Martin Kostrevc braucht nicht mehr lange zu suchen. Er hat schon einen Blick entwickelt für die sanften Vertiefungen, in denen sie liegen. Kostrevc, 74, biegt vom Wanderweg in den Wald ab. Still ist es am Pohorje, dem Hausberg von Maribor in Slowenien.
Fünfzig Meter vielleicht, dann bleibt der alte Mann vor einer kaum sichtbaren Kuhle stehen. Schwalbenwurz-Enzian wächst dort in blauen Dolden, Heidelbeerbüsche bedecken den Boden. Kostrevc zieht einen Plastikhandschuh aus der Hosentasche, streift ihn über, bückt sich und hebt behutsam einen Stein auf.
Darunter liegt ein menschlicher Schädel, grau verwittert, mit moosgrünen Flecken.
Am Wanderweg spazieren kleine Gruppen von Ausflüglern bergwärts, sie haben Blumen gepflückt. Ein paar Minuten noch, dann werden sie oben am Plateau angekommen sein, wo das Sporthotel Areh, ein Ausflugsgasthaus und eine Wallfahrtskirche stehen. Über eine Skipiste öffnet sich der Blick auf Maribor hinunter. Zwischen den Bäumen verlaufen im Sommer Nordic-Walking-Routen, im Winter Langlaufloipen. Der Tourismusverband wirbt mit dem Slogan: Ein Ziel, tausend Freuden. Und: Pohorje. Für einen bunten Tag!
Wer hier unterwegs ist, geht buchstäblich über Leichen.
Manchmal zerren Wildtiere Knochen aus der Erde und lassen sie liegen: Es sind die Überreste von Opfern der jugoslawischen Armee, erschossen unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, in den Wäldern rund um Maribor verscharrt Angehörige der deutschen Volksgruppe und Jugoslawen, die mit den Nazis kollaboriert hatten. Kämpfer der Slovenski Domobranci, der kroatischen Ustascha-Faschisten und der serbischen Tschetniks (siehe Kasten Seite 87) ebenso wie Zivilisten. Auch Behinderte wurden nicht verschont: In den Gräbern hat man auch schon Beinprothesen und Krücken gefunden.
Zehntausende müssen es sein, gezählt hat sie bislang niemand.
Denn weit über den Tod des jugoslawischen Staatschefs Tito im Jahr 1980 hinaus war es verpönt, über die Massaker zu sprechen, die in den Monaten nach der Kapitulation des Deutschen Reiches Anfang Mai 1945 verübt wurden, als verbrecherische Vergeltung für die Verbrechen der Nationalsozialisten. Die Toten: Das waren so genannte Volksfeinde, die Erzählung über ihre Ermordung blieb dies- und jenseits der Grenze den deutschen, österreichischen und slowenischen Nationalisten vorbehalten, die wiederum die Gräueltaten des Dritten Reiches ausklammerten am Balkan wüteten die deutschen Truppen bekanntlich besonders grausam.
Gräber. Erst jetzt beginnt sich das zaghaft zu ändern. Martin Kostrevc hat im Raum Maribor mit einer kleinen Bürgerinitiative dafür gesorgt, dass in den vergangenen Jahren mehr als ein Dutzend Massengräber entdeckt wurden und damit Druck auf die Behörden gemacht. Eine Regierungskommission für verheimlichte Massengräber kümmert sich um die längst überfällige Aufarbeitung der Hinrichtungen. Das Gremium besteht zwar gerade einmal aus fünf Mitgliedern, hat inzwischen aber nicht weniger als 540 Tatorte ausfindig gemacht darunter einen ehemaligen Panzergraben, in dem bis zu 15.000 Tote vermutet werden. Damit wäre dieses Grab das größte in Europa, sagt der Historiker Mitja Ferenc, Mitglied der Kommission (siehe Interview rechts). Ende dieser Woche will das Mitte-rechts-Kabinett von Regierungschef Janez Jans a die weitere Vorgangsweise für Exhumierungen festlegen.
Dann sind mehr als 60 Jahre vergangen, seit die Opfer zu ihren Gräbern gekarrt wurden.
Es ist Frühsommer 1945 in Slowenien, das Nazi-Regime bricht zusammen, die Jugoslawen unter dem Kommando von Marschall Josip Broz Tito rücken immer weiter nach Norden vor, die deutschen Truppen ziehen sich zurück. Vorerst leisten slowenische und kroatische Nationalisten erbittert, aber erfolglos Widerstand. Anfang Mai setzt ein gewaltiger Flüchtlingsstrom Richtung Steiermark ein: Zivilisten wollen den kommunistischen Paramilitärs und Soldaten ebenso entkommen wie Angehörige faschistischer Milizen und fast die gesamte reguläre kroatische Armee.
Allesamt wollen sie sich zu den Alliierten retten: In Kärnten und der Steiermark stehen britische Truppen. Dort, hoffen die Flüchtlinge, besteht zumindest eine gewisse Überlebenschance. Bei den Tito-Truppen hingegen wartet der sichere Tod.
Wie sich wenig später herausstellt, ist diese Befürchtung völlig berechtigt. Die Hoffnung auf die Briten hingegen nicht. Sie wollen und können nichts mit den rund 100.000 faschistischen Waffenbrüdern anfangen, die sich als Kriegsgefangene zu ergeben versuchen. Das Kommando der 6. Britischen Armeedivision gibt Befehl, sie auszuliefern: Alle jugoslawischen Staatsangehörigen, die sich gegenwärtig im Bereich des Korps befinden, werden so schnell wie möglich Titos Truppen übergeben. Ab Mitte Mai rollen täglich Züge, die mit Domobranci, Ustaschi und Tschetniks voll gestopft sind, Richtung Süden über die Grenze, wo sie sofort von den Partisanen übernommen werden.
Gleichzeitig beginnen Angehörige der deutschen Volksgruppe in der irrigen Meinung, sie hätten sich nichts zuschulden kommen lassen, nach Slowenien zurückzukehren.
Franz Vodan kann sich nicht mehr an ein genaues Datum erinnern. Es ist aber jedenfalls ein Sommertag im Mai oder Juni 1945, als der Lastwagen vor seinem am Pohorje-Gebirge gelegenen Elternhaus mit einer Panne zusammenbricht. Der elfjährige Franz sieht, wie Menschen, mit Draht jeweils zu dritt aneinandergefesselt, von jugoslawischen Soldaten von der Ladefläche auf einen anderen Wagen geprügelt werden: Männer, Frauen, sogar Kinder. Dann geht es weiter zum Pohorje-Plateau.
Drei Tage und drei Nächte sind die Autos auf und ab gefahren, erinnert sich Vodan. Und von oben hat man die Maschinengewehre gehört. Meine Mutter sagte: Das sind die Partisanen. Sie machen Manöver.
Seit die Bürgerinitiative von Martin Kostrevc und die Regierungskommission nach Hinweisen auf die Massaker suchen, haben sie alleine am Pohorje 15 Massengräber entdeckt. Weitere Verdachtsstellen sind bislang noch nicht offiziell registriert. Zum Beispiel jene Mulde nahe dem Wanderweg, wo der menschliche Schädel unter einem Stein liegt.
Am Pohorje wurden bis Anfang 1946 Menschen ermordet, resümiert Joze Dezman, Leiter der Regierungskommission. Der Großteil der Opfer dürfte der deutschen Minderheit angehören, aber auch sehr viele Jugoslawen waren darunter. Die Exekutionen seien aber nicht nur Vergeltungsmaßnahmen gewesen, ist Dezman sicher: Das Hauptziel der Revolution war eine Änderung der Besitzverhältnisse. Deshalb war es für das System logisch, Klassenfeinde als Verräter und Kollaborateure hinzurichten, um dann ihren Besitz zu konfiszieren.
Bereits während des Krieges hat Titos Geheimdienst Ozna (Abteilung für Volksschutz) schwarze Listen angelegt. Nach der Kapitulation Deutschlands werden sie abgearbeitet.
Im Jahr 1995 schilderte Zdenko Zavadlav, ehemals hoher Ozna-Offizier, vor einer Kommission des slowenischen Parlaments den Ablauf derartiger Liquidierungen. Zavadlav hatte bei den Erschießungen am Pohorje selbst teilgenommen. Seinen Aussagen zufolge wurden die Opfer, die bereits interniert waren, von der Ozna ausgewählt und abgeholt.
Lager. Etwa aus dem Lager Strnisce (Sterntal) bei Ptuj (Pettau): Dort, erinnert sich Ilse Janosek (84, Name geändert), war auch ihr Vater inhaftiert. Die Bedingungen für die Deutschen waren unmenschlich, sagt die Frau, die heute in Graz lebt. Was sie nicht sagt: Das Lager war ursprünglich von den Nazis eingerichtet worden. So genannte Schutzangehörige also politisch Belastete, rassisch Minderwertige und Asoziale mussten darin Zwangsarbeit leisten. Nach dem Krieg wurde Strnisce von den Kommunisten weitergeführt. Dort verliert sich die Spur von Janoseks Vater. Sie glaubt, dass er am Pohorje als Deutscher erschossen wurde.
Stefan Karner, Professor an der Uni Graz und Leiter des Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgenforschung, vermutete, dass im ersten Jahr nach dem Kriegsende über 10.000 Slowenen und an die 100.000 Nichtslowenen getötet wurden: königstreue serbische Tschetniks, Ustaschi aus Kroatien, die mit Hitler im Bunde standen, Deutsche, die seit Jahrhunderten hier lebten.
Die Hinrichtungen selbst führen Angehörige des Korps der nationalen Verteidigung Jugoslawiens (Knoj) durch. Sie heben Gräber aus oder sprengen einfach Löcher in den Waldboden. Dann werden die Delinquenten mit MGs niedergemäht.
Nicht nur am Pohorje. In Tezno, einem südlichen Stadtteil von Maribor, verläuft am Ende des Krieges jener Panzergraben, in dem nun 15.000 Tote vermutet werden. Ilse Janosek Ich verbitte mir die Bezeichnungen Maribor und Tezno. Es heißt immer noch Marburg und Thesen weiß genau, wie er entstanden ist. Immerhin musste sie, obwohl selbst Deutsche, der Wehrmacht dabei helfen, ihn auszuschaufeln: Das war ein Befehl, und bei Befehlen hatte man damals nichts zu fragen.
Nach dem Krieg, ihr Vater sitzt schon im Lager, beobachtet sie, wie Kolonnen von kleinen Sanitätsautos nach Tezno fahren. Wochenlang werden Menschen, in diesem Fall ehemalige faschistische Milizionäre, zum Panzergraben direkt an der Stadtgrenze von Maribor gebracht. Tezno war einer der ersten Schauplätze des Massenmordes, sagt Joze Dezman. Später hat man die Exekutionen in abgelegene Gegenden verlegt, um weniger Aufsehen zu erregen. Zum Beispiel ins Pohorje-Gebirge. Wallfahrer, die am 13. Juni 1945 zur Heinrich-Kirche auf dem Plateau pilgern, können den Verwesungsgeruch, der aus dem Wald steigt, kaum ertragen. Aus dem Boden ragten Hände und Füße, überall, sagt Mihaela Vodan, damals als Elfjährige mit ihren Eltern unterwegs.
Jetzt steht sie wieder dort oben, die Luft ist frisch, und sie kann endlich darüber sprechen bis zur Unabhängigkeit Sloweniens ein Ding der Unmöglichkeit, und auch später schwierig. Die Verbrechen unter Tito waren lange Zeit ein Tabu, sagt Joze Dezman. Dieses Tabu ist nun gefallen. Die Autoritäten stehen nicht mehr aufseiten der Täter, sondern der Opfer. Und das war lange anders.
Da ist zum Beispiel Mitja Ribicic, der nach dem Krieg zum jugoslawischen Regierungschef aufstieg. Er soll als Ozna-Geheimdienstler 1945 an der Ermordung von mehr als 217 Menschen beteiligt gewesen sein. Erst 2006 wurde ein Verfahren gegen ihn eröffnet, zu einer Anklage kam es nicht. Ribicics Sohn Ciril ist Richter am slowenischen Höchstgericht.
Die slowenische Gesellschaft ist geteilt, es steht wohl 50 zu 50 für und gegen eine offene Aufarbeitung des Themas, analysiert Joze Dezman. Aber wir nähern uns langsam der internationalen Haltung zum Kommunismus. Und diejenigen, die dieses Großverbrechen zu verantworten haben, müssen jetzt überlegen, wie man sich für die Massaker entschuldigen kann.
Sie zu leugnen ist inzwischen nämlich sinnlos geworden. Rund um Maribor stellen Martin Kostrevc und seine Helfer schlichte Holzkreuze an jedem offiziell bestätigten Massengrab auf. Am Pohorje schimmert ihr helles Holz zwischen den Bäumen auf die Wanderwege hinaus.
Und es werden immer mehr.
Von Nicole Bojar und Martin Staudinger, Maribor
Mitarbeit: Gunther Müller