Songwriter Nick Cave schlägt neue Haken

Nick Cave: "Ich bin zornig auf die Religion“

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Was ihr Festhalten am romantischen Ideal des von Erkenntnis unverdorbenen jugendlichen Genies betrifft, gibt es kaum einen anachronistischeren Traditionsverein als die Popkultur. Suchte man Gegenbeweise zum Klischee, so fände man wiederum kaum einen durchschlagenderen als Nick Cave. Die Lebenskerze des heute 51-jährigen Australiers brannte lange an beiden Enden, ehe er sich vor einem knappen Jahrzehnt konsequent von Alkohol und Heroin abwandte und ein neues Leben als solider Familienvater begann. Seine rasende Produktivität konnte sich Cave dennoch erhalten – von der Zeit als Sänger der Punk-Pioniere The Birthday Party über den infernalischen Blues der Achtziger bis zu seiner gegenwärtigen Karriere als preisgekrönter Song­writer und Buchautor.
Diese Woche veröffentlicht Cave mit seiner Stammband The Bad Seeds das 14. gemeinsame Album: „Dig Lazarus Dig!!!“. Es sei „schon ein Wunder, dass wir nicht Jahr für Jahr denselben Scheiß herausbringen“, meint Cave mit selbstironisch hochgezogenen Augenbrauen, die so rabenschwarz gefärbt sind wie sein Schnauzer und sein über die schütteren Stellen strähnig in den Nacken frisiertes Haar.

Es wäre ein Leichtes gewesen, eine Fortsetzung zum 2004 als Doppel-CD erschienenen Reifewerk „Abattoir Blues/The Lyre of Orpheus“ nachzulegen, sagt Cave. Stattdessen verbrachte er die verlängerte Zwischenphase bis zum neuen Album unter anderem mit Drehbuch, Soundtrack und einer Schauspielrolle im Outback-Western „The Proposition“, mit der Musik zum Brad-Pitt-Film „The Assassination of Jesse James by the Coward Robert Ford“ und nicht zuletzt mit dem letztjährigen „Grinderman“-Projekt. Diese aus einer vierköpfigen Splittergruppe der Bad Seeds formierte Band versöhnte mit ihrem rockenden Radau Fans der alten Tage, denen die Klänge des Meis­ters in letzter Zeit zu höflich und zivilisiert geworden waren. „Bei Grinderman ging es darum, die Dinge ein wenig aufzumischen“, so Cave. „Das ist, wenn man an Selbstgefälligkeit zu leiden begonnen hat, ein hervor­ragendes Gegengift.“ Selbst eine eingesessene Bad-Seeds-Größe wie Gitarrist Mick Harvey, der schon 1973 in Melbourne in Caves erster Schülerband spielte, habe „seine Position in der Band neu definieren und dabei mit einigen Dingen fertig werden müssen. Aber das war eine gute Sache für ihn.“

Mit der musikalischen Rückkehr zum Ungestümen gehen tobende Texte einher, die durchaus an den Konstanten des über die Jahrzehnte aufgebauten Cave’schen Mythenuniversums kratzen. Er, der nicht nur in den „Murder Ballads“ seine abseitige Faszination mit dem Verbrechen aus Leidenschaft zelebrierte, bezieht sich neuerdings auf die als Andy Warhols Attentäterin berüchtigte Radikalfeministin Valeria Solanas und deren Utopie einer männerlosen Gesellschaft. Solanas’ 1968 veröffentlichtes „S.C.U.M. Manifesto“ (kurz für: „Society for Cutting Up Men“) bezeichnet Cave als „ein erstaunliches, wunderschönes Stück Schreibe“. Sein Mitgefühl gehört inzwischen nicht mehr dem getriebenen Mann, sondern der Frau als Projektionsfläche: „Das hat auch mit einem von Marilyn Monroes letzten Interviews zu tun. Sie sagte darin: ‚Ich laufe immer in das Unbewusste anderer Leute.‘ Sie war ein Gefäß, in das die Welt all ihr transferiertes männliches Begehren ergoss.“

Auch in seinen religiösen Anspielungen verfährt der christliche Bibelstudent Cave nun überraschend respektlos. „Das verstört mich übrigens selbst“, bekennt er. „Ich bin in gewisser Weise zornig auf die Religion. Ich habe viel Zeit und Gedanken in die Bibel investiert, aber angesichts der Gräueltaten, die im Namen Gottes begangen werden, wird einem übel. Mein grundsätzlicher Glaube hat sich nicht verändert – aber er wurde schon einigermaßen gefordert."

Von Robert Rotifer