich nicht erhärten, die Behörden vermuten inländische Mitarbeiter eines Militärlabors für Biokampfstoffe hinter den Anschlägen. Ein US-Wissenschafter namens Bruce Ivins, der Selbstmord beging, gilt heute als einziger möglicher Täter. In Deutschland brach eine regelrechte Anthraxpanik aus. Getürkte Milzbrand-Briefe lösten tausende Einsätze gegen vermeintliche Biokampfstoffe aus. Es genügte schon, auf ein Kuvert Worte wie „Anthrax“ oder „Dschihad“ zu schreiben, um einen Großeinsatz auszulösen. Auch in Österreich mussten Experten der ABC-Abwehrschule des Bundesheers zum Flughafen Schwechat ausrücken, wo ein verschüttetes weißes
Pulver fälschlich Milzbrandalarm ausgelöst hatte.

Immerhin waren das noch mögliche reale Bedrohungen, die aber rasch in Vergessenheit gerieten, als die Nation im Sommer 2006 mithilfe der „Kronen Zeitung“ auf eines ihrer großen Bedrohungsbilder stieß: die Dornfingerspinne. Nach Sichtungen in Vorarlberg, im Oberinntal, im Mühlviertel und in Wien wollte bald jeder eines dieser Monster gesehen haben: im Garten, in der Garage, auf dem Dachboden. So viele Spinnen, wie in diesen Tagen in ganz Österreich in Gurkengläsern und Zahnputzbechern gesammelt wurden, gab es nie zuvor.

Zoologen warnten: Es handle sich bei vielen Sichtungen gar nicht um das Original, sondern nur um einen Doppelgänger. Die Redaktion der Tageszeitung „Die Presse“ wählte das Tier dennoch zur Nummer eins der „Sommer-Loch-Hits 2006“. „Die Österreicher fürchten sich oft vor den falschen Dingen, vor den wirklich gefährlichen fürchten sie sich nicht“, bemerkte erst kürzlich der Wiener Tropenmediziner Heinrich Stemberger. Ob die Neue Grippe wirklich gefährlich ist oder nicht, ist noch offen. Aber die Chancen, dass wir auch diese Pandemie überleben werden, stehen nicht schlecht.