Skisport: Zwei Mi-nuten für die Ewigkeit

Skisport: Zwei Minuten für die Ewigkeit

Abfahrts-Gold zählt mehr als jeder andere Sieg

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Die Strecke trägt den klangvollen Namen „Kandahar Banchetta“, ist 3299 Meter lang und ziemlich kurvig. Zwischen dem Start auf 2800 Meter Seehöhe und dem Ziel auf 1886 Metern gibt es ingesamt sieben Sprünge; der weiteste dürfte über 80 Meter weit gehen. An ihrer steilsten Stelle hat die Strecke ein Gefälle von 55 Prozent.

Am kommenden Sonntag wird ein verwegener junger Mann auf der Kandahar Banchetta Geschichte schreiben. Er wird ungefähr zwei Minuten lang zu Tal rasen, in perfekter Hocke die Gleitpassagen meistern, alle Kurven auf der Ideallinie bewältigen und Bestzeit fahren. Und falls es auf der Welt noch so etwas wie Gerechtigkeit gibt, wird dieser Prachtkerl ein Österreicher sein.

Es gibt ja leider nicht viele Sportarten, in denen sich die Österreicher zur Weltspitze zählen dürfen. In den meisten anderen Ländern wird besser Fußball gespielt, schneller gesprintet und erfolgreicher Rad gefahren. Der Skirennsport muss all diese Mankos ausgleichen und den Österreichern wenigstens im Winter das Gefühl vermitteln, eine sportliche Großmacht zu sein. Allerdings zählt auch beim Skifahren nicht jeder Sieg gleich viel. Ein erster Platz im Slalom bringt höflichen Applaus ein, die Leidenschaft des Fans erwacht aber erst, wenn deutlich weniger Tore im Weg stehen – beim Abfahrtslauf. Der Herren, wohlgemerkt.

Sympathiebonus. Jeder Triumph im Geradeausfahren zählt für die Österreicher doppelt. Gelingt einem Landsmann dieser Erfolg noch dazu bei Olympia, genießt er in der heimischen Hall of Fame sozusagen Mieterschutz. Als Abfahrts-Olympiasieger muss man sich schon sehr dumm anstellen, um den einmal erworbenen Sympathiebonus wieder einzubüßen. Von den sechs bisherigen Goldmedaillengewinnern ist dies nur Patrick Ortlieb gelungen. Aber er hatte die Unterstützung der FPÖ.

Wenn sich am kommenden Sonntag um zwölf Uhr der erste Läufer in Sestriere aus dem Starthaus auf die Olympiapiste wuchtet, wird die Nation fast vollzählig vor den Fernsehgeräten sitzen und mitfiebern. Wenigstens einmal alle vier Jahre registrieren die Quotenrechner im ORF somit Werte wie in den guten alten Zeiten des TV-Monopols: Vor vier Jahren, bei den Olympischen Spielen in Salt Lake City, schauten über 2,4 Millionen Österreicher zu. Das entsprach einem nationalen Marktanteil von 71 Prozent.

Gewonnen hat damals der Kärntner Fritz Strobl. Allseits war zwar erwartet worden, dass der Seriensieger des Winters 2002, Stephan Eberharter, seine erste Goldmedaille holen würde. Aber Strobl war nur die Ausnahme, die eine Grundregel bestätigte: „Die Abfahrt gehört immer noch Österreich“, schrieb die „New York Times“ damals.

Dass die skifahrerisch keineswegs anspruchsvollste Disziplin den Österreichern so sehr am Herzen liegt, hält ÖSV-Präsident Peter Schröcksnadel für ganz logisch: „Die Abfahrt ist halt spektakulär, einfach zu verstehen und gefährlich. Man hat hohe Geschwindigkeiten, Sprünge, Stürze.“ Als Skiverbandschef muss er nun mal sein Spitzenprodukt loben. Objektiv betrachtet, sind Abfahrtsrennen in den vergangenen Jahrzehnten immer langweiliger geworden. Skier und Piste sind mittlerweile so perfekt, dass die Läufer oft minutenlang unterwegs sind wie Hubert Gorbach auf der Autobahn. Die Geschwindigkeiten sind natürlich höher geworden. Aber weder live noch im Fernsehen ist der Unterschied zwischen Tempo 120 und 140 mit freiem Auge erkennbar. Kaum ein Sieger kann sich heute über mehr als höchstens ein, zwei Zehntelsekunden Vorsprung freuen. Würde die Stoppuhr nicht mitlaufen und Robert Seeger bei guten Zwischenzeiten nicht Herzanfälle simulieren, das Publikum könnte zwischen den ersten 30 Startern kaum einen Qualitätsunterschied erkennen.

„Wir haben verloren.“ Für eine skibegeisterte und -kundige Nation wie Österreich böte der Torlauf viel mehr Möglichkeiten zum Fachsimpeln. Aber der Stangenwald taugt nun mal nicht zur nationalen Identitätsstiftung. Bei den Olympischen Spielen 1994 in Lillehammer etwa gewann Thomas Stangassinger Gold im Slalom. Doch das half weder dem ÖSV-Team noch dem Publikum aus der tiefen Depression: „Wir haben eine Abfahrtsmedaille verpasst. Wir haben als ganze Mannschaft verloren. Wir sind sehr enttäuscht“, jammerte Werner Margreiter, damals Herren-Cheftrainer.

Die Geschichte österreichischer Olympia-Abfahrtstriumphe begann 1956 in Cortina d’Ampezzo. Toni Sailer war der Glückliche, der nebenbei auch noch Riesentorlauf und Slalom für sich entschied. Acht Jahre später kürte sich Egon Zimmermann in Innsbruck zum Tempobolzer der Nation. Doch dann begann eine zwölfjährige Durststrecke, die erst am 5. Februar 1976, wiederum in Innsbruck, endete. Der Name des Erlösers: Franz Klammer.

Bestzeit. Seine 105 Sekunden und 73 Hundertstel auf der Patscherkofelpiste gehören heute ebenso zum kollektiven Gedächtnis der Österreicher wie Leopold Figls Auftritt auf dem Balkon des Belvedere 1955. Im quietschgelben Rennanzug donnerte Klammer mit Startnummer 15 über eine schon heftig ramponierte Piste. Mehrfach drohte Klammer zu verunfallen, doch am Schluss reichte es für die Bestzeit mit 33 Hundertstel Vorsprung auf den Schweizer Bernhard Russi.

Sein ganzes Leben sei auf diesem Olympiasieg aufgebaut, sagte Klammer später. „Ohne die Goldmedaille würde es mich in der Form nicht geben und meine ganzen Geschäfte auch nicht.“

Franz Klammer entsprach dem österreichischen Ideal einer Skikanone geradezu prototypisch. Er konnte nur schussfahren, wollte nur schussfahren, ist so gut wie ausschließlich schussgefahren. Musste er einen Sieg erklären, gab er schöne Sätze wie diesen zu Protokoll: „Heit hots mi wieda von obn bis untn obegebeitelt.“

Vielleicht braucht ein kleines, vielfach belächeltes, jedenfalls nicht sonderlich ernst genommenes Land die Bestätigung, wenigstens in einer Branche richtige Haudegen zu produzieren. Für Feingeistiges ist ohnehin die Kulturtradition zuständig, im Sport soll es möglichst geradlinig, unverschnörkelt und löwenmutig zur Sache gehen. Ein Indiz in diese Richtung liefert das Buch „Die goldenen 6“*), das sich den österreichischen Abfahrts-Olympiasiegern widmet. Die Skistars werden darin mit lauter Attributen geschmückt, die dem Rest der Welt ansonsten nicht sofort zum Stichwort Österreicher einfallen: „Männer aus Stahl, Helden ohne Nerven, Beherrscher der Pisten, ruhmreiche Akteure.“

Der größte Konkurrent Österreichs auf der Streif und am Lauberhorn war übrigens viele Jahre lang die Schweiz – bekanntlich auch ein kleines Land, über das viel Despektierliches erzählt wird. Leider kam der Nachschub an furchtlosen Naturburschen zuletzt etwas ins Stocken.

Zu großer Druck. Es ist wohl kein Zufall, dass außer Franz Klammer kein einziger österreichischer Favorit je die Olympiaabfahrt gewinnen konnte. Der öffentliche Druck war den meisten einfach zu groß. Auf Klammer folgten Leonhard Stock (1980 in Lake Placid) und Patrick Ortlieb (1992 in Albertville), die vorher kein Rennen gewonnen hatten. In der Heimat war man trotzdem entzückt. Die „Presse“ geriet über den nicht sonderlich charismatischen Ortlieb ins Schwärmen: „Ein Lackel von einem Kerl, der Muskeln und Hirn hat. Maturant und BWL-Student.“ Vor allem das kosmopolitische Umfeld des Olympiasiegers verblüffte den Redakteur: „Zu Hause spricht man – hochdeutsch!“

Ein Scheitern bei Olympia wird gemeinhin nicht leicht entschuldigt – es sei denn, der Held hat gute Gründe: Karl Schranz etwa, Erfinder der gymnastisch anspruchsvollen Schranz-Hocke, ist zum Idol geworden, gerade weil er keine Olympiamedaille gewonnen hat. Kurz vor den Spielen 1972 in Sapporo hatte der Rennläufer bei einem Hobby-Fußballspiel ein Shirt mit der Aufschrift „Aroma Kaffee“ getragen. Avery Brundage, damals Präsident des Internationalen Olympischen Komitees, schloss Schranz deshalb von den Spielen aus. Der Delinquent sei kein Amateursportler, lautete die Begründung.

Schranz musste das olympische Dorf verlassen und wieder heimfahren. Seine Siegesfeier bekam er trotzdem. Es war die prächtigste, die für einen Sportler je veranstaltet wurde. Hunderttausende Menschen säumten die Ringstraße, als Schranz im offenen Mercedes vorgefahren wurde. Niemals wieder sollte keine Medaille so viel wert sein.

Dass ein schwarzer Tag bei Olympia auch sein Gutes haben kann, bewies zuletzt Hermann Maier. Der Salzburger hat in seiner Karriere alles gewonnen, was zu gewinnen ist; nur die Abfahrts-Goldmedaille fehlt ihm noch. Schon vor acht Jahren hätte es in Nagano so weit sein können – doch Maier stürzte schwer. In einer Rechtskurve hob er ab und überschlug sich mehrfach. Gleich danach stand er auf und beutelte verärgert den Schnee vom Rennanzug. Der „Kurier“ war tief beeindruckt von Maiers Flugphase: „Er fährt nicht nur anders, er fliegt auch anders. Schneller, höher, weiter.“

Von Rosemarie Schwaiger
Mitarbeit: Sebastian Hofer