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Schwellenländer: Das Auto macht die Mittelschicht in Indien, China und Co

Schwellenländer. Das Auto als Symbol des Aufstiegs der Mittelschicht

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An der Mombasa Road in Nairobi wurde vor Kurzem ein Autohaus eröffnet, so schick und modern wie alle Autohäuser zwischen Los Angeles und Genf, Graz und Wladiwostok aussehen: mit Topfpflanzen in der Einfahrt, einem roten Läufer, der zum Glasportal führt, und einem riesigen Logo der Automarke - in diesem Fall Honda. Manabu Nishimae, der für Afrika zuständige Manager, schwärmte von der Expansion im Süden der Sahara und versprach Ersatzteillieferungen so prompt wie anderswo auf der Welt auch. Hunderte von Kleinwagen Marke Honda Brio aus indischer Produktion werden nach Kenia, aber auch nach Malawi, Mosambik, Tansania, Simbabwe oder Sambia verschifft, wo der Fünf-Türer mit dem verheißungsvollen Slogan "It loves you back“ auch in den entlegeneren Winkeln des Landes auf Liebhaber stoßen soll. Darauf deutet das einzige zusätzliche Feature hin, mit denen die Fahrzeuge extra für den afrikanischen Markt bestückt wurden: Abschlepphaken vorne und hinten. Schließlich landet man in der kenianischen Provinz schnell einmal auf unasphaltierten Straßen, deren Schlaglöcher unwesentlich kleiner sind als ein Kompaktauto.

Der Wettkampf der Autohersteller
Während Kenianer von einem Brio träumen sollen, lockt Nissan die Inder mit einem neuen Billig-Auto: dem Datsun Go. Dieser wurde vergangene Woche in einer Show im Bollywood-Stil, mit Tänzerinnen und bombastischer Musik, vorgestellt. Weniger als 400.000 Rupien wird er kosten, umgerechnet etwa 5100 Euro, und leisten soll sich ihn die "immer größer werdende Gruppe von optimistischen Kunden in Hochwachstumsmärkten“, die dank eines eigenen Autos "ihre Träume und Ziele für eine bessere Zukunft erreichen“ wird.

Die Autohersteller beten weltweit um Optimismus, der sich in Autokäufen niederschlägt: Hyundai lockt die Brasilianer mit dem HB20, wobei das "B“ für "Brasilien“ steht. Der chinesische Produzent BYD Auto hat als besonderen Service für die einheimischen Konsumenten den Toyota Aygo kopiert und als F0 auf den Markt gebracht. Lada wiederum bedient das russische Publikum mit einer Renault-Nissan-Koproduktion namens Largus.

Allesamt eher kleine, billige Fahrzeuge, die eines gemeinsam haben: Sie sollen der Mittelschicht in den Schwellenländern als Symbol des Aufstiegs dienen und ihr einen Way of Life ermöglichen, so wie einst der Volkswagen Käfer im Nachkriegsdeutschland. Nur macht die Weltwirtschaft den Strategien der Auto-Konzerne einen Strich durch die Rechnung: Die angepeilten "Hochwachstumsmärkte“ wachsen nicht mehr ausreichend schnell, die jeweiligen Landeswährungen stürzen ab. Die indische Rupie etwa verlor seit Jahresbeginn ungefähr neun Prozent an Wert im Vergleich zum US-Dollar. Die Folge: Die Autokäufe stagnieren.

Das Buhlen um die Mittelschicht
Warum das von Bedeutung ist? Weil die Autobesitzer die Mittelschicht sind. Es gibt gute Gründe für diese auf den ersten Blick ziemlich verkürzt anmutende Gleichsetzung. Andere Definitionen des Begriffs "Mittelschicht“ gehen am eigentlichen Ziel vorbei, eine Abgrenzung zu Armut und Reichtum zu leisten. Die Weltbank etwa geht davon aus, dass jeder, der über ein Einkommen von mehr als zwei US-Dollar pro Tag - kaufkraftbereinigt - verfügt, nicht arm ist und deshalb zur Mittelschicht gehört. So gelangt man zu einer Zahl von mehr als vier Milliarden Menschen.

Andere Definitionen wiederum lassen die Mittelschicht auf ein winziges Segment schmelzen, weil sie westliche Standards anlegen. Der Besitz eines Autos hingegen ist in Schwellenländern quasi synonym mit dem Aufstieg in die Mittelschicht, denn wer sich ein eigenes Fahrzeug leistet, kann mit großer Wahrscheinlichkeit auch andere Konsumgüter kaufen.

Anhand dieses Kriteriums ergibt sich eine Zahl von 550 bis 600 Millionen Menschen in den Schwellenländern, wie das US-Magazin „Foreign Policy“ errechnete. Die Bildung einer breiten Mittelschicht gilt als eine der wichtigsten Entwicklungen in einem Land, denn Bürgerinnen und Bürger, deren ökonomische Existenz abgesichert ist, beginnen meist politische Ansprüche zu stellen. Die jüngsten Demonstrationswellen in Brasilien, der Türkei und Ägypten bestätigen das.

Wovor sich Politiker hüten sollten
Illiberale, korrupte, abgehobene Regierungen in Schwellenländern, nehmt euch in Acht vor den Autofahrern! Das mag angesichts des spießigen Traums von einem 1,2-Liter-Kleinwagen seltsam klingen, gilt es doch hierzulande eher als politisch fortschrittliches Statement, kein Auto mehr zu besitzen. Doch die Masse der tatsächlichen und potenziellen Autobesitzer in Kenia und anderen ehemaligen Entwicklungsländern ist definitiv die politische Force majeure. Sie sind Steuerzahler, sie wissen um die Qualität öffentlicher Leistungen, und sie sind selbstbewusst genug, um sich politisch Gehör zu verschaffen, wenn sie unzufrieden sind.

Es ist kein Zufall, dass die Mittelschicht gerade jetzt demonstriert. Die Tariferhöhungen im öffentlichen Verkehr in Brasilien und die drohende Verbauung des Gezi-Parks in Istanbul waren nur mehr oder weniger zufällige Auslöser. Durch die Wirtschaftskrise - Rückgang des Wirtschaftswachstums und Wertverlust der Währungen - geraten die optimistischen Autokäufer und solche, die es eben noch werden wollten, unter besonders starken Druck. Die Globalisierung, deren Nutznießer sie waren, zeigt ihre Kehrseite: Die Krise in Europa sendet Schockwellen aus, die Konkurrenz in anderen, weniger entwickelten Ländern unterbietet die Löhne, die eigene Regierung kürzt die Sozialausgaben - und schon droht der Absturz von der Mittelschicht in die Armut.

Autokraten müssen befürchten, in solchen Situationen verjagt zu werden. Thomas L. Friedman, Star-Kolumnist der „New York Times“, schließt daraus, dass sich Demokratien weiter verbreiten werden, doch "sie werden auch unbeständiger sein als je zuvor“. Wo keine ernstzunehmende Opposition vorhanden sei, würden die Massen auf die Straße gehen, so Friedman.

Die Hersteller des Datsun Go heben "Wendigkeit im Stau“ als besonderen Vorteil des kleinen Kompaktfahrzeugs hervor. Der Promo-Nonsens weist auf eine interessante Frage hin: Wie viele Autobesitzer gibt es in den Schwellenländern jetzt schon, und wie viele könnten es werden? In der EU-27 kamen im Jahr 2009 auf 1000 Einwohner 473 Autos. In Russland waren es 233, in Brasilien 178, in China 34, in Kenia 13 und in Indien 12. Selbst bei nicht nachlassenden Wachstumsraten des Autobesitzes würde es im Falle Chinas rund 25 Jahre und im Falle Indiens mehr als 40 Jahre dauern, bis diese Länder den Wert eines europäischen Landes erreichen.

Probleme abseits der Straßen
Bis dahin müsste China allerdings folgendes Problem in den Griff bekommen: Die Volksrepublik altert schneller, als sie reich wird. Die seit über 30 Jahren anhaltende Ein-Kind-Politik hat die Geburtenrate auf ein Niveau sinken lassen, wie es sonst nur in Industrieländern üblich ist. Chinesische Sozialwissenschaftler gehen davon aus, dass der Anteil der Alten in China bis zum Jahr 2030 größer als in Japan sein wird - bis dato das Land mit den meisten Menschen im Rentenalter.

In Brasilien hingegen sorgt unter anderem gerade die gesunkene Geburtenrate dafür, dass der soziale Aufstieg vieler Familien nachhaltig ist. 5,7 Kinder hatten Eltern noch vor einer Generation im Durchschnitt durchzubringen, heute sind es 1,9.

Die Erwartungshaltung, wonach die Schwellenländer der sogenannten Ersten Welt in ihrer Entwicklung einfach folgen würden, ist möglicherweise ein simpler Irrglaube. Große ökonomische Ungleichheit wird in verschiedenen Gesellschaften unterschiedlich bewertet. In Kontinentaleuropa nimmt die "Égalité“ (Gleichheit), einer der Leitbegriffe der Französischen Revolution, noch heute eine zentrale Stellung im politischen Denken ein. Die Schere zwischen Arm und Reich gilt als skandalöses Übel, gegen das der Staat mit allen Mitteln ankämpfen muss. In den USA hingegen wurde Ungleichheit lange als natürliches Phänomen angesehen.

Die Frage ist, ob sich die egalitäre Geschichte Europas, wo die Mittelschicht eine enorme Breite erreicht hat, in den Schwellenländern wiederholt. Wie viele Inder werden am Ende in einem Datsun Go und seinesgleichen Platz finden, wie viele Chinesen in einem F0, wie viele Brasilianer in einem HB20, wie viele Kenianer in einem Brio?

Derzeit sitzen die Massen - bildlich formuliert - mit großen Augen auf ihren Fahrrädern und Mopeds am Straßenrand und müssen sich damit abfinden, nicht zur beneideten Schicht der Autobesitzer stoßen zu können. Doch die Prognose bleibt langfristig positiv. Renault-Nissan-Boss Carlos Ghosn schwärmt von der Rückkehr der Verkaufszuwächse in Indien bereits im kommenden Jahr.

Auch in Nairobi mögen viele neue Aufsteiger den Weg zum Honda-Händler in die Mombasa Road finden. Zwar sind Hausnummern in der kenianischen Hauptstadt rar, aber die offizielle Adressenangabe ist präzise: "direkt gegenüber von Vitafoam, nahe dem Panari Hotel“.