Krieg der Barrikaden

Kosovo. Die Angriffe serbischer Nationalisten auf österreichische Friedenstruppen - und ihre Folgen

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Von Gregor Mayer, ­Jagnjenica/Kosovo, und Martin Staudinger

s wirkt wie die Ruhe nach dem Sturm – könnte aber auch nur die Ruhe vor dem nächsten sein. Mittwoch vergangener Woche am Rand des 100-Seelen-Örtchens Jagnjenica bei Mitrovica im nördlichen Kosovo: Auf einer Wiese lagern rund 100 Serben aus der Umgebung, Lagerfeuer brennen, Tee wird herumgereicht.

Man könnte meinen, hier finde ein friedliches Picknick statt, wenn da nicht der umgestürzte Autobus mit den zerschlagenen Scheiben im Hintergrund wäre; der ausgebrannte Lastwagen mit den angekokelten Baumstämmen auf der Ladefläche; und die Pandur-Radpanzer, auf denen vermummte Soldaten mit Plexiglas-Schutzschilden Stellung bezogen haben. Um die Fronten der Militärfahrzeuge windet sich Stacheldraht, hinter den Geschütztürmen sind österreichische Fahnen aufgepflanzt. Auf dem Wrack des Autobusses flattern serbische Flaggen.

Am Montag zuvor hat hier eine blutige Schlacht stattgefunden. Die Kontrahenten: österreichische und deutsche Einheiten der NATO-geführten Friedensmission KFOR (Kosovo Force) auf der einen Seite, ethnische Serben auf der anderen.

Die Auseinandersetzungen, die rund 60 Verletzte forderten, begannen am frühen Morgen des 28. November. Zusammengebraut hatten sie sich aber schon längere Zeit. Gegen neun Uhr beginnen KFOR-Einheiten, eine von Serben errichtete Barrikade zu räumen, die seit Tagen den Weg in die Gemeinde Zvecan blockiert. Die Soldaten versuchen, quer über die Straße gestellte Fahrzeuge abzuschleppen.

Sie tun das im Rahmen ihres durch ein UN-Mandat begründeten Auftrags, die öffentliche Sicherheit und Ordnung im Kosovo aufrechtzuerhalten. Gegen zehn Uhr spitzt sich die Lage zu. Serbische Demonstranten schießen mit Feuerwerkskörpern, die KFOR antwortet mit Tränengas und Wasserwerfern.

Um halb elf Uhr fallen Schüsse aus Handfeuerwaffen, zwei deutsche Soldaten werden getroffen. Inzwischen schwillt die Menge immer weiter an. Gegen elf Uhr haben sich bereits an die 400 aufgebrachte Serben an der Barrikade versammelt, die Stimmung wird von Minute zu Minute aggressiver. Jetzt fliegen auch Molotovcocktails und Rohrbomben in Richtung der KFOR, die jetzt Gummigeschosse einsetzt.

Um 18 Uhr eskaliert die Lage endgültig: In unmittelbarer Nähe österreichischer KFOR-Soldaten explodiert eine Handgranate. Ein 24-jähriger Unteroffizier des Bundesheers erleidet dabei eine so schwerwiegende Lungenverletzung, dass er nach der Erstversorgung zeitweilig in ein künstliches Koma versetzt werden muss. Ein weiterer wird durch Splitter an den Beinen verletzt.

Insgesamt werden bei den Auseinandersetzungen elf österreichische und 19 deutsche Soldaten verwundet, mindestens 30 Serben müssen ebenfalls ins Krankenhaus gebracht werden. Es ist der blutigste Zwischenfall, in den die NATO-geführte Truppe seit ihrem Einrücken in den Kosovo im Jahr 1999 verwickelt worden ist.

Der Gewaltausbruch erfolgte aber nicht spontan – er folgte vielmehr einem präzisen Timing. Zu den Ausschreitungen in Jagnjenica kam es zehn Tage vor einer wegweisenden Entscheidung in Brüssel: Diesen Freitag will die Europäische Union (EU) entscheiden, ob Serbien den Status eines EU-Beitrittskandidaten erhält.

Im Licht der Ereignisse scheint es ­nunmehr unwahrscheinlich, dass der ­Beschluss positiv ausfallen wird (siehe ­Kasten): ein schwerer Rückschlag für den als proeuropäisch geltenden Präsidenten Boris Tadic, der in Belgrad seit 2008 mit seiner Demokratischen Partei (DS) eine Mitte-links-Koalition anführt. Tadic hat ­einiges getan, um Serbien an den Westen heranzuführen – unter anderem sind ­inzwischen alle vom Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugosla­wien (ICTY) gesuchten, mutmaßlichen Kriegsverbrecher verhaftet und ausgeliefert. Nicht zuletzt deshalb sieht sich sein Parteienbündnis dem populistischen Druck der immer noch mächtigen Nationalisten ausgesetzt.

Zu diesem Block gehören Intellektuelle aus dem Umkreis der Akademie der Wissenschaften, die meisten Würdenträger der Serbisch-Orthodoxen Kirche, der ehemalige Ministerpräsident Vojislav Kostunica (2004–2008) und obskure klerikal-faschistische Organisationen wie „Obraz“ (Würde) und „1389“. Ihre Handlanger haben sie in den meisten Medien, ­unter aktiven und ehemaligen Geheimdienstlern, Neonazis und Fußball-Rowdys. Ihre Verbündeten sind dubiose Geschäftsleute, Kriegsgewinnler und Kriminelle, die nicht mehr so gut im Trüben fischen können, wenn sich Serbien der EU annähert und deren penible Regeln und Vorschriften übernimmt.

Aber der Kurs von Tadic ist nicht wirklich geradlinig. Einerseits will er Serbien in die EU führen. Gleichzeitig beteuert er aber auch, den Kosovo „nicht aufgeben“ zu wollen – und das, obwohl die zu 90 Prozent von Albanern bewohnte Ex-Provinz schon 1999 vom damaligen serbischen Despoten Slobodan Milosevic verspielt wurde und sich 2008 mit internationaler Unterstützung für unabhängig erklärt hat.

Die Nationalisten in Belgrad wiederum sträuben sich gegen die EU-Annäherung Serbiens – und instrumentalisieren jene rund 60.000 Kosovo-Serben, die nördlich des Flusses Ibar leben, um die Europa-Pläne der Tadic-Partei und ihrer Koalitionspartner zu hintertreiben.

Seit Juli dieses Jahres schwelt der Konflikt im nördlichen Kosovo. Das Gebiet wird fast ausschließlich von ethnischen Serben bewohnt, die zuvor auch die Grenzübergänge kontrolliert hatten. Die Art und Weise, wie sie die Kontrollen handhabten, erlaubte kriminellen Netzwerken, ungestört lukrative Schmuggel-, Zoll- und Steuerbetrugsgeschäfte zu betreiben.

Im Sommer übernahmen dann Beamte der kosovarischen Regierung das Zoll- und Grenzregime: Abgesehen von einigen ethnischen Serben aus Enklaven südlich des Ibar sind die meisten von ihnen Albaner, überwacht werden sie von der EU-Rechtsstaatsmission Eulex. Das passte den örtlichen Serben gar nicht. Sie errichteten auf den Zugangsstraßen zur Grenze Barrikaden, um die Beamten daran zu hindern, auf ihre Posten zu gelangen.

Damit begann ein Katz-und-Maus-Spiel.
Die Grenzbeamten wurden in NATO-Hubschraubern zum Dienst geflogen. Die KFOR räumte Barrikaden weg, während ein paar Kilometer weiter wieder neue errichtet wurden. Die Serben schlugen Schleichwege über die Grenze ins Unterholz, die nach wenigen Tagen von der KFOR wieder geschlossen wurden. Immer wieder kam es dabei zu Reibereien und Zusammenstößen, auch mit Verletzten.
Der Zwischenfall in Jagnjenica am Montag der Vorwoche war der bisher schwerste in dieser Reihe. Ende vergangener Woche präsentierte sich der Schauplatz der Ereignisse ruhig, aber angespannt. Die KFOR-Soldaten hielten an den Barrikaden ebenso die Stellung wie die Serben. Drei Frauen haben vor den Panzern einen Campingtisch aufgestellt und schimpfen auf die „Schwaben“, also Deutschen, und die Österreicher.

„Diese Österreicher schießen auf Menschen, selbst auf Sanitäter und Ärzte!“, ruft Jelena, eine junge Lehrerin aus der Dorfschule – eine Behauptung, für die es absolut keine Indizien gibt. „Wir verteidigen uns mit bloßen Händen gegen diese Übermacht“, meint Nebojsa, der Schulwart. „Die Kinder sind traumatisiert. Aber nicht nur die Kinder, auch wir“, fügt die Lehrerin mit einem besonders vorwurfsvollen Blick hinzu.

Dabei wäre es eher angebracht, von Hysterisierung zu sprechen als von Traumatisierung. Selbst im fast zehn Kilometer entfernten, fest in serbischer Hand befindlichen Nord-Mitrovica gibt es dieser Tage keinen Unterricht. Der „Terror“ der KFOR hätte die Schüler zu sehr verängstigt, heißt es dort.

Die Beschuldigungen, das Brodeln der Gerüchteküche, das gezielte Streuen von Desinformationen – all das erinnert an Kroatien vor genau zwei Jahrzehnten. Damals hatten die dortigen Serben mit Unterstützung des Milosevic-Regimes und der jugoslawischen Armee zuerst mit Straßenblockaden, dann mit bewaffneten Angriffen ihre Siedlungsgebiete für etliche Jahre aus dem eben unabhängig gewordenen Kroatien herausgelöst.

Erst Ende des Vormonats wurde in Vukovar der 20. Jahrestag des Massakers an über 200 kroatischen Zivilisten begangen, die nach der Einnahme der Stadt von serbischen Soldaten und Freischärlern aus dem Krankenhaus verschleppt und auf einem nahe gelegenen Kukuruzfeld niedergemetzelt worden waren.

Doch die Geschichte wiederholt sich nicht, oder wenn, dann nur als Farce, wie schon Karl Marx feststellte. In Jagnjenica kochen die Emotionen hoch, doch am vergangenen Mittwoch zeigt sich keiner der Serben mit der Waffe. Die einzige Armee vor Ort ist die KFOR, und die unterstützt die serbischen Abspaltungsversuche nicht. Doch eine unsichtbare Regie sorgt dafür, dass – zumindest für die serbischen Medien – die gleiche Atmosphäre erzeugt wird wie damals.

Als genügend Journalisten eingetroffen sind, taucht wie aus dem Nichts ein Pope mit einem goldenen Kreuz vor der KFOR-Stellung auf. Die Fotografen gehen in Stellung, der Gottesmann geht stumm auf die Stacheldrahtrollen zu, blickt den ausländischen Soldaten in die Augen und küsst das Kreuz.
„Will der einen Zwischenfall provozieren?“, fragt ein serbischer Journalist. „Nein“, antwortet ihm ein Kollege, „der will nur Bilder provozieren.“

Jetzt rufen zwei bullige Männer mit Bürstenhaarschnitt, Jeans und schwarzer Jacke – unverkennbar Geheimpolizisten oder Agenten – die Journalisten zusammen. „Ich bin Zoran“, stellt sich der eine vor, während der andere wortlos bleibt. Die Botschaft, die Herr Zoran für diesen Tag hat, ist nicht besonders aufregend. ­Slavisa Ristic, der Bürgermeister von Zubin Potok, zu dessen Gemeinde der Weiler Jagnjenica gehört, dürfe nur mit den Worten zitiert werden, die er selbst geäußert hat. „Schreibt also nicht, was jemand gesagt hat, was er angeblich gesagt hat!“

Die Situation zeigt zwar die Züge einer Farce, ist aber dennoch brandgefährlich. Insgesamt 19 Barrikaden haben die Serben im Norden des Kosovo errichtet. Am Donnerstag bauten sie rund um die österreichisch-deutsche KFOR-Position in ­Jagnjenica neue Sperren. Die KFOR hat nicht nur das Mandat, sondern sogar die Verpflichtung, diese Behinderungen des freien Verkehrs zu beseitigen. „Rein technisch könnten wir das wegmachen“, sagen zwei österreichische Militärpolizisten bei der Begutachtung eines Erdwalls, der die Nordumfahrung von Mitrovica blockiert. „Man wird es aber nicht in jedem Fall tun“, fügen sie vorsichtig hinzu.

Dabei liegt klar auf der Hand: Geht die KFOR gegen die Barrikaden vor, drohen Angriffe von serbischen Zivilisten, unter die sich auch Bewaffnete mischen können. Jede neue Eskalation könnte einen Flächenbrand mit Verletzten und sogar Toten auslösen, was wiederum Wasser auf die Mühlen der Nationalisten in Belgrad wäre. Eine politische Lösung zeichnet sich aber auch nicht ab. Niemand solle glauben, dass Serbien wegen des Kosovo nicht mehr in den Krieg ziehen würde, tönte der serbische Innenminister Ivica Dacic von der ehemaligen Milosevic-Partei SPS bereits vier Tage vor den Zusammenstößen in ­Jagnjenica: „Serbien kann und wird nicht friedlich zusehen, wenn Serben im Kosovo angegriffen werden.“

Immerhin kann sich aber der serbische Präsident Tadic nach Monaten des Lavierens inzwischen erstmals zu einer klaren Verurteilung der „Politik der Baumstämme“ durchringen: „Die Barrikaden nützen den serbischen Interessen nicht, im Gegenteil, sie gefährden sie“, erklärte er vergangene Woche. Doch die seit Monaten mobilisierten Serben im Nordkosovo winken ab. „Soll er doch selbst herkommen und es uns ins Gesicht sagen“, sagen sie in Jagnjenica. Bürgermeister Ristic, der nur wörtlich zitiert werden will und dessen Haus im umkämpften Dorf steht, gibt störrisch zu Protokoll: „Die Barrikaden bleiben, solange sie nötig sind.“ Die Serben würden „nicht Bürger eines inexistenten Staats (Kosovo) werden, bloß damit Serbien der EU beitreten kann“.

Bis zum Ende vergangener Woche herrschte an den Straßensperren gespannte Ruhe. Entwarnung wagte aber niemand zu geben. „Die Lage ist derzeit so volatil, dass wir die Entwicklung nur ein paar Stunden im Voraus abschätzen können“, so ein hochrangiger Offizier gegenüber profil. „Es kann jederzeit wieder losgehen.“