Künstliches Augenlicht

Sehvermögen: Künstliches Augenlicht

Erste bescheidene Erfolge für Netzhautimplantate

Drucken

Schriftgröße

Die Stille im Operationssaal wird durch rhythmische Rufe unterbrochen. „Nein“ – „nein“ – „nein“, sagt der Patient auf dem Operationstisch der Augenklinik im Wiener AKH. An einem daneben aufgebauten Schaltpult dreht ein Techniker im hellgrünen OP-Overall langsam an einem Regler und erhöht sukzessive die zugeführte Stromstärke. Nochmals „nein“ – „nein“. Doch dann ruft der Patient plötzlich ein befreiendes „Ja!“ durch den abgedunkelten Raum. Vor 15 Jahren war Manfred F.* erblindet – jetzt hat er zum ersten Mal wieder etwas gesehen. Fünfzig Minuten später, als der Test abgeschlossen ist, berichtet er euphorisch: „Da war ein kleines Licht, etwa so hell wie eine Kerze – es war schön.“

Der 40-Jährige leidet an einer erblichen Netzhauterkrankung, der Retinitis pigmentosa. Durch diese Krankheit sterben die lichtempfindlichen Sinneszellen im Auge nach und nach ab. Beginnend am äußeren Rand, frisst sich die Krankheit bis ins Zentrum der Netzhaut. „Patienten sehen in fortgeschritteneren Stadien wie durch einen Tunnel“, erklärt Michaela Velikay-Parel, Augenärztin an der Medizinischen Universität Wien. „Häufig verlieren sie ihr Augenlicht vollkommen.“ In Österreich sind zwischen 3000 und 4000 Menschen von der schleichenden Erblindung betroffen – bisher mussten die Ärzte hilflos zusehen.

Doch nun zeichnet sich immer deutlicher eine mögliche Hilfe ab – künstliche Netzhautimplantate. Manfred F. ist einer von zwanzig freiwilligen Teilnehmern an einer der weltweit ersten Studien über die Praxistauglichkeit solcher am Menschen versuchter Implantate, die Velikay-Parel in Zusammenarbeit mit dem Unternehmen IIP-Technologies gemeinsam mit den Universitätskliniken von Hamburg, Essen und Aachen durchführt. Mithilfe eines kleinen operativen Eingriffs unter lokaler Betäubung setzt die Augenärztin dem Patienten einen zündholzkopfgroßen Stimulator mit eingebauten Elektroden auf die Netzhaut.

Ralf Hornig, der die Studie bei IIP-Technologies betreut, steuert während des Experiments Stromstärke und -spannung an den Elektroden. Der wache Patient kann nun genau sagen, bei welchen Einstellungen er die Reize des Stimulators als Licht wahrnimmt. Nach Abschluss der Testreihe entfernt Velikay-Parel den Stimulator wieder, denn vorerst geht es nur darum, Grundparameter für die Sehprothese zu bestimmen. In Zukunft soll dann das Implantat dauerhaft im Auge bleiben.

Kamerabrille. Das Funktionsprinzip klingt einfach. Eine winzige, in eine Brille montierte Kamera nimmt ein Bild der Umgebung auf, wandelt es in elektrische Impulse um und sendet es ins Auge. Dort leitet ein Empfänger das Signal an Elektroden weiter, welche die Nervenzellen der Netzhaut stimulieren und auf diese Weise dem Gehirn wieder visuelle Eindrücke übermitteln. Das Konzept könnte aufgehen, denn die Erkrankung zerstört nur die untersten Schichten der Netzhaut, in denen sich die Lichtsensoren befinden (siehe Grafik). Die tiefer im Augeninneren liegenden, für die Weiterleitung der Lichtinformationen ins Gehirn zuständigen Nervenzellen bleiben intakt.

Allerdings liegt genau darin eine große Schwierigkeit. „Im gesunden Auge geben die Fotosensoren – Zapfen und Stäbchen – ihre Signale nicht direkt an die Hirnnerven weiter, sondern an kleine Relaisstationen, an Schaltzellen, die Informationen von Rezeptorgruppen zusammenfassen“, erklärt Hornig. Elektroden, die „epiretinal“ auf der Netzhaut liegen und so die innerste Nervenzellschicht reizen, müssen „die Sprache der Netzhaut sprechen“, damit im Gehirn ein Bild entsteht. Diese Aufgabe soll ein lernfähiger „Retina-Encoder“ übernehmen.

Dieser Minicomputer errechnet aus dem Kamerabild ein Stimulationsmuster, das er an einige hundert Mikroelektroden sendet. Der Clou des Projekts steckt in diesem Computer. Denn der Rechner soll in einem Trainingsprozess anhand von Standardbildern wie Punkten, Kreisen und Kreuzen lernen, welche Reize an welchen Elektroden nötig sind, um einen entsprechenden Sinneseindruck hervorzurufen. Während des Trainings sitzt der Patient vor einem Bildschirm und gibt per Knopfdruck zu verstehen, ob er die Form schon klar erkennen kann. Entsprechend verändert der Computer das Reizmuster und speichert diese Informationen. So lässt sich das Kamerasignal ganz individuell an das Auge eines Patienten und die Lage der Elektroden anpassen.

Fotosensoren. Einen ganz anderen Ansatz, der im weltweiten Wettlauf um Netzhautprothesen erfolgversprechend sein könnte, verfolgt der Tübinger Augenarzt Eberhart Zrenner. Er platziert einen Chip direkt unter die zerstörten Sinneszellen – daher wird dieses Konzept als „subretinaler Ansatz“ bezeichnet. „Ich will das Telefonkabel nicht unterwegs anzapfen, sondern dort, wo es anfängt, wieder erregen“, sagt Zrenner. „Wir implantieren den Chip am Telefonanschluss, an der Stelle, wo das Gehirn den Reiz erwartet.“ In interdisziplinärer Zusammenarbeit zwischen Ärzten, Neuro- und Physiologen, Informatikern und Physikern arbeitet Zrenner an einem Chip, der 1600 kleine Fotosensoren und Verstärker enthält.

Diesen bisher nur in Tierversuchen erprobten Chip schiebt der Tübinger Augenarzt unter die Netzhaut. Treffen nun Lichtreize auf den Chip, geben die Sensoren verstärkte elektrische Signale ab, welche die Schaltzellen der Retina stimulieren sollen. Zrenner baut darauf, dass diese Schaltzellen noch ausreichend funktionieren und die Signale des Chips aufnehmen und verarbeiten wie früher die Impulse der gesunden Sinneszellen. Dieser Ansatz benötigt zwar keinen aufwändigen Computer zur Bildverarbeitung, allerdings reicht die Energie des einfallenden Lichtes allein nicht aus, damit elektrische Reize die wie eine Isolierschicht wirkenden abgestorbenen Sinneszellen der Netzhaut überbrücken. Der Chip benötigt daher zusätzlich Energie von außen. Zunächst soll ein kleines Kabel die Kluft zwischen Batterie und dem Chip im Augeninneren überbrücken. Langfristig hofft Zrenner allerdings, den Strom mit einem kleinen Infrarotstrahler drahtlos ins Auge zu senden. Eine Erwärmung des Chips um zweieinhalb Grad könnte laut Zrenner ausreichen, die nötigen 15 Mikrovolt Spannung zu liefern.

Noch fehlen allerdings Erfahrungen, wie viel die Patienten mit den elektronischen Sehhilfen erkennen werden. In Tierversuchen konnten Forscher zwar feststellen, dass Reize im Hirn von Schweinen, Hühnern oder Kaninchen ankamen. Was die Tiere wahrgenommen haben, blieb allerdings unklar. Obwohl Fachleute über die Notwendigkeit von „Versuchsoperationen“ am Menschen uneins sind, spricht manches für solche. Seit einigen Jahren zeigen solche Versuche in den USA, Japan und Deutschland mit verhältnismäßig großen Elektroden viel versprechende Ergebnisse.

Netzhautchip. Die am Wiener AKH laufende Studie dient den Chipdesignern dazu herauszufinden, mit welchem Strom sie die Nervenzellen der Netzhaut reizen müssen, um eine Lichtempfindung auszulösen. Ob wirklich 1000 Elektroden ausreichen, um wieder lesen zu können, wie der US-amerikanische Augenarzt und Pionier der Netzhautimplantate, Mark S. Humayun, glaubt, wird die Zukunft weisen. Vieles hängt auch von der Anpassungs- und Lernfähigkeit des Gehirns ab. Es wird einiger Übung bedürfen, um in den ungewohnten Bildstrukturen, welche der Chip dem Gehirn übermittelt, Gegenstände oder Personen erkennen zu können. Das Sehen mit einem solchen Netzhautchip wird ein bisschen dem Betrachten von abstrakten Zeichnungen von Picasso oder Klee ähneln. Viel Interpretation wird erforderlich sein, mit diesen Bildinformationen etwas anfangen zu können. „Unser Ziel ist es, dass sich Patienten wieder selbstständig in unbekannter Umgebung orientieren können“, sagt Velikay-Parel.

Wenn die Auflösung der Chips präzise genug ist, könnte die künstliche Netzhaut neben Patienten mit Retinitis pigmentosa später einmal auch Menschen mit altersbedingter Makula-Degeneration helfen. Von dieser Erkrankung im Bereich der Netzhaut, bei der die Patienten zunehmend vernebeltere Bilder sehen, sind etwa 20.000 bis 30.000 Österreicher betroffen. Dabei spielt es wahrscheinlich keine Rolle, wie lange ein Patient schon unter der Sehstörung leidet – die Netzhaut lässt sich, so Velikay-Parel, zwei Jahre nach der Erblindung voraussichtlich noch genauso gut stimulieren wie zehn Jahre später. Lediglich für Patienten, die blind geboren wurden, wird sich die Technologie nicht eignen. Das Gehirn hat in solchen Fällen keine Nervenschaltungen entwickelt, um optische Eindrücke aufzunehmen. Es hat nie gelernt, solche Empfindungen zu verarbeiten.

Nach den Ergebnissen der Studie sind Velikay-Parel und Hornig zuversichtlich. „Wenn alles funktioniert, könnten wir in den nächsten drei Jahren ein Implantat auf den Markt bringen“, so Hornig. Ähnliche Zeiträume fasst auch Zrenner ins Auge, wenn seine für die zweite Jahreshälfte angekündigte Studie an acht freiwilligen Patienten erfolgreich verläuft. Vorläufig ist die künstliche Netzhaut noch eine Vision, von der Menschen wie Manfred F. träumen. Noch lange nach dem ersten, im Operationssaal des Wiener AKHs empfangenen spärlichen Bild sagt er: „Wenn ich die Augen schließe, sehe ich es immer wieder – dieses wunderschöne Licht.“