Showbiz: Fantasie vom Fließband

Der Show-Konzern „Cirque du Soleil“ gastiert in Wien

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Mama“, brüllt der Clown Gonzales, „Mama!“ Die kleine Mexikanerin verschwindet in der Umarmung ihres Sohnes, den sie seit Monaten nicht mehr gesehen hat. Viktor, der ukrainische Jongleur mit dem Gesicht eines Tartarenkriegers, fängt den Moment der Wiedervereinigung mit seiner Digitalkamera ein. Dem Geschehen hinter den Kulissen gilt seine ganze dokumentarische Leidenschaft. Die Sopranistin Agnès wärmt ihre Stimme ungeachtet des Treibens vor der Künstlerkantine auf. Mit Riesenschritten geht sie auf und ab und stößt dabei kehlige Vogellaute aus. Drinnen im Restaurantzelt löffeln chinesische Trapezkünstler schweigend Gerichte aus der Heimat, die andere Menschen ob ihrer couragierten Würzung innerhalb von Sekunden zum Weinen brächten.

37 der 75 Artisten von „Dralion“, der gegenwärtig in Amsterdam gastierenden Produktion, stammen aus China und sind dort Mitglieder eines Armeezirkus, der vor allem die Pflicht hat, die Militärtruppen bei Kampfeslaune zu halten. Ab 3. Juni wird die neueste Show des „Cirque du Soleil“, die eine Verschmelzungsfantasie verschiedener Zirkuskulturen symbolisiert (siehe Kasten), für mehrere Wochen im Wiener Prater zu sehen sein.

Zirkussoldaten. An Verbissenheit grenzende Disziplin, die bisweilen für die Kollegen aus anderen Kulturkreisen etwas irritierend wirkt, ist das Hauptcharakteristikum der Akrobaten aus dem Reich der Mitte. „Man muss die chinesischen Künstler manchmal richtig einbremsen“, erklärt die Physiotherapeutin Denise, „selbst wenn sie Verletzungen haben, wollen sie beinhart weitertrainieren, weil sie von Kindesbeinen gelernt haben, ihre persönlichen Befindlichkeiten zu negieren. Versagen gibt es nicht.“

Der Eindruck von lauschiger Zirkusfolklore und nostalgischem Gauklerflair, der sich auf dem „Marktplatz“ der Truppe vor dem Kantinenzelt entfaltet, erschöpft sich bald.

Denn in Wahrheit ist der „Cirque du Soleil“ längst zu einer straff organisierten Entertainment-Maschinerie gewachsen, die seinen Begründer, den 44-jährigen Frankokanadier Guy Laliberté, mit Platz 514 kürzlich Eingang in die jährlich veröffentlichte Dollarmilliardärsliste des Wirtschaftsmagazins „Forbes“ finden ließ. Der Mann, der im Teenageralter mit einem Akkordeon, das er aus dem Schrank seines Vaters gestohlen hatte, in den Straßen von Montreal debütierte, hält heute 95 Prozent der Anteile der Marke „Cirque du Soleil“ und verfügt damit, laut „Forbes“, über ein Vermögen von 1,2 Milliarden Dollar, umgerechnet eine Milliarde Euro.

Zurzeit laufen weltweit neun Produktionen des vor 20 Jahren gegründeten Konzerns, der zu den ausgeleierten Zirkusklischees von Pailletten-Beaus, die ihre gegelten Häupter in Löwenrachen versenken, und Wasser spritzenden Pappnasen-Clowns, eine surreale Gegenwelt schuf. 60 Millionen Menschen weltweit sind bereits den manierierten Verführungskünsten des „Cirque du Soleil“ erlegen. Sein Erfolgsgeheimnis besteht aus artistischer Perfektion, kombiniert mit exzentrischer Ausstattungs- und Kostümorgiastik, akribischer Lichtgestaltung und sphärischer Klanguntermalung. „Hier wird eine romantische Idee mit perfektem Management vermittelt“, begründet der Wiener Freizeitforscher Peter Zellmann die Breitenwirkung des Sonnen-Imperiums, „die herkömmlichen Zirkuseinlagen haben doch bei den Konsumenten längst ausgedient. Wer will schon zum hundersten Mal einen Elefanten in Handstand-Position sehen?“

High-Tech-Seelenlosigkeit. Der ausgeklügelte Perfektionismus des „Cirque“-Prinzips lässt bei Kritikern den berechtigten Vorwurf der High-Tech-Seelenlosigkeit und des Fließband-Charismas laut werden. Der Österreicher Bernhard Paul, Gründer des legendären „Gegen“-Zirkus „Roncalli“, attestiert den monströsen Mitbewerbern „die komplette Globalisierung, also eigentlich Amerikanisierung ihres Gewerbes“: „Unter Guy Laliberté wird jeder Individualismus der Artisten weggeschminkt, während wir versuchen, ihr Charisma zu erhalten. Wenn man ‚Roncalli‘ mit dem Café Hawelka vergleicht, dann ist der ‚Cirque du Soleil‘ Starbucks. Guy Laliberté ist keiner mehr, der auf die Straße geht, um Leute zu entdecken, er wirbt fast nur noch ab.“ Mit leichtem Schaudern erinnert sich Paul an eine Begegnung mit Laliberté vor einigen Monaten auf einem Flughafen: „Da hat er mir ganz stolz mitgeteilt, dass er im letzten Jahr 200 Flughäfen erlebt hat. Ich konnte seinen Stolz nicht nachvollziehen.“

Trotz des Nimbus des antiseptischen Großkonzerns strömen jedes Wochenende 60.000 Besucher in die – im angloamerikanischen Raum blau-gelben, in Europa schneeweißen – Zelte der Gefühlsfabrik; vier fixe Spielstätten stehen in den amerikanischen Amüsierfestungen Las Vegas und Orlando. Im Entertainment-Babylon Las Vegas verdrängte der „Cirque“ mit seinem Debüt „Mystère“ 1992 die Glamour-Dompteure Siegfried und Roy vom Podest des bestbesuchten Show-Acts. „Als ich das erste Mal in diese Plastikfestung kam“, erinnert sich Franco Dragone, der italienische Regisseur von „Cirque“-Erfolgsproduktionen wie „Quidam“ und „Saltimbanco“, an seinen ersten Las-Vegas-Besuch, „habe ich geweint. Und mich gefragt: Was mache ich hier, um Himmels willen! Aber vielleicht ist der ‚Cirque‘ gerade dort so wichtig – weil er wie ein kleiner Baum in der Wüste aus Plastik und Obszönität steht.“

Sieben Millionen Fans weltweit ließen sich allein 2003 ihr circensisches Aha-Erlebnis 545 Millionen Euro kosten. Zweistellige Millionen-Dollar-Beträge lukriert das 3000 Mitarbeiter starke Unternehmen mit Firmenhauptsitz in Montreal und einer Europa-Außenstelle in Amsterdam noch zusätzlich durch Merchandising, Fernsehlizenzen und Firmensponsoring.

Bevor er zum Mastermind kapitalistischer Planwirtschaft im Geschäft mit der Fantasie wuchs, suchte Guy Laliberté die traditionellen Straßenkünste wie Jonglieren, Stelzenakrobatik und Pantomime mit Elementen des Tanzes und Theaters zu einem Bilderrausch zu verquicken. Tierdressur fand in seinem Konzept nicht statt, „denn Löwen und Elefanten gehören in den Dschungel“, so Laliberté, „es ist obszön, diese bedauernswerten Kreaturen ihrem eigentlichen Lebensumfeld zu entreißen“. Nachdem die Stadt Quebec 1984 die Verwirklichung der Utopie finanziell unterstützt hatte, kam wenig später der erste Dämpfer. 1987 schrammte die Truppe knapp am Bankrott vorbei. Mit den letzten Finanzreserven mobilisierte Guy Laliberté, der in Europa die Kunst des Feuerschluckens erlernt und während seiner Lehrzeit nachts oft auf Parkbänken geschlafen hatte, seine Crew für die Eröffnungsshow eines Künstlerfestivals in Los Angeles. „Wir setzten alles auf diese eine Karte“, erinnert sich der dreifache Vater, „wäre es schief gelaufen, hätten wir nicht das Geld für die Rückreise besessen.“

Das Konzept griff jedoch, und Hollywood leckte Blut. Dawn Steel, damalige Chefin von Columbia Pictures, wollte die schillernde Artistenrevue sofort zum Film machen. Bei einer Party, auf der der Deal verkündet werden sollte, fühlte sich der „Cirque du Soleil“-Begründer jedoch so schlecht behandelt, „dass ich sofort meinen Anwalt anrief und das Projekt platzen lieߓ. Wie sich eine Milliarde Euro später herausstellte, eine weise Entscheidung.

Auf seine Mitarbeiter dürfte Guy Laliberté, der plant, die „Cirque“-Ästhetik demnächst auf Wellness-Zentren, Nachtclubs und Restaurants zu übertragen, die Magie eines Gurus ausüben. Mit wem immer man sich auch auf dem Gelände nahe dem Amsterdamer Fußballstadion unterhält, er vermittelt den Eindruck, enthusiastisches Mitglied einer religiösen Sekte zu sein. Der Journalist wird mit Salven von Superlativ-Schablonen wie „Oh, Guy is just the greatest“ oder „I cannot wait to see him again“ beschossen; angereiste PR-Damen von anderen „Cirque“-Produktionen zwitschern aufgeregt über die fantastische Einzigartigkeit der „Dralion“-Show; ehemalige Artisten, denen durch das neue Sozialprogramm eine Zweitkarriere als Coach oder Verwaltungsorganisator ermöglicht wurde, schwärmen über das Glücksgefühl, „noch immer Teil der Familie sein zu dürfen“. Selbst die Merchandising-Verkäufer, die im – einem esoterischen Supermarkt gleichenden – Vorzelt zugange sind, wirken wie batteriebetriebene Engel. „I hope you liked the show“, surren sie einem zu, „you look happy.“

Sektenartiger Kult. „Die Institution des „Cirque du Soleil“, schrieb das kanadische Magazin „Columbus Alive“, „ruft bei seinen Jüngern die gleiche kultische Unterwürfigkeit hervor, die den Mitgliedern der „Church of Scientology“ anhaftet, nur ist es nicht ganz so teuer, die verschiedenen Bewusstseinsstufen zu erklimmen.“

Guy Lalibertés Verbindung zu der von Ron Hubbard begründeten Bewusstseinsindustrie kursiert seit Jahren in Gerüchteform, offizielle Bestätigungen dazu existieren keine. Auf alle Fälle ist Tom Cruise, ein glühendes Scientology-Mitglied, mit seinen beiden Adoptivkindern regelmäßiger Premierenbesucher des „Cirque“.

Eineinhalb Stunden bis zur Nachmittagsvorstellung im Amsterdamer „Chapiteau“. In der Kostümwerkstätte, in der 3000 knallfarbige Outfits baumeln, stichelt die Schneiderin am Pelzhinterteil eines „Dralions“, eines Plüschbastards aus Drachen und Löwen, dem die Show ihren Namen zu verdanken hat. Im Vorzelt balanciert die elfjährige Chinesin Du Xue mit einer Hand auf einer Säule. „Mit 14 wird sie sich dann was anderes überlegen müssen“, erklärt die Pressebetreuerin, „dann ändert sich der Gleichgewichtssinn.“

Clown Colin seufzt, als er sie beobachtet: „Das Leben ist grausam.“ Nach drei Jahren „Dralion“ wird Wien die letzte Station des Amerikaners: „Irgendwann reicht es einem, nur mehr einen diffusen Begriff von Zuhause zu haben. Als Mitglied eines so riesigen Unternehmens muss man wirklich lernen, Einsamkeit zu ertragen.“