Seichtgebiete der modernen Literatur

Was wurde aus der viel gehypten Popliteratur?

Drucken

Schriftgröße

Selbst ausgewiesene Popkenner pflegen mitunter abgründige Musikvorlieben. Der Protagonist von „Der kleine Bruder“, dem dieser Tage publizierten neuen Roman des deutschen Musikers Sven Regener, ist Misstönen in Form von Liedgutklassikern ausgesetzt: Als Frank Lehmann die Spelunke „Zum Krahl-Eck“ betritt, schwappen ihm bereits am Eingang die ersten Takte von „Die kleine Kneipe in unserer Straße“ aus den Lautsprechern der Jukebox entgegen. Im Lauf des alkoholseligen Abends droht ein Gast dem Neuankömmling, dem bereits aus den Regener-Romanen „Herr Lehmann“ und „Neue Vahr Süd“ bekannten Taugenichts, mit den Tastenkombinationen F9 und F10 des Musikautomaten: Freddy Quinn.

„Der kleine Bruder“, chronologisch der Mittelteil der Lehmann-Trilogie und erzähltechnisch angesiedelt Anfang der achtziger Jahre in einem von der Mauer geteilten Berlin, berichtet nicht nur von den urbanen Irrfahrten seines antriebslosen Antihelden – der Roman markiert zudem eine neue Entwicklung im Genre der so genannten Popliteratur. Die seit je nicht klar umrissene, unter anderem aus der US-amerikanischen Beat-bewegung stammende und im deutschen Sprachraum einst von Autoren wie Rolf Dieter Brinkmann (1940–1975), Hubert Fichte (1935–1986) und dem jungen Peter Handke bediente Gattung büßte spätestens mit dem gockelhaft-großmäuligen Auftreten der Jungliteratenclique um Benjamin Stuckrad-Barre Mitte der neunziger Jahre ihren rebellisch-subversiven Gestus weitestgehend ein: Die ästhetische Auseinandersetzung mit Lebensalltag, Musik und Massenkultur wurde damals der Kommerzialisierung mithilfe von Publikationen in unbekümmertem Simpelstil geopfert. Die Weigerung des deutschen Poesiequerkopfs PeterLicht, sein Gesicht in aktuellen TV- und Zeitungsbeiträgen zu zeigen, wirkt da wie eine kauzige Referenz an die große Zeit des literarischen Aufbegehrens (siehe Kasten „Klingklang“). Popliteratur, verstanden als Unterhaltungsdienstleistung innerhalb der Kulturindustrie, wird inzwischen auch nicht mehr vorrangig von Schriftstellern, sondern von Praktikern des Popbusiness verfasst: Die ehemalige Musik-TV-Moderatorin Charlotte Roche setzte von ihrer in diesem Frühjahr publizierten literarischen Intimbereichserforschung „Feuchtgebiete“ bereits sensationelle 700.000 Exemplare ab. Neben Bestsellerautor Regener, Mastermind der Berliner Band Element of Crime, wechselten jüngst auch die deutsche Songschreiberin Christiane Rösinger (Lassie Singers, Britta) und der Innsbrucker Underground-Tonsetzer Hans Platzgumer von der Musik zur Literatur. Für Oktober sind die neuen Romane des Lied-Entertainers Heinz Strunk („Die Zunge Europas“) und des Pop-Schwergewichtstheoretikers Thomas Meinecke („Jungfrau“) angekündigt. Der finalen Kakofonie entkommt Lehmann in „Der kleine Bruder“ übrigens knapp. Als in der Weinschenke die ersten Takte eines Liedes von Alexandra erklingen (Textprobe: „Mein Freund der Baum ist tot / er fiel im frühen Morgenrot“), verlässt er fluchtartig das Lokal.

Christiane Rösinger, 47
Von 1988 bis 1998 war die Wahlberlinerin vornehmlich mit ihrer die Grenze zwischen Subkultur und Mainstream verwischenden Band Lassie Singers befasst, die sie zusammen mit Almut Klotz und Fanny van Dannen gegründet hatte. „Best of“ und „Rest of“, die beiden letzten Lassie-Alben, erschienen auf Rösingers eigenem Label Flittchen Records – genauso wie die Tonträger ihres jüngsten Bandprojekts Britta. Für deutsche Zeitungen – etwa „taz“, „Berliner Zeitung“ und „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ – schreibt Rösinger regelmäßig über Popmusik und -kultur; ihr erstes Buch, der autobiografisch grundierte Roman „Das schöne Leben“, ist im Frühjahr 2008 erschienen.

Charlotte Roche, 30
Im Alter von acht Jahren übersiedelte Roche gemeinsam mit ihrer Familie von England nach Deutschland, wo die Schulabbrecherin ab 1998 zur exzentrisch-aufmüpfigen Moderatorin des TV-Musikkanals VIVA aufstieg. Die mundflinke Journalistin avancierte aufgrund ihres unkonventionellen Gesprächsstils bald zum Aushängeschild des Spartensenders – die Autorin und Moderatorin sei die „Queen of German Pop Television“, bemerkte Harald Schmidt. Nach der Absetzung ihrer preisgekrönten TV-Sendung „Fast Forward“ anno 2004 bewies Roche multiples mediales Talent: Neben Moderationen bei diversen Sendern (ProSieben, arte, ARD) übernahm sie in TV-Produktionen und Musikvideos Gastauftritte. Die Initialzündung von „Feuchtgebiete“, Roches literarischem Verkaufserfolg, datiert aus 2005: Im Rahmen einer Lesereise trug die Wortarbeiterin Auszüge aus einer Dissertation zum Thema „Penisverletzungen bei Masturbation mit Staubsaugern“ vor. Auf 3sat startet im Oktober die fünfteilige Serie „Charlotte Roche unter …“, in der sie unter anderem als Bestatterin, Müllwerkerin, Jägerin, Altenpflegerin und Lkw-Fahrerin zu erleben sein wird.ײ

Hans Platzgumer, 39
Unter Pseudonymen wie Aura Anthropica, Seperator und Jo Ashito sowie in diversen Bandprojekten – darunter HP Zinker, Die Goldenen Zitronen und e:gum – veröffentlichte der Musiker und Autor in den vergangenen Jahren über 50 Alben (und spielte mehr als 1000 Konzerte). 2005 veröffentlichte Platzgumer mit „Expedition. Die Reise eines Underground-Musikers in 540 KB.“ einen autobiografischen Langtext. „Weiߓ, die 2008 publizierte Geschichte einer allmählichen Geisteszerrüttung, ist sein erster Roman.

Sarah Kuttner, 29
Die Anhängerin des telegenen Sprudelsprechs startete ihre Bildschirmkarriere 2001 als VIVA-Moderatorin; ab 2004 empfing sie ihre Gäste im Rahmen der Late-Night-Show „Sarah Kuttner“, die nach einem Jahr Laufzeit zum Branchenriesen MTV wechselte – und schließlich aufgrund mangelnder Quote abgesetzt wurde. Kuttners bisherige Publikationen „Das oblatendünne Eis des halben Zweidrittelwissens“ (2006) und „Die anstrengende Daueranwesenheit der Gegenwart“ (2007) versammeln eine Auswahl ihrer Kolumnen für die „Süddeutsche Zeitung“ und den „Musikexpress“.

Heinz Strunk, 46
Heinz Strunk, auch bekannt als Mathias Halfpape und Jürgen Dose, terrorisiert als Comedy-Entertainer gern arglose Telefonpartner. Strunk und der schriftstellernde Musikextremist Rocko Schamoni („Sternstunden der Bedeutungslosigkeit“, 2007) bilden seit Jahren die Stammbelegschaft der Telefon-Komik-Truppe Studio Braun. 2003 veröffentlichte Strunk sein erstes Musikalbum („Einz“); mit dem autobiografisch grundierten Roman „Fleisch ist mein Gemüse“ (2004) glückte dem Schauspieler („Immer nie am Meer“, gemeinsam mit Christoph Grissemann und Dirk Stermann) ein Bestseller.