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Sommerspiele

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Im Sommer ergreift uns was Philosophisches. Fast alle großen Denker, die wir in der Schule lernten, haben wir zwar vergessen, aber wir wissen noch ziemlich gut, dass sie dauernd in der Sonne spazieren gingen und grübelten. Alexander eroberte die Welt, weil ihm Aristoteles das peripatetische Denken beibrachte. Also fahre ich noch vor der Sommersonnenwende im Juni zu meinem Freund Ernst Hilger auf die Insel Krk, bringe ihm zwölf Flaschen vom Mode-Winzerpaar Pichler-Krutzler mit, weil der kroatische Wein so fremdelt. Wir nehmen vier dieser Flaschen, ein jeder eine Flasche pro Hand, und gehen damit spazieren, mit dem linken Fuß auf den heißen Kieselsteinen, mit dem rechten im kalten Meer, um im Durchschnitt ein lauwarmes Gefühl zu kriegen, das fürs Denken gerade richtig ist. Wir machen dann auf wichtig und fragen „Wo komm ich her?“ und „Wo geh ich hin?“ Gleich fühlen wir uns weißbärtig und hellenistisch und trinken ein bissl was, aber das geht nur fünf Minuten so, weil die Antwort, die wir auf die großen Fragen finden, Jahr für Jahr die gleiche ist: „Keine Ahnung.“ Das wirft uns zurück, aber nicht sehr. In der Sonne fehlt einfach die Kraft, melancholisch zu werden.

Im Sommer muss man aber denken, wenn schon nicht philosophieren, weil man das restliche Jahr hindurch vor lauter Stress zu nix kommt. Und heuer ganz besonders, weil Euro-Fußball und China-Olympics drohen. Daher denken Ernst und ich weiter, aber auf sicherem Terrain. Wir grasen die saftigen Wiesen der Kunstliteratur ab. Darin sind wir echt gut, ich allerdings ein wenig besser, weil Ernst wirklich was von Kunst versteht und daher nicht so viele Sager und Anekdoten kennen muss wie ich. Das heißt aber nicht, dass er nicht manchmal bei unserem Lieblingsspiel siegt. Das Spiel heißt „Kunst-Zitate an den Kopf werfen“. Wer gewinnt, darf aus den zwei Flaschen des anderen trinken. An einem der seltenen Tage, da Hilger in Höchstform war (nur mittelmäßige Menschen sind ständig in Höchstform, das kann dir jeder Statistiker und Bundeskanzler beweisen), trank er vier Flaschen, derweil ich dehydrierte. Weil der Geist an diesem Tag so ungleich verteilt war, hätten wir beinahe gestritten. Herr Ernst beharrte darauf, dass sein Tucholsky-Wort „Kunst ist Überschuss“ definitiv weniger schwachsinnig sei als mein Oscar-Wilde-Wort „Kunst ist wundervoll unfruchtbar“. Ich gab ihm Recht, wandte aber ein, dass er beim Reden schon lalle.

Doch zurück zum Spiel, das ich aus gegebenem Anlass als Alternative für internationale Sport-Events empfehle. Den Wettstreit „Kunstzitatwerfen“ kann man prinzipiell mit allen Mitbürgern üben, nur Frauen auf der Suche nach einem hohen arbeitslosen Einkommen sollte man besser meiden („Kunst mi ned heiraten?“). Lehrreich ist das Spiel vor allem, wenn man echte Auskenner als Gegner hat, neben dem Hilger-Ernst etwa den Peter Noever, den Klaus Albrecht Schröder oder die Agnes Husslein, die immer gewinnt, weshalb ich sie grantig nur noch Nessi-Tant’ nenne. Weil das dauernde Verlieren auch dem Friedlichsten kein Vergnügen ist, wähle ich nun lieber Freunde, die auf leichtfertigere Art der Kunst angehören als simple Ausübende, also Künstler.

Da zeigt sich zum größten Entzücken, dass die Zitatewahl stark von individuellen Leidenschaften abhängt. Tobias Moretti beispielsweise, der noch lieber ein hoher Bergbauernfunktionär als ein Oscar-Preisträger wäre, schätzt Kunst als „luftigen Tanz auf den brennenden Gipfeln der Leidenschaft“, eine Formulierung von Filippo Tommaso Marinetti, der wichtige Beiträge zum italienischen Futurismus schrieb. Heinz Marecek, einer noblen, versunkenen Briten-Lässigkeit verpflichtet, mag Francis Bacons Imperativ: „You have to separate shit from dirt.“ Wolfgang Böck, einerseits der beste TV-Kommissar ever, anderseits ein heimlich-ätherischer Lyriker, schwankt zwischen „Die Kunst ist nichts für Feiglinge“ (HAP Grieshaber) und „Kunst ist Eroberung der Gefühle“ (André Breton). Thaddäus Podgorski, in seiner Liebe zum Stift Admont dem Klerikalen nicht gänzlich entwöhnt, schätzt Max Bills „Kunst ist Klarheit, nicht mystisches Mönchslatein“. Willi Resetarits, für fünf Minuten pro Tag noch immer ein Linksradikaler, sagte gern „Bei uns ist die echte Kunst revolutionär, weil sie nur im Gegensatz zur gültigen Allgemeinheit existiert“, ehe er dahinter kam, dass der Satz von Richard Wagner stammt, mit dem er nicht viel am Hut hat. Seither wählt er lieber „Kunst ist Revolte“ (Tinguely) oder „Kunst ist Aufruhr“ von Picasso.

Theoretisch steht das Kunstzitatwerfen auch Managern, Unternehmern und Politikern frei. In der Praxis nicht. Sie beteuern unentwegt, die Kunst sei ihnen zwar wichtiger als Umsatz, Gewinn und Nationalratssessel, nur müsse sie warten bis in den Ruhestand. So hört man von ihnen, sofern sie nicht Essl oder Liaunig heißen oder Kulturminister sind, oft nur kindlich-hanebüchene Sätze wie „Kunst kommt von Können“, die schlimmer als Schweigen sind. Das ist schade, denn viele Kunst-Definitionen haben mit Wettstreit, Kampf, Macht, Intrige, oft auch mit pragmatischer, desillusionierter Skepsis zu tun. Ben Votier, Frankreich 1934: „Kunst ist eine Frage des Datums und der Signatur.“

Zurück in die Gegenwart. Insel Krk. Herr Hilger und ich kehren von einem langen Spaziergang heim, mit leeren Händen. Eine Eingebung stoppt meinen Lauf: „Ernsti-Schatzi“, sage ich, „ich habe nun den Satz gefunden, der alles einschließt und alles sagt: Wenn wir Kunst von hinten her als Tsnuk lesen, ändert sich gar nichts.“ Er nickt ergriffen. Erleuchtungen adeln den Sommer, nicht Euro-Fußball und China-Olympics.