Sexualität: Das erste Mal

Sexualität: Das erste Mal Romantik: ja. Verhütung: meistens

Jugendliche & Promis berichten über den 1. Sex

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Ich will mit Victoria von den Spice Girls ficken“, sagt Janosch. Er deutet mit den Fingern auf ein Foto der Popband im „Playboy“. „Die hat tolle Brüste.“ Titten müsse man sich erarbeiten, sagt Felix. Die bekäme man nicht so einfach in die Hand gedrückt.

Auszug aus „Crazy“, dem Debütroman des damals 18-jährigen Benjamin Lebert, der die Achterbahn der Geschlechtsreife mit der Komik der Verzweiflung zu Papier brachte. Aus der sicheren Distanz der Erinnerung betrachtet, erscheint die Pubertät meist als ein Abenteuer unter der Prämisse des hemmungslosen Individualismus. Steht man mitten drinnen, ist sie aber vor allem eines: anstrengend.

„Mich nervt zurzeit einfach alles“, seufzt Benjamin Lebert in „Crazy“. „Mädchen, Mädchen“, hatte Holden Caulfield, Weltschmerzikone aus J. D. Salingers Pubertätsklassiker „Der Fänger im Roggen“, 55 Jahre zuvor gemosert, „sie machen dich vor allem verrückt.“

Zwar ist das Frühlingserwachen nicht mehr wie in Frank Wedekinds gleichnamigem Drama von 1891 eine Zerreißprobe zwischen bürgerlichen Zwängen und explodierenden Fantasien, aber die Selbstzweifel und Versagensängste der späten Kinder an der Kippe zum Erwachsenwerden haben sich in den vergangenen Jahrzehnten wenig geändert.

Dabei spielt die Tatsache, dass Teenager heute durch Medien und Internet bereits frühzeitig mit Themen wie Penis-Implantaten, Turbo-Vibratoren oder multiplen Orgasmen belästigt werden, eine eher nebengeordnete Rolle. „Die Heranwachsenden lässt diese mediale Übersexualisierung in ihrer sexuellen Entwicklung relativ unberührt“, ist der renommierte Kinder- und Jugendpsychiater Max Friedrich (siehe Interview) überzeugt.

Wie bleibe ich cool? Im Zuge der Geschlechtsreife, die bei Mädchen mit der ersten Regelblutung und bei Buben mit dem ersten Samenerguss einsetzt, produziert der Körper schlagartig den 15-fachen Ausstoß der Sexualhormone Östrogen und Testosteron, was mental zunächst kaum zu bewältigen ist. „Volle Kraft voraus“, befiehlt die Libido, doch im Hirn herrscht vor allem die Diktatur der Selbstzweifel. Wie bleibe ich cool? Wie komme ich beim anderen Geschlecht an?, sind die Fragen, die dem hormonell aufgewühlten Jugendlichen am massivsten zusetzen.

„Die Außenwirkung ist ein großes Thema“, so die Linzer Sexualberaterin Andrea Brentano. „In ihrem Habitus sind die Jugendlichen in dieser Phase vor allem von ihrer Peer Group bestimmt.“ Pop-Sternchen wie Britney Spears, die ihre Jungfräulichkeit zur Marketingstrategie erhob, würden überdies beeinflussend wirken.

Die große Jugendstudie der ÖGF („Österreichische Gesellschaft für Familienplanung“) aus dem Jahr 2001, in der 1044 Jugendliche zwischen zehn und 19 Jahren befragt wurden, dokumentiert, dass „mit zirka 16 Jahren bereits die Hälfte aller Jugendlichen bereits Koituserfahrung hat“. Ein genauer Durchschnittswert für die sexuelle Initiation in Österreich konnte nicht berechnet werden, da, so die Projektleiter, „die Stichprobe altersmäßig auf Jugendliche beschränkt ist und junge Erwachsene ohne Koituserfahrungen nicht erfasst wurden“.

Markant ist jedoch, so Studienleiterin Bettina Weidinger, „dass der Entwicklungsunterschied bei 15 Jahren zwischen Buben und Mädchen besonders auseinander klafft.“ 41 Prozent der Mädchen geben in diesem Alter bereits koitale Erfahrungen an, während erst 30 Prozent der Buben zu diesem Zeitpunkt über ihr erstes Mal reden können. Mit 16 wendet sich das Blatt: Da hatten 53 Prozent der männlichen Jugendlichen ihr erstes Mal bereits absolviert und nur 43 Prozent der Mädchen. Weidinger: „Das Durchschnittsalter für beide Geschlechter können wir aus genannten Gründen nicht berechnen, es liegt aber jedenfalls über dem Alter von sechzehn Jahren.“

Verhütungs-Moral. Der Gynäkologe Werner Grünberger, Begründer der inzwischen bundesweit vertreteten „First Love“-Ambulanzen, kostenlosen und anonymen Beratungsstellen für Mädchen in Spitälern, erhob in seiner „First Love“-Studie 2002 „einen Durchschnittswert von 15,3 Jahren“ für Mädchen beim ersten Geschlechtsverkehr. „Ein Wert“, so Grünberger, „der sich seit zehn Jahren unserem Zahlenmaterial zufolge konstant hält.“

Die dritte weibliche Generation scheint endlich die Früchte des Feminismus zu ernten. Denn 76 Prozent der Mädchen sagten im Zuge der „First Love“-Studie aus, dass das erste Mal auf Betreiben beider Partner erfolgt sei; 13 Prozent erklärten, dass sie die Initiative ergriffen hätten; bei sieben Prozent geschah es auf Drängen des Partners. Vier Prozent gaben an, dass sie es getan hatten, um ihren Freund nicht zu verlieren.

Was die Verhütungsmoral betrifft, stellt die ÖGF-Studie der österreichischen Jugend ein gutes Zeugnis aus.
77 Prozent der Mädchen und 75 Prozent der Buben gaben an, beim ersten Mal ein Kondom verwendet zu haben; zwölf Prozent (inklusive jener, die „aufgepasst“ haben) „erinnerten sich nicht daran“, verhütet zu haben. Andere Fachleute wiederum zweifeln die Haltbarkeit dieser Aussage an.

„First Love“-Begründer Werner Grünberger erhob bei seiner Studie 2002 „überaus bedenkliche Werte. Bei 68 Prozent aller ersten Male wurde nicht verhütet!“

Auch Beate Wimmer-Puchinger, Wiener Gesundheitsbeauftragte für Frauen, teilt diese Bedenken: „Nicht umsonst befinden wir uns in der europaweiten Statistik für Teenager-Mütter an besorgniserregender achter Stelle.“

In jedem Fall liegen „romantische Sehnsucht und sexuelles Verlangen nie wieder so dicht nebeneinander wie beim ersten Mal“, schreibt die US-Anthropologin Helen Fisher in „Why We Love“.

Der Weg dorthin folgt der Dynamik des langsamen Herantastens: Blicke, Händchenhalten, ein Küsschen, ein Kuss, Necking (so der Fachterminus für das Streicheln der Oberkörper), Petting und schließlich das Debüt „für den größten Spaß, den man ohne zu lachen haben kann“, so die einschlägige Definition des US-Filmemachers Woody Allen.

Nur kann die sexuelle Jungfernfahrt, allen romantischen Prologen zum Trotz, den Erwartungshaltungen oft nicht standhalten oder gleich voll danebengehen. „Wenn das das Größte und Tollste war, was man erleben kann“, so der heute 28-jährige TV-Moderator Oliver Auspitz, „dachte ich mir nach dem ersten Mal, dann kann ich mir das in Zukunft sparen.“

Als „wirklich unromantisch“ haben auch die Kabarettistin Andrea Händler und die Kolumnistin Marga Swoboda ihre zwischengeschlechtliche Premiere empfunden.

Schmerzhaft. „Viele Mädchen erleben das erste Mal als schmerzhaft“, so Claudia Neudecker, Gynäkologin an der Rudolfsstiftung und „First Love“-Betreuerin, „und erkennen auch schnell, dass ein lustvolles Miteinander nicht von heute auf morgen entsteht.“ Dass die Mädchen auf dem Genusslevel oft das Nachsehen haben, konstatiert auch Beate Wimmer-Puchinger: „Die Buben verbuchen beim ersten Mal in der Regel einen größeren Lustgewinn. Bei den Mädchen ist alles, schon rein körperlich, viel komplizierter. Für sie ist es schon einmal viel schwieriger, ihren Körper überhaupt kennen zu lernen und herauszufinden, was ihnen gut tut.“

In der ÖGF-Umfrage gaben beide Geschlechter überwiegend an, das sexuelle Debüt „neutral-positiv“ erlebt zu haben; als „schlimm“ hatten immerhin 14 Prozent der Mädchen den ersten Akt empfunden, wogegen nur zwei Prozent der Knaben das Erlebnis baldmöglichst verdrängen wollten. Die Buben, „die Westgoten unter den Teenagern“, so die Feministin Naomi Wolf, gaben jedoch weit häufiger an, es „irrsinnig aufregend und toll empfunden zu haben“.

Diese geschlechtsspezifischen Differenzen lassen den Rückschluss zu, dass Mädchen, aller initiativen Beherztheit zum Trotz, noch immer große Hemmungen haben, ihre Wünsche und Bedürfnisse zu artikulieren. Der Orgasmus bleibt in der Anfangsphase weiblicher Sexualität in der Regel eine schöne Illusion.

Von ihrer gern (im Vorjahr sogar von Bildungsministerin Elisabeth Gehrer) beschworenen Reputation als promiskuitives Partyvölkchen, das auch das erste Mal einem gewissen Beliebigkeitsprinzip unterstellt, ist die österreichische Jugend jedenfalls weit entfernt. In der ÖGF-Umfrage vermerkte der Großteil der noch „Unschuldigen“ im geschlechtsreifen Alter, dass das erste Mal trotz Petting-Erfahrung nur deswegen noch nicht stattgefunden habe, weil das Gefühl, „die oder den Richtige(n) dafür gefunden zu haben“, sich noch nicht eingestellt hat.

Die 15-jährige Maida etwa, seit einigen Wochen in ihrer ersten Beziehung, hält „Sex für eine Nebensache“, entscheidend wäre für sie, „dass mein Freund auch Verantwortung übernehmen kann“.

Die ÖGF-Studie belegt auch, dass das erste Mal fast immer innerhalb einer länger andauernden Beziehung passiert, was in dieser Lebensphase allerdings selten viel mehr als ein paar Monate bedeutet.

In ihrem Beziehungshabitus agieren die Erwachsenen von morgen durchaus nach traditionellen Mustern. Treue, Verantwortung, Sicherheit gelten als die wichtigsten Voraussetzungen für das „Zusammensein“, wie diverse Jugend-Wertestudien der letzten Jahre belegen.

Als zentrale Aufklärungsquelle wurde in der ÖGF-Umfrage Gespräche im Freundeskreis (75 Prozent) angeführt, weit hinten abgeschlagen rangiert die Mutter (38 Prozent) an zweiter Stelle, was auch eine Konsequenz der von Alleinerzieherinnen dominierten vaterlosen Gesellschaft sein dürfte. Trotzdem, so rät der Jugendpsychiater Max Friedrich, sollten Söhne, im Falle der Abszenz des Vaters, besser „von anderen männlichen Bezugspersonen“ in sexuellen Belangen beraten und unterstützt werden. Fachleute beklagen, dass der Wissensstand der Jugendlichen in der Regel nebulos und oberflächlich sei – insbesondere, was Verhütung und Fruchtbarkeit betrifft. „Noch immer hält sich der Mythos hartnäckig, dass beim ersten Mal nichts passieren kann“, so Andrea Brentano, „was die Verhütungsdisziplin betrifft, ist noch viel Bewusstseinsarbeit zu leisten.“

Teenager-Mütter. Die Linzer Sexualberaterin und Sexualpädagogin entwickelte vor zwei Jahren gemeinsam mit einer Kollegin in Oberösterreich das Projekt „Love Tours“. Ausgangspunkt für die Initiative war die Tatsache, dass Oberösterreich, umgerechnet auf die Einwohnerzahl, die höchste Rate von Teenager-Schwangerschaften zu verzeichnen hatte. Der bisher einmalige „Love Tours“-Bus kurvt zu den Schulen und diversen Veranstaltungen, im Innenraum gibt ein Beraterteam den Teenies Anworten auf alles, was sie bisher nie zu fragen gewagt hatten.

„Nach einer oberösterreichischen Umfrage unter 1000 Jugendlichen“, erzählt Brentano zur Entstehungsgeschichte, „waren wir uns sicher, dass sie in der Zeit der Pubertät häufig nicht die richtigen Ansprechpartner finden. Mit den Eltern wollten sie ihre Sexualität längst nicht mehr besprechen; gegenüber den Lehrern empfanden sie Schamgefühle, und durch die Medien wurden sie bestenfalls mit Halbwahrheiten überflutet.“

Geschlechtsspezifisch bestätigt Brentano herrschende Klischees. Buben verlangten vor allem Beratung in technischen Fragen: „Am liebsten wäre manchen eine ganz pragmatische Dos and Don’ts-Liste.“ Mädchen wollten meist Hilfe in Gefühlsbelangen. Das schockierendste Erlebnis an prekären Informationsdefiziten hatte Brentano, als ihr ein junges Mädchen allen Ernstes erklärte, dass sie jetzt bald sterben müsse. „Ich liege oft nachts auf dem Rücken“, hatte die 14-Jährige erzählt, „auch wenn ich die Regel habe. Und meine Mutter hat mir gesagt, dass so das Blut wieder in mich zurückfließt und dass man daran stirbt.“

„Was unser Aufklärungsniveau betrifft“, seufzt auch Beate Wimmer-Puchinger, die Wiener Frauen-Gesundheitsbeauftragte, „hinken wir den Deutschen hinterher.“ Sie hofft, heuer wieder die Veranstaltung „Sicher ist sicher“, ein Diskussions- und Frageforum zum Thema Sexualität und Verhütung für hunderte Jugendliche, auf die Beine stellen zu können.

Vom nahezu unersättlichen Erklärungsbedarf der Jugendlichen profitiert die Teenie-Illustrierte „Bravo“, wo wöchentlich bei Dr. Jochen Sommer über 500 Anfragen von „Was will so eine Klitoris?“ bis zu „Wie checke ich, ob er/sie mich wirklich liebt?“ eintrudeln. Dr. Sommer ist in Wahrheit ein Pseudonym, das sich ein Psychotherpeut, der sich um seine Berufsehre Sorgen machte, 1969 ausgedacht hatte, als er von „Bravo“ für die mittlerweile legendäre Fragerubrik angeheuert wurde.

Dr. Sommer, das sind heute sechs ganztägig beschäftigte Psychologen und Pädagogen, die, so die Teamleiterin Eveline von Arx, vor allem mit „herzerweichenden Problemen“ konfrontiert werden. Denn, sexuelle Revolution hin oder her, es läuft dann doch immer auf „Liebt er/sie mich?“ oder „Warum hat er/sie mich verlassen?“ hinaus. Da hätte sich, so von Arx, „in den letzten hundert Jahren wenig geändert“.